Dies ist eine adaptierte Fassung eines Interviews von Alejo Gómez mit Luis Quijano, das ursprüglich am 23. August 2016 auf Día a Día, einer argentinischen Nachrichtenseite veröffentlicht wurde. Das Interview wurde ins Englische übersetzt und wird hier mit freundlicher Genehmigung veröffentlicht.
Als er 15 Jahre alt war, wurde Luis Alberto Quijano von seinem Vater gezwungen, die Gräueltaten in La Perla, einem geheimen Gefängnis in der argentinischen Stadt Córdoba, mitanzusehen. Als mittlerweile erwachsener Mann sagte Quijano nun im Rahmen des großen La Perla-Ribera Prozesses in der Provinz Córdoba gegen seinen Vater aus. In dem Prozess, der am 24. August 2016 endete, wurden Verbrechen untersucht, die während der argentinischen Militärdiktatur begangen wurden. Dabei wurden insgesamt 43 Angeklagte wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt.
Luis Alberto Quijano hat sich sein Leben nicht ausgesucht. Angefangen bei der Bürde, denselben Namen wie sein Vater zu tragen bis hin zu den brutalen Militäroperationen im Gefängnis La Perla, die er im Alter von 15 Jahren beobachtete, hat er genug gelitten. 34 Jahre lang behielt er das Familiengeheimnis für sich.
En el contexto de esa época yo creía que estaba bien. Me sentía un agente secreto. Pero a los 15 años, un hijo no puede darse cuenta de que es manipulado por su padre. Yo no estaba preparado todavía para darme cuenta de que mi padre era un ladrón, un torturador y un asesino.
In der Situation damals glaubte ich, das das in Ordnung war. Ich fühlte mich wie ein Geheimagent. Als Kind mit 15 Jahren merkt man nicht, dass man von seinem Vater manipuliert wird. Ich konnte damals noch nicht erkennen, dass mein Vater ein Dieb, Folterer und Mörder war.
Luis hatte keine Wahl: sein Vater Luis Alberto Quijano war Gendarmeriebeamter. Während der argentinischen Militärdiktatur von 1974 bis 1983, einer Zeit des Staatsterrorismus, war sein Vater von 1976 bis 1978 stellvertretender Kommandeur der Geheimdienstabteilung 141 im Gefängnis La Perla.
Dies ist aber nicht die Geschichte von Luis Quijano, dem Unterdrücker, der wegen Entführung in 158 Fällen, Folter, Mord in fast 100 Fällen und der Entführung eines 10-jährigen Kindes angeklagt ist. Nein, dies ist die Geschichte von Luis Quijanos Sohn, einem Mann, der im Laufe der Jahre das Ausmaß der Gräueltaten erkannte, die er als Junge miterlebt hatte, und der vor einem Bundesgericht gegen seinen eigenen Vater aussagte.
Seine Geschichte zeigt, welche große Macht ein Elternteil über sein Kind hat und wie dieses Kind für sich einen Weg der Erlösung wählte.
Von der Sporthalle zum Militärstützpunkt
Als mein Vater anfing, mich zum Militärstützpunkt mitzunehmen, ging ich oft bei uns in die Sporthalle. Dort hatte ich mich mit einem Jungen angefreundet, der Kampfsport machte. Alle nannten ihn „Kent“. Ich erzählte meinem Vater von ihm und einige Tage später zeigte er mir ein schwarz-weiß Foto und forderte mich auf, meinen Freund darauf zu identifizieren.
Er sagte:
Me dijo “sos un pelotudo, ¡te hiciste amigo de un tipo del ERP! Mirá si después te ‘chupan’ a vos y me tengo que entregar para salvarte.
Du bist ein Arschloch, du hast dich mit einem von der ERP angefreundet. Pass bloß auf, dass sie dich nicht eines Tages entführen und ich dich dann retten muss.
Die Abkürzung ERP steht für Ejército Revolucionario del Pueblo, – Revolutionäre Volksarmee – den militärischen Arm der Revolutionären Arbeiterpartei Argentiniens.
Deshalb verbot er mir, wieder in die Sporthalle zu gehen. Einige Tage später nahm er mich mit zur Arbeit auf den Militärstützpunkt. Er sagte mir, ich würde Geheimagent werden. Ich war 15 Jahre alt und in der Situation dachte ich, das wäre in Ordnung. Denn so hatte mein Vater mich erzogen.
Auf dem Militärstützpunkt musste ich Papiere vernichten, die den Gefangenen gehört hatten. Das waren alle möglichen Dokumente: Universitätsabschlüsse, handschriftliche Notizen, Literatur, Zertifikate, Propagandamaterial, Bücher, einfach alles.
