Während die Ergebnisse [uk] der Parlamentswahlen vom 28. Oktober noch ausgearbeitet werden (natürlich kein Vorgang, der frei von Kontroversen bleibt [en]), diskutieren die Netzbürger schon längst den voraussichtlichen Ausgang. Viele achten besonders auf die sehr rechte Swoboda-Partei (VO Swoboda, die Allukrainische Vereinigung “Freiheit”) und seinen siegreichen Satz über die 5-Prozent-Schwelle, der notwendig ist, um Sitze im Parlament zu bekommen.
Vor 2004 war die VO Swoboda bekannt als die Sozial-Nationale Partei der Ukraine. Ihr derzeitiges Logo, welches eine Tryzub-ähnliche Pro-Unabhängigkeitsgeste zeigt wurde ebenfalls 2004 übernommen und ersetzte so das “Idee einer Nation”-Zeichen, das ähnlich der in der NS-Zeit verwendeten Wolfsangel ist.
Einer der Menschen, die hinter dieser Image-Umgestaltung steckten war Oleh Tjahnybok, der im Februar 2004 VO Swobodas Anführer wurde. Damals war er auch Abgeordneter von Viktor Yushchenkos Fraktion Block Unsere Ukraine (es war seine zweite Amtszeit [uk] im Parlament; die erste war von 1998 bis 2002 [uk]). Jedoch wurde Tjahnbyok im Juli 2004 von der künftigen politischen Macht des ukrainischen Präsidenten verwiesen aufgrund der ausländerfeindlichen Aussagen [uk] (antisemitisch und antirussisch), die er in einer seiner Reden geäußert hatte.
Bei den Parlamentswahlen 2006 erreichte VO Swoboda 0,36% der Stimmen, 2007 waren es 0,76%. 2009 gewann die Partei die Regionalratswahl in Ternopil und schlug damit den Block Julija Tymoschenko (GV-Bericht – hier [en]). In diesem Jahr unterzeichnete die VO Swoboda kurz vor der Wahl ein Korporationsabkommen mit Tymoschenkos Allukrainischer Vereinigung “Vaterland” – alias die Vereinigte Opposition (Tymoschenko selbst ist jetzt seit einem Jahr im Gefängnis). Gemäß den vorläufigen Ergebnissen [uk] erhielt Tjahnyboks Partei 10,42% der Stimmen (Stand: 28. Oktober).
Viele dieser Stimmen kamen von Menschen, die der VO Swoboda nicht zustimmen oder sie und ihre Plattform nicht ernst nehmen.
Serhiy Petrov, Mitglied des Boards der Wikimedia Ukraine, erklärte [uk] VO Swobodas Erfolg so:
[…] Swobodas Ergebnis überrascht mich nicht. Sie bewegten sich schon seit Langem dorthin: sie kommen immer zu Wahlveranstaltungen mit ihren eigenen Fahnen heraus, verteilen Flyer, Mitteilungsblätter – zu einer Zeit, wenn andere auf die Platzierung ihres Anführers vertrauen. Und es war dieser Mangel an Transparenz und systematischer Herangehensweise der Anführer aller “Demokraten”, der sogar diejenigen, die Swobodas Ideologie nicht teilten, zu ihnen hinzog […].
LJ User dmytro bemerkte [uk], dass viele VO Swoboda-Wähler in Kiew “Russischsprachige oder größtenteils russischsprachige Zweitsprachler waren und es auch sehr viele aus Russland Stammende gab”:
[…] Für die meisten war es ein Protestvotum – die Bewohner der Haupstadt haben [die Parteien, die schon seit einer langen Zeit im Parlament sitzen] satt, besonders [Präsident Wiktor Janukowychs Partei der Regionen]. Und deshalb, wenn Swoboda ihre Stimme halten will, sollte sie sich von der Natiokratie weg- und hin zu einer demokratischeren Version des Nationalismus bewegen – ohne Ausländerfeindlichkeit und Obskurantismus [Bestreben, die Menschen bewusst in Unwissenheit zu lassen]. […]
Olena Tregub schrieb das hier [uk] über die VO Swoboda:
[…] Ich bin gegen ihre rassistische und homophobe Rhetorik, aber es nichts weiter als Phrasendrescherei. Und der wirkliche Unterschied wird bleiben – sie ist die einzige ideologische Partei, die an etwas anderes als an Geld glaubt. Übrigens stimmen alle meine russischsprachigen Verwandten in Kiew für sie – ein Phänomen!
