Ist Rio de Janeiro im Krieg? Die Einwohner streiten.

Die brasilianische Armee bei einem Einsatz in den Favelas in Niterói, einer Stadt im Bundesstaat Rio de Janeiro, während der Regierungskrise. Foto von: Estado Maior (CML) via Fotos Públicas, CC-BY-NC 2.0

Tag für Tag berichten Zeitungen in ganz Brasilien mit düsteren Schlagzeilen aus Rio de Janeiro, der zweitgrößten Stadt des Landes und Heimat zahlreicher Postkartenmotive.

Einige dieser Schlagzeilen lauten wie folgt:

“14-Jährige in Schule erschossen”, “Jeden zweiten Tag wird ein Polizeibeamter in Rio de Janeiro ermordet”, “Diebe rauben Apotheke mit militärischen Waffen aus”, “Präsident Temer schickt 8500 Soldaten der Armee, Marine und Luftwafee nach Rio”.

Mitten in der Wirtschaftskrise und in einer angespannten finanziellen Situation erreichte die Gewaltwelle 2017 in Rio den höchsten Stand seit 10 Jahren. Die brasilianische Nichtregierungsorganisation Global Justice rief sogar die Vereinten Nationen auf, einzugreifen.

Berichte wie diese sind alltäglich geworden und dies ist inakzeptabel — finden zumindest die Manager einer Lokalzeitung. So veröffentlichte die für die detaillierte Berichterstattung über Gewalt in Rio bekannte Zeitung “Extra” am 16. August den Leitartikel “Das ist nicht normal”, in dem sie ankündigte, eine neue Rubrik namens „Krieg in Rio“ einzurichten. Alle Berichte über Gewalt in der Stadt werden nun dort veröffentlicht. Die Motive für ihre Entscheidung erklärte die Zeitung so:

O EXTRA continuará a noticiar os crimes que ocorrem em qualquer metrópole do mundo: homicídios, latrocínios, crimes sexuais… Mas tudo aquilo que foge ao padrão da normalidade civilizatória, e que só vemos no Rio, estará nas páginas da editoria de guerra. (…) foi a forma que encontramos de berrar: isso não normal! É a opção que temos para não deixar nosso olhar jornalístico acomodado diante da barbárie.

EXTRA wird weiterhin über Verbrechen berichten, die in jeder Großstadt auf der Welt passieren wie Mord, Raub, Sexualverbrechen, usw. Alles, was jedoch vom zivilisierten Standard abweicht und was nur in Rio passiert, wird in der Rubrik „Krieg in Rio“ veröffentlicht. (…) Dies ist unsere Art, zu rufen: Das ist nicht normal! Dies ist die einzige Alternative, damit wir als Journalisten nicht unsere Augen vor der Grausamkeit verschließen.

In einem vierminütigen Video, das auf Facebook geteilt wurde, erklärte Octávio Guedes, der Chefredakteur der Zeitung, dass diese Entscheidung kein Anlass für Stolz, sondern vielmehr ein Zeichen des Scheiterns sei:

O Extra deve ser o único jornal do planeta que tem uma editoria de guerra em um país que não reconhece a guerra.

Extra ist wahrscheinlich die einzige Zeitung auf der ganzen Welt mit einer Kriegsrubrik in einem Land, das den Krieg gar nicht erkennt.

Im selben Video erklärt ein Journalist der Zeitung, dass es nach Angaben des Instituts für Innere Sicherheit in Rio de Janeiro 843 Gebiete gibt, die von kriminellen Organisationen kontrolliert werden.

In dem Leitartikel schreibt die Zeitung weiter:

Temos consciência de que o discurso de guerra, quando desvirtuado, serve para encobrir a truculência da polícia que atira primeiro e pergunta depois. Mas defendemos a guerra baseada na inteligência, no combate à corrupção policial, e que tenha como alvo não a população civil, mas o poder econômico das máfias e de todas as suas articulações.

Uns ist bewusst, dass ein Kriegsdiskurs, wenn er verzerrt wird, auch dazu benutzt werden kann, Grausamkeiten der Polizei, die erst schießt und dann Fragen stellt, zu vertuschen. Aber wir verteidigen den Krieg basierend auf Informationen und dem Kampf gegen Korruption bei der Polizei, dessen Ziel nicht die Zivilbevölkerung, sondern die wirtschaftliche Macht der Mafia und ihrer Partner ist.

Schadet die Bezeichnung „Krieg“ mehr als sie nützt?