‘Da drüben werden die Gefangenen gefoltert’
Mein Vater nahm mich insgesamt viermal nach La Perla mit – alles im Jahr 1976. Beim ersten und beim letzten Mal ließ er mich am Eingang im Auto warten.
Als er mich das zweite Mal mitnahm, befahl er mir, auszusteigen. Er führte mich zu einer Baracke, in der Autos, Möbel, Fernseher, Kühlschränke – einfach alles mögliche – standen. Alles davon war gestohlen. Er gab mir ein kleines in eine Decke gewickeltes Päckchen und befahl mir, es zum Auto zu tragen. Als ich es öffnete, sah ich, dass sich darin ein großer Klumpen Silber befand.
An diesem Tag ging ich zum anderen Ende der Baracke, wo die gestohlenen Gegenstände abgestellt wurden und unterhielt mich mit einem Wachposten. Plötzlich deutete er auf einen offenen Raum und sagte:
ahí es donde les dan ‘matraca’ a los secuestrados.
Da drüben werden die Gefangenen gefoltert.
Ich spähte hinein und sah eine Liege, auf der Menschen gefoltert wurden. Sie sah aus wie ein Feldbett und Metallfedern. Später fand ich heraus, dass sie daran das eine Ende eines Kabels befestigten. Das andere Ende wurde am Körper der Person befestigt, die gerade dort gefesselt lag. Sie fesselten einen Menschen mit Handschellen an das Bett, übergossen ihn mit Wasser und jagten ihm eine Ladung von 220 Volt in die Genitalien.
Der Gestank dort drin war entsetzlich… wie eine schmutzige Windel. Jahre später, als mein Vater unter Hausarrest stand, kam derselbe Geruch aus seinem Zimmer. Ich erkannte den Geruch sofort wieder und mir wurde klar, dass das der Geruch eines Körpers in Not ist. Ich konnte diesen Geruch nie vergessen. Und ich fragte mich: Wie ist es nur möglich, dass ein Mensch einem anderen so viel Leid antun kann?
‘Ich wusste Bescheid, dass diese Menschen getötet wurden’
Als mein Vater mich zum dritten Mal zur Arbeit mitnahm, führte er mich zum Eingang von La Cuadra – dem Bereich, wo die Gefangenen mit Handschellen gefesselt und wurden und Augenbinden trugen. Er sprach mit „Chubi” Lopez (Jose López, einem Zivilisten, der ebenfalls im Prozess angeklagt war) und ich nutzte die Gelegenheit, einen Blick in La Cuadra zu werfen.
Im Hintergrund sah ich eine Reihe von Matratzen, auf denen nackte Menschen mit dem Gesicht nach unten lagen – alle waren an Händen und Füßen gefesselt. In der Nähe des Eingangs kauerten Menschen still auf den Matratzen. Als mein Vater bemerkte, dass ich zu den Gefangenen sah, sagte er: „Was guckst du so, Arschloch?” Ich entgegnete „Warum hast du mich sonst hergebracht?”
Ich wusste Bescheid, dass diese Menschen getötet wurden. Sie wurden in eine Grube geworfen und von Soldaten getötet und begraben. Ich weiß das, weil mein Vater zu Hause davon erzählte.
Neben La Cuadra waren einige Räume, die als Büros bezeichnet wurden. Ich weiß, dass „Palito” Romero dort einen Mann zusammenschlug und tötete. (Nach Angaben von Überlebenden prügelte der Zivilist Jorge Romero, der ebenfalls im La Perla-Ribera Prozess angeklagt war, den Studenten Raúl Mateo Molina zu Tode).
Im folgenden Video führt Emilio Fessia, der Leiter der Gedenkstätte La Perla, durch die ehemaligen Folterkammern.
El camino por el cual ustedes vienieron y la ruta, era el camino por el cual entraban las personas secuestradas. Y más o menos, si ven el plano, hacían este recorrido y aquí los bajaban para su primera sesión de tortura. […] Era donde se les cambiaba el nombre a las personas y se les ponía un número en este proceso de deshumanización. […] Y si sobrevivían las sesiones de tortura, venían las personas detenidas desaparecidas y eran tiradas en la cuadra hasta que venía la orden de los superiores para trasladarlas. Que es la mentira, el eufemismo que utilizaban para fusilarlas y desaparecerlas en la gran mayoría de los casos.
