Schweiz: Volksbegehren zum bedingungslosen Grundeinkommen

Dieser Bericht ist Teil unseres Dossiers über Europa in der Krise.

In der Schweiz wurde im April ein Volksbegehren ins Leben gerufen mit dem Ziel ein neues Bundesgesetz unter dem Titel “Für ein bedingungsloses Grundeinkommen” [fr] zu verabschieden. Die Idee, welche darin besteht, allen Bürgern ein monatliches und bedarfsunabhängiges Einkommen zu gewähren, ohne dass dafür im Gegenzug eine bestimmte Tätigkeit verrichtet werden muss, hat viele Kommentare in der schweizerischen Blogosphäre hervorgerufen.

Der Prozess für ein Referendum in der Schweiz ist direktdemokratisch und ermöglicht es den Bürgern, sich für Gesetzesänderungen auf Bundes- und Verfassungsebene einzusetzen.

Falls das Volksbegehren für die Einführung eines Grundeinkommens vor dem 11. Oktober 2013 mehr als 100.000 Unterschriften sammelt, ist die Bundesversammlung gezwungen sich mit dem Volksbegehren näher zu befassen und kann anschließend eine Volksabstimmung starten, wenn das Volksbegehren als glaubwürdig eingestuft wird.

Swiss Francs by Flickr user Jim (CC BY-NC-SA 2.0).
Schweizer Franken, von Flickr user Jim (CC BY-NC-SA 2.0).

In seinem Blog erklärt Pascal Holenweg nähere Hintergründe [fr]:

L'initiative populaire  pour un revenu de base inconditionnel  propose d'inscrire dans la constitution fédérale l'instauration d'une allocation universelle versée sans conditions devant permettre à l'ensemble de la population de mener une existence digne et de participer à la vie publique.

La loi règlerait le financement et fixerait le montant de cette allocation (les initiants la situent à 2000-2500 francs par mois, soit, grosso modo, le montant maximum de l'aide sociale actuelle, mais n'inscrivent pas ce montant dans le texte de l'initiative). Le revenu de base est inconditionnel : il n'est subordonné à aucune contre-prestation. Il est universel (tout le monde le touche) et égalitaire (tout le monde touche le même montant). Il est individuel (il est versé aux individus, pas aux ménages).

Il n'est pas un revenu de substitution à un revenu ou un salaire perdu. En revanche, il remplace tous les revenus de substitution (assurance chômage, retraite, allocations familiales, allocations d'étude, rentes invalidité) qui lui sont inférieurs. Comment le financer? Par l'impôt direct sur le revenu et la fortune, par l'impôt indirect sur la consommation (la TVA), par un impôt sur les transactions financières, et surtout par le transfert des ressources consacrées au financement de l'AVS, de l'AI, de l'aide sociale et des autres revenus de substitution inférieurs au montant du revenu de base.

Die Graswurzelinitiative “für ein bedingungsloses Grundeinkommen” schlägt vor, “ein allgemeines, bedingungsloses Einkommen” in die Verfassung der Schweiz aufzunehmen. Dies würde der “gesamten Bevölkerung erlauben ein würdevolles Leben zu führen und am öffentlichen Leben teilzuhaben.” Das Gesetz soll die Finanzierung regeln und den Betrag des Grundeinkommens festsetzen. Die Initiatoren des Volksbegehrens schlagen zwischen 2.000 und 2.500 Schweizer Franken pro Monat vor (das wären 1.600 – 2.000 Euro). Dieser Betrag läge in etwa so hoch wie der derzeitige Höchstsatz der Sozialhilfe. Die Initiatoren haben diesen Vorschlag jedoch nicht in den Text des Volksbegehrens [fr] mit aufgenommen. Das Grundeinkommen ist an keinerlei Bedingungen geknüpft und wird nicht an den Bedarf der Einzelpersonen gekoppelt. Es soll universal (jeder erhält es) und egalitär (jeder erhält den selben Betrag) sowie persönlich (Auszahlung an Individuen und nicht an Haushalte) ausgestaltet sein. Es ist kein Einkommen, das entgangenes Gehalt oder Lohn ersetzen soll. Vielmehr ersetzt es jegliche Art bescheidenen Zuschusses zum Lebensunterhalt wie beispielsweise Arbeitslosengeld, Renten, Kindergeld oder Zuschüsse für Studenten und Menschen mit Behinderung. Wie wird all dies finanziert? Durch direkte Besteuerung von Einkommen und Vermögen, indirekte Besteuerung auf den Konsum (Mehrwertsteuer), Finanztransaktionssteuern und vor allem auch durch die Umverteilung von Ressourcen, die derzeit noch dafür vorgesehen sind staatliche Pensionen, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe und andere Sozialprogramme zu finanzieren, die in ihrer Höhe unter dem Betrag des Grundeinkommens liegen.

