80 Schüsse auf ein Auto, ein Toter, aber Brasiliens Präsident Bolsonaro sagt: Die Armee hat niemanden getötet

Offiziere der Armee auf Patrouille in Rio de Janeiro 2018. Foto: Tânia Rêgo/Agência Brasil. Wiederveröffentlichung mit Namensnennung gestattet.

Am Sonntag, den 7. April, war der brasilianische Musiker Evaldo dos Santos Rosa (51) auf dem Weg zu einer Babyparty in Guadalupe, einem armen Stadtteil von Rio de Janeiro. Im Auto saßen außerdem sein Schwiegervater, seine Frau, ihr 7-jähriger Sohn sowie ein Freund. Die Sonne strahlte und alles schien wie ein ganz normaler Tag in der größten Küstenstadt Brasiliens.

Als sie an einer Sperrzone der Armee in der Nähe vorbeifuhren, eröffneten die Soldaten das Feuer auf das Auto. Evaldo war sofort tot, sein Schwiegervater und ein Passant, der in der Nähe unterwegs war, wurden verletzt. Die anderen Passagiere konnten unverletzt entkommen.

Die Polizei, die den Schauplatz der Geschehnisse untersuchte, gab bekannt , dass insgesamt 80 Schüsse auf das Auto abgegeben worden waren. Der Polizeichef Leonardo Salgado sagte gegenüber der Online-Nachrichtenseite G1, er glaube, dass die Offiziere Evaldos Auto mit dem von Kriminellen verwechselt hätten, hinter denen sie her waren. Er fügte außerdem hinzu, dass die Polizei keine Waffen in Evaldos Auto gefunden habe.

Evaldos Frau Luciana Nogueira (27) überlebte die Schießerei. Gegenüber der Tageszeitung Estado de S. Paulo sagte sie:

Os vizinhos começaram a socorrer (o meu marido), mas eles continuaram atirando. Eu botei a mão na cabeça, pedi socorro, disse pra eles que era meu marido, mas eles não fizeram nada, ficaram de deboche.

Die Nachbarn begannen sofort, (meinem Mann) zu helfen, aber [die Soldaten] schossen immer weiter auf uns. Ich hob die Hände über den Kopf, rief um Hilfe und sagte ihnen, dass er mein Mann sei, aber sie taten gar nichts. Sie standen einfach nur da.

Während die Öffentlichkeit in ganz Brasilien sich über den brutalen Mord an einem Unschuldigen durch Staatsbedienstete schockiert zeigte, schwieg Präsident Jair Bolsonaro sechs Tage lang zu dem Vorfall.

Auf einer Pressekonferenz am 12. April äußerte er sich schließlich mit den Worten: „Die Armee hat niemanden getötet. Die Armee ist das Volk und man kann das Volk nicht des Mordes beschuldigen.“

Bis dahin stammte die einzige Aussage, die dazu aus dem Palácio do Planalto, dem Amtssitz des brasilianischen Präsidenten, kam von einem Sprecher. Dieser bezeichnete Evaldos Erschießung als „einen Vorfall“, sprach der Familie jedoch nicht sein Beleid aus.

Am Abend des 8. April erklärte Wilson Witzel, der Gouverneur des Bundesstaats Rio de Janeiro und Verbündeter von Bolsonaro, „er könne sich darüber kein Urteil erlauben“.

Zwei Tage später erklärte der Justizminister Sergio Moro in einem Fernsehinterview lediglich, der Tod sei „bedauerlich“.

Diese Grafik zeigt, wie oft die Mitglieder von Bolsonaros Kabinett auf Twitter die Schüsse auf das Auto der Familie in Rio de Janeiro erwähnt haben. Richtig, die Grafik ist LEER. Denn niemand hat sich dazu geäußert, nicht einmal um zu sagen, dass es ihnen leid tut. Soldaten haben 80 Schüsse auf das Auto abgegeben.