Der Weg, auf dem Sie hier herein gekommen sind, ist auch der Weg, auf dem die Entführten hierher kamen. Wenn Sie auf die Karte schauen, sehen Sie, dass sie ungefähr diesen Weg nahmen und dann zum ersten Mal gefoltert wurden. […] Hier wurden ihre Namen geändert und sie bekamen als Teil des Prozesses der Entmenschlichung eine Nummer zugewiesen. […] Wenn sie die Folter überlebten, wurden die Gefangenen in die cuadra geworfen, bis die Anordnung von oben kam, dass sie verlegt werden sollten. Dies war die Lüge – der Euphemismus – für die Erschießung der Menschen und dem Verschwinden ihrer Leichen in den meisten Fällen.
Die ‘Kriegsbeute’
Mein Vater brachte alle möglichen gestohlenen Dinge mit nach Hause. Damals in dem Alter hatte ich noch keine Ahnung, was die „Kriegsbeute” – wie sie es nannten – war. Aber als ich später selbst beim Militär war, – ich war in der Gendarmerie – wurde mir klar, dass Kriegsbeute ein Bajonett oder vielleicht Militärabzeichen sind, die man einem Feind abnimmt, den man bekämpft hat.
Wenn man aber in ein Haus geht und den Kühlschrank, den Plattenspieler, Kleidung, Gemälde, Geld… stiehlt, dann ist das keine Kriegsbeute sondern Vandalismus. Das ist Diebstahl.
Ich habe mich immer gefragt, wie mein Vater, der Leiter der Sicherheitskräfte, bei diesem Vandalismus mitmachen konnte. Ich verstehe es einfach nicht. Ich war auch Offizier bei der Gendarmerie und mir wäre es nie eingefallen, in ein Haus einzudringen und alles darin zu stehlen.
Ich verstehe nicht, wie mein Vater das tun konnte. Einmal nannte er mich einen Kriminellen und ich antwortete: Und du, der du Autos auf der Straße stiehlst? Du bist kein Krimineller? Er explodierte vor Wut, schlug mich und schrie:
¡el día que te cruces de vereda, ese día te voy a buscar y te voy a matar yo. No hará falta que te mate otro!
Wenn du so weit gehst, dann werde ich dich finden und dich eigenhändig umbringen. Dazu brauchen wir niemand anderen!
So war mein Vater. Ich habe keine einzige gute Erinnerung an ihn.
Als ich im Prozess aussagte, zeigte ich ein Foto von damals, auf dem ich eine Jacke und einen Rollkragenpullover aus Wolle trug. Beides hatte mein Vater aus La Perla. Wir waren nicht arm, aber er brachte trotzdem Kleidung mit nach Hause. Damals beschuldigte mich die Verteidigung, ein Mitverschwörer bei diesem Verbrechen gewesen zu sein. Ich erwiderte, kein Problem, sie können mir zur Last legen, was sie wollten.
Ich war sowieso dort, um auszusagen.
‘Das Verschwindenlassen der Leiche ist der letzte abscheuliche Akt’
Jetzt, wo ich älter bin, empfinde ich Reue. Ich habe Kinder. Wenn man erst einmal Kinder hat, erkennt man den Wert eines Lebens. Man entwickelt sich weiter und erkennt, dass es falsch ist, zu töten. Ich ging sogar so weit zu sagen:
Incluso llego al extremo de decir ‘bueno, suponé que fusilabas durante la dictadura”, pero ¿por qué desaparecías los cadáveres? ¿Por qué robabas niños?
Gut, du hast also während der Diktatur Menschen exekutiert. Aber wozu die Leichen verschwinden lassen? Warum Kinder entführen?
Eines Tages brachte mein Vater ein Mädchen mit nach Hause, dessen Mutter getötet worden war. Sie war wie unser Haustier, fast wie ein Hund – nur dass dies ein kleines Mädchen war. Ich stellte mir immer wieder die Frage: Sie wurden gefoltert, aber warum wurden sie getötet? Man hätte sie doch einfach ins Gefängnis bringen können. Ich schätze, es wurde einfach entschieden, diese Menschen zu töten. Aber wozu ihre Leichen verschwinden lassen? Hatten diese Menschen nicht auch Familien, denen man ihre sterblichen Überreste übergeben konnte? Das Verschwindenlassen der Leiche ist der letzte abscheuliche Akt, den man einem Menschen antun kann.
Mein Vater erzählte mir, als die Demokratie wieder eingeführt wurde, holten sie Maschinen, um die sterblichen Überreste der Gefangenen zu beseitigen. Sie wurden zermahlt und irgendwo entsorgt – keine Ahnung, wo. „Man wird nie etwas finden”, sagte mein Vater. Aber irgendetwas bleibt natürlich immer.