Später fügte Tregub in einem Kommentar hinzu [uk]:
Ich stimme zu, dass Swoboda keine vollkommen zivilisierte Partei ist, aber unser Land ist generell unzivilisiert. Darüber hinaus verstehe ich es so, dass diese Skinheads, die Schwule zusammenschlagen, nicht für das Parlament kandidieren. [Swobodas] Programm spricht von Lustration [feierliche kultische Reinigung durch Sühnopfer o. Ä.], von dem Involvieren junger Leute in die staatliche Verwaltung […].
Journalistin Sonja Koschkina postete diese “Befürwortung” [ru] von VO Swoboda am Wahlabend:
[…] Tjahnybok & Co. haben eine solide Weltansicht. Man könnte dem widersprechen (und das tue ich, in vielerlei Hinsicht), aber es ist schwierig, den Fakt ihrer Existenz nicht zu respektieren. […]
Journalist Vitali Portnikow antwortete [ru] auf Koschkina:
Genau so wie ich es mir gedacht hatte: die [Weimarer Republik]. 1932. Doch damals stimmten die Leute für das Original und jetzt stimmen sie für deren Interpreten. Und das Ergebnis wird glücklicherweise wie ein Affentheater aussehen. Aber deswegen fühlt es sich nicht besser an.
Oleksandr Aronets, verantwortlich für PR in der VO Swoboda-Abteilung Kiew, schloss sich der von Koschkina ausgelösten Diskussion an, indem er sich erst an Portnikow wendete [uk]:
Vitaly Portnikow, es ist hart deinen Unsinn über die NSDAP [Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei] zu lesen, aber ich würde gerne sagen, dass Kommunismus und Sozialismus ebenfalls fähig sind, Hitler zu schaffen. Ein paar weitere Jahre in diesem Land ohne die Swoboda und wir werden solch einen Hitler haben – ein Janukowych-Kollektiv oder Janukowychs Familie. Und dann wirst du weinen, weil du vorher so ungeheuer falsch lagst.
Später wurde Aronets in ein Gespräch über Nationalismus in der Ukraine und Israel verwickelt, in der er (eher unbeholfen) VO Swobodas derzeitige “Parteilinie” verteidigte:
Dmitri Rosenfeld:
NATIONALISMUS IST EIN MINDERWERTIGKEITSKOMPLEX
Aronets:
Ich frage mich warum dann alle Juden Nationalisten sind? :)
[…]
Nationalismus ist Liebe gegenüber einem selbst, aber definitiv keine Feindseligkeit gegenüber anderen. Darum sind alle Juden Nationalisten – sie lieben, was für sie alle am besten ist.
Rosenfeld:
Juden sind Nationalisten? Quatsch. […]
Aronets:
Irgendwie bin ich mir sicher, dass nur Juden im Knesset sind, anders als [im ukrainischen Parlament], wo verschiedene Ethnien repräsentiert werden. […] Nenn es Zionismus. Wir haben unsere eigene Analogie – den ukrainische Nationalismus. […]
In diesen Kommentaren wiederholte Aronets seinen Chef, Tjahnybok, der auf einer Nachrichtenkonferenz nach der Wahl gefragt wurde ob die VO Swoboda “eine antisemitische Partei” sei. Das hier hat er geantwortet [uk]:
Ich respektiere die patriotischen Ansichten der israelischen Bevölkerung. Ich finde es beachtenswert, dass Israel ein Außenministerium hat, das, durch seine Aussagen, versucht, die Interessen [der israelischen Einwohner] zu verteidigen. Ich möchte die israelische Seite bitten, einen ähnlichen Respekt für unsere patriotischen Gefühle zu haben und den Ausdruck des freien Willens der Ukrainer mit Verständnis zu behandeln. Denn vielleicht ist jede momentane Partei im israelischen Knesset eine nationalistische Partei. Jede einzige. So Gott will, werden wir es genauso machen.
