Die Stadt Mariupol – die rote Linie der Ukraine

Tetrapods, normally used to build piers, have been used in Mariupol’s defense, and today are found around the city decorated with Ukrainian folk symbols. Mariupol, Ukraine, July 4, 2016. Photo: Ivan Sigal

Tetrapode werden normalerweise für den Bau von Piers verwendet und wurden zur Verteidigung von Mariupol eingesetzt. Heute sieht man sie überall in der Stadt, mit ukrainischen Folkloresymbolen dekoriert. Mariupol (Ukraine) 4. Juli 2016 / Foto: Ivan Sigal

Die ukrainische Stadt Mariupol ist 20 km von der Front zwischen den durch Russland unterstützten Separatisten und dem ukrainischen Militär entfernt. In der Stadt herrscht Frieden, aber dennoch hört man den Lärm des Krieges. Die Kämpfe zwischen den Separatisten und dem ukrainischen Militär haben sich in den letzten Monaten ausgeweitet und so können die Bewohner von Mariupol die Granatwerfer und das Raketenfeuer hören, wenn der Wind aus Osten kommt – von den Dörfern Shyrokyne und Novotroitske an der Front.

Mit ihrer Verteidigung der Stadt haben die Ukrainer Mariupol zu ihrer Grenzlinie gemacht: Mariupol ist eine Hafenstadt mit wichtiger Transportinfrastruktur, Zugang zum Asowschen Meer und Sitz zweier riesiger Stahlfabriken, sowie anderer ausgesuchter Firmen der Schwerindustrie. Es ist aber auch die Stadt, welche die Russen einnehmen müssten, um eine Landverbindung zur Krim bauen zu können, was ihnen die strategische Durchführbarkeit ihres Anspruchs auf das Territorium sichern würde.

Wall-size map of Mariupol, Mariupol, Ukraine, July 4, 2016. Photo: Ivan Sigal

Wandgroße Karte von Mariupol, Mariupol (Ukraine) 4. Juli 2016 / Foto: Ivan Sigal

Ich verbringe eine lange Woche in Mariupol, spaziere durch die Stadt, mache Fotos und versuche die Haltung der Bewohner zum Konflikt abzuschätzen, ihre eigenen Umstände und ihr Verständnis über den Charakter der Bedrohung. Ich will sehen, ob ich den psychischen Druck und die Unsicherheit, die durch die Nähe zur Front entsteht, erklären und abbilden kann und wie sich dieser Druck in der Landschaft sichtbar macht.

In diesem Krieg ist das Zusammenspiel zwischen Informationskonflikt und physischer Gewalt besonders deutlich, Fehlinformationen und Propaganda bringen die Motive durcheinander, unverkennbare Gewalt wird negiert und man legt es darauf an, die Bevölkerung genauso zu verwirren wie die kämpfenden Truppen. Dieser ungewöhnliche Krieg ist Zeuge des Aufblühens von beweislastigen Spuren aus Onlinequellen, genauso wie von der möglichen Manipulation solcher Beweise. Verwirrung ist eindeutig eher ein strategisches Element, als nur ein Nebeneffekt dieses Krieges. Mit anderen Worten: die Rhetorik des “Fog of War” legt es darauf an, die Idee des Informationskrieges zu legitimieren. Genauso entsteht durch die Rhetorik eines sogenannten “Hybridkrieges”, als neue Form der Kriegsführung – auch wenn sie gar nicht so neu ist – eine Umgebung, in der die internationalen Normen und Gesetzte des Krieges selbst hinterfragt werden können.

Vor dem Krieg unterstützten die Bewohner Mariupols größtenteils die russische Kultur und Sprache und nahm 2014 bis 2015 kurz an den Bestrebungen der Separatisten Anteil. Dieser Teil der Ukraine unterstützte mit großer Mehrheit Wiktor Janukowytsch in den Wahlen und die lokale Polizei beteiligte sich an seinem Machterhalt. Gleichzeitig ließen sich aber auch die Auswirkungen des Krieges und der Politik auf das Leben der Mensch nun nur noch schwer verbergen. Teil Russlands zu sein wäre vielleicht attraktiv gewesen, aber die Zugehörigkeit zu einem geächteten Semi-Staat? Eher nicht.

Camouflage netting along Mariupol’s city beach obscures tank traps and a training area for Ukrainian military and civil defense forces. Mariupol, Ukraine, July 4, 2016. Photo: Ivan Sigal

Das Tarnnetz am Stadtstrand von Mariupol verbirgt Panzerfallen und ein Trainingsareal des ukrainischen Militärs und der zivilen Verteidigungstruppen. Mariupol (Ukraine) 4. Juli 2016 / Foto: Ivan Sigal

Das Resultat ist eine Art Ermüdung, ein flüchtiges Stadium der Geheimhaltung und Schweigsamkeit. Viele Bewohner erkennen nun die Gefahren, welche die Verbindung zur Unabhängigkeitsbewegung mit sich bringt, mit dem daraus resultierenden Koflikt und der Isolation. Die ukrianischen Truppen kontrollieren, zusammen mit den Milizen, die Stadt und den Flughafen. Das Militär hat zudem die Front verstärkt. Die Russen haben immer noch das stärkere Militär, aber es gibt keine Garantie, dass ihnen auch die Unterstützung der Bevölkerung sicher ist, oder ein einfacher Sieg über die ukrainischen Truppen. Diese haben immer noch Zeit, kämpfen zu lernen.

Advertisements for ride sharing to Crimea dominate local posting boards. Mariupol, Ukraine, July 4, 2016. Photo: Ivan Sigal

Werbung zu Mitfahrgelegenheiten auf die Krim dominieren die lokalen Anschlagbretter. Mariupol (Ukraine) 4.Juli 2016 / Foto: Ivan Sigal

In Mariupol ist es still; die Straßen sind ruhig. Es ist vielleicht übertrieben zu sagen, dass die Stadt ihren Atem anhält. Vor Kurzem hat Mariupol jedenfalls angeblich Waffenlieferungen in die separatistischen Enklaven intensiviert und verfolgt die rhetorische Linie, dass der Waffenstillstand so gut wie tot sei. Solche Schachzüge kreieren eine Atmosphäre von moralischer Toleranz, die erneute Konflikte zu einer sehr wahrscheinlichen Möglichkeit machen.

Egal, ob Russland nun beschließt einzumarschieren oder nicht, die Rhetorik des Kremls schafft taktischen Raum. In diesem Spielraum könnte er rein theoretisch eine Invasion vorbereiten und auch rechtfertigen, oder auch einfach nur mehr Macht am Verhandlungstisch herausschlagen, wenn sich die Machthaber das nächste Mal zu Friedensgesprächen zusammensetzen. Mit so einer Haltung fordert Moskau von Neuem den Widerstand gegen seine Machtansprüche der ukrainischen Regionen heraus.

Bus stop on Lunina Ave. Mariupol, Ukraine, July 4, 2016. Photo: Ivan Sigal

Bushaltestelle an der Lunina Straße. Mariupol (Ukraine) 4. Juli 2016 / Foto: Ivan Sigal

Eine Version dieses Posts ist ursprünglich auf ivansigal.net erschienen.

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