Was chinesische Staatsangehörige außer Landes von Gerüchten über Xi Jinpings Rücktritt halten

Ein Screenshot der staatlich finanzierten chinesischen Volkszeitung „People’s Daily” vom 20. Mai 2022. (vom China Media Project)

Seit zwei Wochen machen Gerüchte über einen möglichen Rücktritt des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping in den sozialen Medien Chinas die Runde, was zu Spekulationen bei im Ausland lebenden chinesischen Dissident*innen führte.

Das Gerücht ging zunächst von Lao Deng (老灯) aus, einem Youtuber in Kanada, der am 05. Mai 2022 als Informationsquelle einen anonymen chinesischen Sicherheitsbeamten bzw. eine anonyme chinesische Sicherheitsbeamtin angab. Informationen zufolge habe Xi eingewilligt, dass sich der chinesische Ministerpräsident Li Keqiang der wirtschaftlichen und diplomatischen Krise Chinas während des Ende April stattfindenden Treffens des Ständigen Ausschusses des Politbüros der Kommunistischen Partei Chinas annehmen solle. Der Video-Blogger bezeichnete das Vorgehen als „einen Coup“, weil Xi sich mit einer Reihe von hochrangigen Parteimitgliedern konfrontiert sah. Ein paar englischsprachige Medien griffen die Story zu diesem Zeitpunkt auf.

Ein paar Tage später beriefen sich mehrere englischsprachige Nachrichtendienste, unter anderem die indische Nachrichtenagentur ANI und die britische Boulevardzeitung Daily Mail, auf einige nicht verifizierte chinesische Informationsquellen, nach denen Xi an einem zerebralem Aneurysma, eine Erweiterung einer Hirnarterie, leide, das starke Kopfschmerzen verursachen, die neurologische Hirnfunktion reduzieren und zu tödlichen Hirnblutungen führen kann.

Gerüchte dieser Art entstanden vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Xi Jinping sich im Herbst für eine dritte Amtszeit bestätigen lassen will. Nachdem die Beschränkung auf zwei Amtszeiten aus der chinesischen Verfassung im Jahr 2018 gestrichen worden war, wurde Xi Jinpings Machtanspruch klar, für immer im Amt zu bleiben. Von entscheidender Bedeutung für die Sicherung seiner Führungsrolle dürfte dabei der kommende Sommer-Gipfel der Kommunistischen Partei Chinas (KP) im Badeort Beidaihe sein.

Die chinesische Wirtschaft wurde von der Null-Covid-Strategie der Pandemiekontrolle allerdings stark in Mitleidenschaft gezogen, weswegen die Menschen im Hinblick auf die Zukunft ihres Landes zunehmend pessimistisch sind.

Für Chinas Wirtschaft hat die Null-Covid-Strategie einen hohen Preis:
*Industrieproduktion minus 2,9 % im April verglichen mit April 2021
*Einzelhandelsumsatz um 11,1 % geschrumpft (entgegen einem geschätzten Minus von 6,6 %)
*Arbeitslosenquote auf 6,1 % gestiegen, Jugendarbeitslosigkeit auf Rekordhöhe via @JDMayger

Beim Treffen des Ständigen Ausschusses des Politbüros der KP wurde ein Konjunkturprogramm verabschiedet und das Wall Street Journal berichtete am 11. Mai 2022, dass Ministerpräsident Li Keqiang ins Zentrum des Geschehens zurückgekehrt ist, um Chinas wirtschaftliche Probleme zu lösen, nachdem er jahrelang hinter den Kulissen wartend ausgeharrt hatte.

Beobachter*innen der chinesischen Medien nahmen außerdem zur Kenntnis, dass auf den Titelseiten sowohl der Nachrichtenagentur Xinhua als auch der englischsprachigen Tageszeitung China Daily seit einiger Zeit andere führende Politiker Chinas, einschließlich Li Keqiang, Wang Yang (Vorsitzender der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes ) und Li Zhanshu (Vorsitzender des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses), eine zentrale Rolle spielen, während Xi in den Schlagzeilen der Medien weniger präsent ist.