‘Ich habe gesehen, wie du Menschen getötet hast!’
Nur um es klarzustellen: Ich habe nichts gegen das Militär. Ich war sogar selbst bei der Gendarmerie. Ich habe einfach nur die Wahrheit über 20 Kriminelle gesagt – darunter mein Vater.
Der Gedanke, meinen Vater anzuzeigen, entstand während eines Gesprächs, als er unter Hausarrest stand. Ich machte ihm Vorwürfe wegen all der Grausamkeiten, die ich seinetwegen miterleben musste. Dann sagte er plötzlich: „Ich weiß nicht. Ich habe niemanden getötet.”
Ich fühlte mich innerlich abgestoßen und fragte mich, wozu der ganze übertriebene Patriotismus und die „westlichen und christlichen Gefühle”, die sie angeblich verteidigten, eigentlich gut waren.
Dann schrie ich:
Entonces le grité “¿cómo me vas a decir eso a mí? ¡Si yo te he visto matar gente! Cometiste delitos muy graves y me hiciste participar en esos delitos siendo yo un niño.
Wie kannst du sowas zu mir sagen? Ich habe gesehen, wie du Menschen getötet hast! Du hast schreckliche Verbrechen begangen und du hast mich als Kind gezwungen, dabei mitzumachen.
Er erwiderte nur „Na dann zeig mich doch an.“
Genau das tat ich. 2010 erstattete ich die erste Anzeige. Ich hatte endlich erkannt, dass er ein Verbrecher war.
Niemand kann mir vorwerfen, dass ich voreingenommen bin. Ich habe schließlich gegen meinen eigenen Vater ausgesagt.
Luis Alberto Quijano starb im Mai 2015 unter Hausarrest stehend noch vor Ende des Prozesses.
Er wurde wegen 416 Straftaten angeklagt: darunter schwerer, unrechtmäßiger Freiheitsentzug in 158 Fällen, Folter in 154 Fällen, Mord in 98 besonders schweren Fällen, Folter mit anschließender Todesfolge in fünf Fällen und ein Fall von Entführung eines unter 10-jährigen Kindes.
Die Urteile in der “Megacausa”
Der Begriff „Megacausa” bezieht sich im Spanischen auf die Größenordnung des Urteils. Nach vier Jahren, in denen mehr als 581 Zeugen gehört wurden, endete der historische La Perla-Ribera Prozess wegen der zwischen März 1975 und Dezember 1978 begangen Verbrechen gegen 716 Opfer schließlich im August.
43 Unterdrücker wurden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig befunden. Das Gericht verhängte in 28 Fällen lebenslange Haftstrafen und in neun Fällen Haftstrafen zwischen 2 und 14 Jahren. In sechs Fällen gab es Freisprüche. Elf von ursprünglich 54 Angeklagten starben während des Prozesses.
#SentenciaLaPerla: asesinatos, tormentos y violaciones cometidos por funcionarios públicos.#FueTerrorismoDeEstadopic.twitter.com/onmD7cEuJb
— Abuelas Plaza Mayo (@abuelasdifusion) August 25, 2016
#LaPerlaUrteil: Mord, Folter und Vergewaltigung durch Amtspersonen. #EsWarStaatsterrorismus
Alle Angeklagten waren während der Diktatur Mitglieder des Militärs, darunter ehemalige Militärangehörige, ehemalige Polizeiangehörige und zivile Mitarbeiter.
Piero De Monti wurde zusammen mit seiner schwangeren Frau im Juni 1976 entführt und nach La Perla gebracht. Er richtete folgende Worte an die schweigende Kammer:
La Perla fue una fábrica de muerte concebida por una mente antihumana
La Perla war eine Todesfabrik konzipiert von unmenschlichen Köpfen.
Das Gerichtsurteil ist ein historischer Meilenstein für alle Menschenrechtsorganisationen, die jahrelang auf Gerechtigkeit für die Opfer hingearbeitet haben. Claudio Orosz, der Anwalt der 1995 gegründeten argentinischen Organisation H.I.J.O.S., die die Kinder von Menschen vertritt, die während der Diktatur ermordet wurden oder verschwanden, sagte:
Fueron más de tres años de juicio pero 39 años de investigación
Der Prozess dauerte mehr als drei Jahre, aber die Recherche dafür dauerte 39 Jahre.
Im März 2007 übergab die argentinische Regierung das Land auf dem sich La Perla befand, damit dort eine Gedenkstätte errichtet werden konnte, die nun von Menschenrechtsorganisationen geleitet wird.