Das Militär ermittelt

Kurz nachdem die Nachricht von dem Vorfall sich in den Medien zu verbreiten begann, veröffentlichte die Armee eine Stellungnahme, in der sie erklärte, die Soldaten hätten auf einen „ungerechtfertigten Angriff“ reagiert. Wenig später, am Abend des 7. April, veröffentlichte die Armee eine weitere Stellungnahme, in der sie nun erklärte, dass es eine Untersuchung des Vorfalls geben werde.

Obwohl die zivile Polizei den Tatort untersuchte, wird nicht sie, sondern die Armee selbst die Ermittlungen dazu durchführen. Dann werden die Soldaten vor einem Militärgericht erscheinen müssen. Dies wurde durch ein 2017 erlassenes Gesetz möglich, das vorsieht, dass die Armee selbst dafür verantwortlich ist, in von ihren Mitgliedern im Dienst begangene Morde zu ermitteln.

Die Organisation Human Rights Watch, die das Gesetz bereits bei der Verabschiedung durch den damaligen Präsidenten Michel Temer kritisierte, veröffentlichte am 9. April eine Stellungnahme, in der sie eine unparteiische Untersuchung des Mordes an Evaldo und die Außerkraftsetzung des Gesetzes forderten.

Nach Angaben der Zeitung Extra verhaftete das Militär am 8. April 10 der 12 Offiziere, die bei dem Vorfall im Einsatz gewesen waren und klagte sie wegen Totschlags und versuchtem Totschlags an. Nach einer Anhörung vor einem Richter am 10. April wurde einer der zehn Offiziere freigelassen.

Nicht das erste Mal

Man sagt der brasilianischen Polizei nach, sie agiere nach dem Motto „erst schießen, dann Fragen stellen“  eine Redensart, die sich immer wieder als richtig erwiesen hat.

Laut eines 2019 veröffentlichten Berichts von Amnesty International, ist die brasilianische Polizei die tödlichste Polizei der Welt. So gingen im Jahr 2018 15,6 Prozent aller Morde in Brasilien auf das Konto der Polizei. Allein im Bundesstaat Rio de Janeiro wurden nur im Januar 2019 schon 160 Menschen von der Polizei getötet.

Ein als „Anti-Kriminalitäts-Paket“ bezeichneter Gesetzentwurf, den die Regierung Bolsonaros dem Kongress vorlegte, könnte diese schon jetzt dramatischen Zahlen möglicherweise noch weiter ansteigen lassen. Der Gesetzentwurf soll mehrere Verordnungen ändern und somit dazu führen, dass die Strafen für Polizei und Militärangehörige, die im Dienst jemanden töten, verringert werden.

Die Umstände des Mordes an Evaldo, einem 51 Jahre alten schwarzen Mann, sind keine Ausnahme, sondern die Regel in Brasilien, betonen Samira Bueno und Renato Sérgio de Lima, die Leiter des brasilianischen Forums für öffentliche Sicherheit in einem Artikel in der Tageszeitung Folha de São Paulo:

Evaldo teve sua vida ceifada por aqueles que juraram defendê-la. Seu filho jamais se livrará do trauma de ter assistido ao pai ser fuzilado por agentes estatais. Mas que fique claro que a culpa não é apenas daqueles que apertaram o gatilho. Ou começamos a responsabilizar toda a cadeia de comando pelos atos cometidos, ou vamos continuar contando os nossos mortos e desacreditando as nossas instituições.

Evaldo wurde von jenen getötet, die geschworen haben, sein Leben zu schützen. Sein Sohn wird das Trauma, zu sehen wie sein Vater von Staatsbeamten erschossen wurde, sein Leben lang nicht vergessen. Aber wir möchten hier klarstellen, dass der Fehler nicht bei denjenigen liegt, die den Abzug gedrückt haben. Wenn wir nicht anfangen, alle Beteiligten in der Befehlskette für ihre Taten zur Verantwortung zu ziehen, werden wir immer weiter unsere Toten zählen, während unsere öffentlichen Institutionen weiter in Verruf geraten.

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