Aronets stellte das Video [uk, ru] dieser Nachrichtenkonferenz auf seiner Facebook-Seite und wiederholte [uk] Tjahnybok's Botschaft weniger diplomatisch:
Juden schnüffeln immer herum! Lass sie die Dinge in Ordnung bringen in ihrem Land und wir werden es schon irgendwie alleine in unserem eigenen schaffen!!!
Und hier ist VO Swobodas “Parteilinie”, interpretiert [uk] von einem ihrer Unterstützer, dem 22-jährigen Jakiw Glowatski:
[…] Natürlich werden die Schwächlinge [Kommunisten] viel Rabatz machen – gerade nicht die beste Zeit für ihre schwulen Synagogen! Natürlich werden die nutzlosen Liberalen weinen – weil die ukrainefeindliche Politik keine Chance mehr haben wird! Natürlich sind die Rückgratlosen [donezkische Einwohner] [verängstigt] – weil sie jetzt einen ernsthaften Gegner haben, […] – die Macht und der Ruhm der Ukraine, ihre kulturelle Spitze, ihr wolfsgleicher Mut und der Verstand einer Schlange! […]
Aleksei Bobrownikow, der die VO Swoboda als eine Partei ansieht [ru], “die die Politik der ethnischen Intoleranz verfechtet während sie mit dem Budget der Oligarchen, die Janukowych nahe stehen, finanziert wird”, sah sich die Internetseite [uk] der Partei näher an und hob die unangemessensten Einzelheiten hervor [uk, ru]. Ein paar davon sind unten aufgelistet:
[…] Eine “Volkszugehörigkeitslinie” in Pässen und Geburtsurkunden einführen. Eine Volkszugehörigkeit durch die Geburtsurkunden der Eltern festlegen, dabei den Wunsch des ukrainischen Einwohners in Betracht ziehen. […]
[…] Eine kriminelle Verantwortung für jegliche Erscheinungsformen von Ukrainefeindlichkeit einführen. […]
[…] Abbruch der Schwangerschaft verbieten außer wenn es medizinische Hinweise und einen Gerichtsbeschluß gibt, [dass eine Vergewaltigung stattfand]. Illegale Handlungen einer Abtreibung im Strafgesetzbuch mit versuchtem Mord gleichsetzen. […]
[…] Adoptionen ukrainischer Kinder von Ausländern verbieten. […]
Artem Chapeye und seine Facebook-Leser brachten [en, uk] die Situation der Ukraine in einen größeren europäischen Kontext:
Artem Chapeye:
gemäß der Wahltagsbefragung stimmten ca. 12% der Ukrainer für die außen rechts platzierte Ex-“sozial-nationalistische” Partei.
es ist sogar mehr als in Ungarn, oder?
Oksana Dutchak:
nein, [Jobbik] hatte 16%
[http://de.wikipedia.org/wiki/Ungarische_Parlamentswahl_2010#Wahlergebnis]
Mykhailo Kozak:
[Marine Le Pen] hatte 18% in Frankreich. :)
Andrij Gucul:
Ehrlich gesagt hatte ich über die Le Pens auch nachgedacht. 16+[%] in der ersten Präsidentenwahlrunde und 18[%] in der zweiten. Was hier beunruhigend ist ist nicht wirklich der Prozentsatz der Wähler, sonder der Fakt, dass [diese Mächte] nun im Parlament sitzen.