In seinem Blog [fr] hält Fred Hubleur Folgendes fest:

Le truc important, c’est que ce revenu est fixé pour toutes et tous sans qu’il n’y ait de contrepartie de travail ; oui, un revenu sans emploi. Cela peut choquer. Mais dans le fond c’est une idée parfaitement défendable. D’une part, on lutte ainsi contre la pauvreté et la précarité, plus besoins d’aides sociales en complément de revenus autres et des dizaines d’aides différentes et complexes à mettre en œuvre. Ce revenu inconditionnel est également un bon point pour l’innovation et la création. (…) On est aussi dans un nouveau paradigme qui peut effrayer les capitalistes acharnés : libérer l’Homme du travail et lui rendre son statut d’homo sapiens prévalant à celui d’homo travaillus qui a tellement cours dans notre société.

Das wichtigste Element des Grundeinkommens ist, dass es für jede Person gesichert ist und nicht den Zwang enthält zu arbeiten; das stimmt, es ist Einkommen ohne Arbeit. Das mag schockierend klingen. Aber im Prinzip ist es eine sehr gute Idee. Auf der einen Seite kämpfen wir gegen Armut und Unsicherheit. Damit gäbe es nicht länger einen Bedarf für Sozialprogramme, um geringe Einkommen aufzustocken und Dutzende andere unterschiedliche Einkommensarten zu subventionieren. Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine gute Nachricht für Innovation und Kreativität.  (…) Wir haben bereits einen Paradigmenwechsel vollzogen, den unverbesserliche Kapitalisten vermutlich alarmierend finden: die Befreiung des Arbeiters, der zurückkehrt zu seinem Status eines homo sapiens statt eines homo travaillus (Anmerkung des Autors: homo travaillus ist ein Wortspiel um Arbeiter zu beschreiben). Diese Entwicklung setzt sich in unserer Gesellschaft durch.

Martouf zählt einige Argumente für das Grundeinkommen [fr] auf, wie beispielsweise in dieser Grafik:

“Menschliche Gründe zu arbeiten” von freeworldcharter.org via “active rain” und übernommen von Martouf. Mit Erlaubnis zur Weiterverwendung.

 

Diese neue Vision wurde insbesondere im schweizerischen Film “Le Revenue de Base” von Ennon Schmidt und Daniel Hani näher beleuchtet. Sie sind zwei der acht Schweizer Bürger, die das Volksbegehren ins Leben gerufen haben.

“Und was würdest Du mit einem Grundeinkommen machen?”

Auf der Website BIEN_Switzerland, dem Schweizer Ableger des globalen Netzwerks für ein Grundeinkommen, wurden den Nutzern folgende Fragen gestellt [fr]:

Voilà, ça y est, vous l'avez. Chaque mois vous recevez 2500 francs sans condition. Dites-nous en quoi votre vie a changé. Dites-nous ce que vous faites de votre temps. A quoi vous consacrez votre vie ?

So, hier ist es nun also. Du erhältst jeden Monat ohne Wenn und Aber 2.500 Schweizer Franken. Sag uns wie Dein Leben sich ändern würde. Sag uns wie Du Deine Zeit verbringen würdest. Welcher Tätigkeit könntest Du Dich voll und ganz verschreiben?

Die Antworten waren unterschiedlich. Antoine würde ein Restaurant eröffnen und Gaetane einen Bauernhof betreiben. Renaud würde sich der Musik widmen:

Mon premier projet serait de finir et de tenter de produire un instrument de musique que je suis en train de créer. Parallèlement à ça je proposerais des cours d'utilisation de mon instrument de musique préféré et peu connu dans la région
Mein erstes Projekt wäre die Fertigstellung eines Musikinstruments, das ich derzeit baue. Außerdem würde ich Musikunterricht anbieten für mein Lieblingsinstrument, welches hier in der Gegend wenig bekannt ist.

Der User herfou70 würde seine Familie in den Mittelpunkt stellen [fr]:

Je suis Père de famille (3 enfants – 6-11-14 ans) et suis le seul salairé de la famille. Disposer d'une revenu de base me permettrait de consacrer plus temps à mes enfants. Mon épouse pourrait également avoir une activité autre que celle qu'elle occupe dans le foyer, ce qui lui permettrait de plus s'épanouir

Ich bin Vater (drei Kinder, 6, 11 und 14 Jahre alt) und erziele das einzige Einkommen der Familie. Wenn ich ein Grundeinkommen hätte, könnte ich mit meinen Kindern mehr Zeit verbringen. Meine Frau könnte auch etwas anderes machen als sich um unser Haus zu kümmern und könnte sich mehr ihren persönlichen Interessen widmen.
A poster by the initiative  Ein Poster aus dem Film “le revenu de base”

Auf Facebook haben Unterstützer der Initiative für das Grundeinkommen einen Wettbewerb gestartet [fr] unter dem Motto “Star for Life”. Besucher der Seite werden gebeten, ein Foto von sich zu machen, in dem sie vortäuschen, sie wären zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

Ein Grundeinkommen bringt “mehr Schaden als Nutzen”

Aber nicht jeder ist von der Idee überzeugt. Jean Christophe Schwaab, Mitglied des Schweizer Abgeordnetenhauses, ist der Meinung dass Sozialdemokraten den Vorschlag nicht unterstützen dürften, weil er “mehr Schaden als Nutzen bringt und ein Desaster für Arbeitnehmer” sei. Er hat auf seinem Blog folgende Erklärung bereitgestellt [fr]:

Les partisans du revenu de base prétendent que ce revenu doit «libérer de l’obligation de gagner sa vie» et entraînerait la disparition des emplois précaires ou mal payés, car, puisque le revenu de base garantit le minimum vital, plus personnes ne voudra de ces emplois. Or, c’est probablement le contraire qui se produirait. Comme ces faibles montants ne suffiront pas à atteindre le premier objectif de l’initiative, à savoir garantir des conditions de vie décentes, leurs bénéficiaires seront obligés de travailler quand même, malgré le revenu de base. La pression d’accepter n’importe quel emploi ne disparaîtra donc pas.

Verfechter eines Grundeinkommens meinen, es müsse “die Menschen von der Pflicht befreien sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen” und es führe zu einem Verschwinden von instabilen und unterbezahlten Beschäftigungsverhältnissen, weil dieses Grundeinkommen ein Minimum an Einkommen garantiere und somit niemand solche Jobs annehmen wolle. Nun ist es aber so, dass vermutlich eher der gegenteilige Effekt erzielt wird. Da die eher geringen Einnahmen durch das Grundeinkommen nicht ausreichen werden, um das primäre Ziel der Initiative zu erreichen, nämlich einen ordentlichen Lebensstandard zu gewährleisten, werden die Empfänger des Grundeinkommens trotz der Einnahmen gezwungen sein arbeiten zu gehen. Der Druck jeden beliebigen Job anzunehmen wird nicht verschwinden.

Er fügt außerdem hinzu:

Enfin, le revenu de base inconditionnel aurait pour grave défaut d’exclure définitivement bon nombre de travailleurs du marché du travail (dont on nierait alors le droit au travail): ceux dont on ne jugerait pas la capacité de gain suffisante (p. ex. en raison d’un handicap, de maladie ou de faibles qualifications) n’auraient qu’à se contenter du revenu de base.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde zudem eine große Zahl von Menschen permanent vom Arbeitsmarkt ausschließen (indem ihnen das Recht auf Arbeit versagt wird): jene von denen man ausgeht, dass sie nicht genügend Einkommenspotential haben (zum Beispiel aufgrund von Behinderungen oder einem Mangel an Qualifikationen) müssten sich einfach mit dem Grundeinkommen zufrieden geben.

Seine Analyse ist kontrovers, wie man an den Kommentaren unter seinem Blogpost erkennen kann. Aus einer französischen Perspektive heraus erklärte Jeff Renault warum Vertreter des linken politischen Flügels absolut gegen [fr] ein bedingungsloses Grundeinkommen seien:

La gauche de la fin du 19è et du 20è siècle s’est forgée autour de la valeur travail et la défense des travailleurs. Ce combat se retrouve dans la défense persistante du salariat et de son St. Graal, le CDI, alors même que ce “statut” ne concerne plus qu’une minorité de personnes.

Die linke politische Strömung Ende des 19. sowie im 20. Jahrhundert basierte auf dem Wert der Arbeit und der Verteidigung von Arbeitern. Dieser Kampf dreht sich um die niemals endende Verteidigung der Rechte von abhängig beschäftigten Arbeitern und dem heiligen Gral der permanenten Lohnempfänger, auch wenn dieser Status nur auf eine Minderheit zutrifft.

Mit dem Beginn des Volksbegehrens hofft [fr] Hubleur auf eine große Gesellschaftsdebatte in der Schweiz:

Ce sera au moins la porte ouverte à un grand débat de société et l’occasion de réfléchir à ce que l’on veut et à quelle vie on aspire. Ce système d’allocation universelle (ou autres noms), ça fait un moment que je le suis, je me souviens qu’on en avait parlé dans des cours sur la précarité et le lien social il y a une dizaine d’années à l’université. Le principe est franchement séduisant et mérite qu’on s’y arrête.

Quand on voit le monde que nous donne le système capitaliste et productiviste actuel, on peut bien se prendre à rêver d’autre chose, d’un monde laissant plus de chances à chacune et chacun.

Dies wird zumindest den Weg bereiten für eine große Gesellschaftsdebatte und die Chance eröffnen, uns Gedanken darüber zu machen, was wir wollen und welche Art von Leben wir anstreben. Ich habe die Idee eines allgemeinen Beihilfesystems (neben anderen Bezeichnungen) eine Weile verfolgt. Ich erinnere mich daran, dass ich vor einem Jahrzehnt in einem Kurs über Instabilität und soziale Bindungen an der Universität darüber sprach. Die Idee ist, offen gesagt, sehr verführerisch und verdient nähere Betrachtung. Wenn man sich die Welt anschaut, die durch das gegenwärtige kapitalistische, auf Produktivität setzende, System hervorgegangen ist kann man sich leicht nach etwas anderem sehnen, nach einer Welt, die jedem eine bessere Chance gibt.

Dieser Bericht ist Teil unseres Dossiers über Europa in der Krise.

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