Das China Media Project (CMP), ein Hongkonger Forschungsprogramm über Entwicklungen in Chinas Medienlandschaft, hat Xis Abwesenheit auf den Titelseiten der Zeitung China Daily genau mitverfolgt:

Die heutige Titelseite der Volkszeitung People’s Daily ist in diesem Monat bereits die fünfte ohne Xi Jinping oder einem Titel („Generalsekretär“) in einer Schlagzeile. Dies gilt als Mindeststandard, ab dem Xis Abwesenheit als ungewöhnlich einzustufen ist. Bleiben Sie dran! Der Mai hat noch eine Woche.

Laut der vorausgegangenen Analyse des CMPs wären mehr als fünf Tage Abwesenheit Xis von der Titelseite der Volkszeitung People’s Daily in einem Monat durchaus ungewöhnlich.

Auf Twitter gibt es etliche Diskussionen darüber, was die Anzeichen rund um die Gerüchte und die Berichterstattung bedeuten könnten.

Menschen, die glauben, dass Xi zurücktreten könnte, verwiesen auf seine Null-Covid-Strategie und Chinas Lockdown-Maßnahmen als Beispiele einer Politik, die seine Popularität entscheidend geschwächt haben. Der langjährige chinesische Dissident Hu Ping wies diese Analyse jedoch entschieden zurück, da sie davon ausgeht, dass Xis Macht auf breite Unterstützung der allgemeinen Bevölkerung oder von Parteieliten beruht.

Dabei beteiligen sich sogar Menschen, die von den Gerüchten nichts halten, an der Diskussion, um ihrer Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation in China Ausdruck zu verleihen:

Ich glaube zwar nicht, dass Xi Jinping abtreten wird, aber falls doch ein Wunder geschieht, er zurücktreten und Li Keqiang und Wang Yang die Führung übernehmen sollten, dann wäre das eine großartige Nachricht. Ich bin davongelaufen, aber meine Familie tat das nicht. Ich will nicht mit ansehen, wie sie leiden…  

Der im Exil lebende Anwalt für Menschenrechte Teng Biao glaubt, dass die Gerüchte in Verbindung mit den Diskussionen über einen Kurswechsel dazu dienen, die falsche Hoffnung zu verbreiten, dass die KP möglicherweise die Legitimationskrise eines autoritären politischen Systems lösen wolle, in dem Menschenrechte und Freiheit im Vergleich zur politischen Stabilität eines Einparteiensystems als zweitrangig angesehen werden.

Als Wen Jiabao Ministerpräsident wurde, waren viele Menschen hoffnungsvoll. Einige organisierten sogar Veranstaltungen als Ausdruck ihrer Unterstützung. An einem solchen Abendessen war ich der Einzige, der Wen noch skeptisch gegenüberstand. Was soll man vom derzeitigen Jubel über Li Keqiang halten? Das ist doch nur eine weitere falsche Hoffnung, die von Leuten, die über Zhongnanhai (das Machtzentrum der KP) spekulieren, kreiert wurde. Diejenigen, die Li Keqiang unterstützen, haben wohl in den Jahren 2012 und 2013 Xi Jinping unterstützt, weil Xi Zhongxun (Xi Jinpings Vater) ein Reformer war?

Einige Dissident*innen, besonders wenn sie mit dem im Exil lebenden chinesischen Tycoon Guo Wengui in Verbindung gebracht werden, verbreiteten außerdem die Verschwörungstheorie, Xi stecke hinter den Gerüchten.

Obwohl wir über keine Möglichkeiten verfügen, solche Gerüchte zu verifizieren, bringt der Chinabeobachter Bill Bishop mit seiner Beurteilung über die Politik der Gerüchte im modernen China einiges Licht ins Dunkel des verwirrenden Gesamteindrucks:

There is a long history of rumors getting pushed out overseas, recycled back into China, some officials start talking about them, then they get pushed back out overseas as “confirmed”. There is also a long history of the losing side of any political struggle leaking misinformation…

Es gibt eine lange Geschichte von Gerüchten, die im Ausland gestreut werden, in China wiederverwendet werden, über die dann einige Regierungsmitglieder anfangen zu reden, und die dann erneut im Ausland als „bestätigt“ verbreitet werden. Außerdem gibt es eine lange Geschichte der Verliererseite eines x-beliebigen politischen Kampfes, die Falschinformationen durchsickern lässt…

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