In einem Artikel auf dem Nachrichtenportal The Intercept Brasil argumentiert die Journalistin Cecília Oliveira dagegen, die Gewalt als „Krieg“ zu bezeichnen. Dies sei ihrer Meinung nach eine Rechtfertigung der gescheiterten Sicherheitspolitik durch die Medien und könnte es erschweren, Verantwortliche bei der Polizei zur Rechenschaft zu ziehen.

Não é uma guerra. É o resultado de corrupção, mau planejamento – como o próprio Extra mostrou, ao analisar as operações do Exército no Rio, somados a falta de investimentos em pessoal e inteligência e o descaso histórico – e complacente – com áreas do estado. Lembrando que o Estado é maior que a capital.

Dies ist kein Krieg. Dies ist das Ergebnis von Korruption und schlechter Planung – wie Extra bei der Analyse der Militäreinsätze in Rio selbst gezeigt hat – in Kombination mit ungenügenden Investitionen in Personal, Aufklärung und einer historischen und selbstgefälligen Vernachlässigung des öffentlichen Dienstes. Zur Erinnerung: Der Bundesstaat Rio de Janeiro ist größer als nur seine Hauptstadt.

Ein Friedensmarsch in Niterói im Bundesstaat Rio de Janeiro zu Ehren des ermordeten Kulturveranstalters Rafael Lage. Foto von: Fernando Frazão/Agência Brasil. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.

Rio de Janeiro als „den gewalttätigsten Ort in Brasilien“ zu bezeichnen, ist laut Cecília falsch: „22 der 30 gewalttätigsten Städte in Brasilien liegen laut Statistiken von 2015 im Norden und Nordosten des Landes. Dies sind die aktuellsten verfügbaren Daten. Keine dieser Städte befindet sich im Bundesstaat Rio de Janeiro. Wenn wir uns die Mordraten pro Bundesstaat anschauen, liegt Rio auf Platz 16“, schreibt sie.

Extra gehört dem Unternehmen Globo, dem größten Medienunternehmen Südamerikas, das, wie Cecília betont, seit Jahren die Sicherheitspolitik des Staats wiederholt. Zu diesen sicherheitspolitischen Maßnahmen gehörte auch die Gründung der UPP (Unidade de Polícia Pacificadora), einer vom Bundesstaat Rio im Jahr 2003 aufgestellten Polizeieinheit, deren Ziel darin besteht, durch Einsatz eines massiven Polizeiaufgebots eine Favela zu erobern und eine Einheit dauerhaft dort zu stationieren. Anfangs führte dies tatsächlich zu einer Abnahme gewaltsamer Todesfälle. Seit einigen Jahren gerät die UPP aber nach mehreren Berichten über Schikanen und Repressionen gegen die armen Gemeinden, die die neugeschaffene Polizeieinheit eigentlich schützen sollte, zunehmend unter Beschuss.

Auf seiner Facebook-Seite zitierte der Journalist João Paulo Charleaux aus einem seiner Artikel aus dem Jahr 2010, in dem er erklärt, warum die Gewalt in Rio nicht den – durch die Genfer Konvention festgelegten – Kriterien für die Bezeichnung ‚Bürgerkrieg‘ entspricht. Er schreibt:

Além do debate jurídico, há uma consequência humana grave em dizer que há uma guerra no Rio. Ao fazer isso, a sociedade estimula o Estado a agir com meios e métodos próprios de uma guerra, incursionando num território ‘inimigo’, onde os civis são apenas borrões na paisagem, candidatos aos ‘danos colaterais’ e às “balas perdidas'”.

Neben rechtlichen Fragen, zieht die Einstufung der Lage in Rio als Krieg auch schwerwiegende Folgen für die Menschen nach sich. Denn dies fordert den Staat auf, Mittel und Wege einzusetzen, die typisch für einen Krieg sind. Dazu gehört das Eindringen in das Territorium eines ‚Feindes‘, bei dem ein Zivilist ein unscharfer Punkt in der Landschaft ist und zum Objekt für ‚Kollateralschäden‘ und ‚verirrte Kugeln‘ wird.

Krieg hin oder her, Fakt ist, dass die Bewohner der Favelas in Rio weiterhin leiden. Eine Woche ist es nun her, dass die Polizei den Berg mit der Favela Jacarezinho erklomm, um den Tod eines Polizisten zu rächen. Inmitten all dieser Gewalt machte auch dieser Vorfall Schlagzeilen: ein Obstverkäufer starb infolge von Schüssen, die die Polizei aus einem Helikopter abgefeuert hatte.

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