Am 12. September fanden in den großen Städten des Landes von pakistanischen Frauen organisierte Massendemonstrationen statt, bei denen Gerechtigkeit und Rechenschaft für sexuelle Gewalt gefordert wurde. Auslöser für die Demonstrationen war ein medienpräsenter Vergewaltigungsfall in der Region von Lahore.
Eine Frau, die mit ihren drei Kindern von Lahore nach Gujranwala (97 km) unterwegs war, wurde am 09. September von drei Männern unter Einsatz von Waffengewalt ausgeraubt und vergewaltigt, nachdem sie mit ihrem Auto auf der Autobahn Lahore-Sialkt zum Stehen gekommen war.
Gemäß Informationen der Polizei in Punjab sind auf dieser neu eröffneten Autobahn keine Polizeistreifen im Einsatz.
Nach einem Fernseh-Interview, in dem der CCPO von Lahore (Polizeibeamte der Hauptstadt), Umar Sheikh, meinte, der Vorfall sei auf die Entscheidung des Opfers, in der Nacht unterwegs zu sein, zurückzuführen, kam es zu einem Aufschrei in den sozialen Medien.
Kurz nach dem Interview machte ein Hashtag auf Twitter die Runde, in dem der Rücktritt von Sheikh gefordert wurde.
Die pakistanische Bundesministerin für Menschenrechte, Shireen Mazari, verurteilte die Aussage des CCPO:
For an officer to effectively blame a woman for being gang-raped by saying she should have taken the GT Road or question as to why she went out in the night with her children is unacceptable & have taken up this issue. Nothing can ever rationalise the crime of rape. That's it.
— Shireen Mazari (@ShireenMazari1) September 10, 2020
Es ist unentschuldbar für einen Polizeibeamten, einer Frau die Schuld dafür zu geben, von mehreren Männern vergewaltigt worden zu sein und zu sagen, sie hätte auf der GT-Straße unterwegs sein sollen oder gar in Frage zu stellen, warum sie mit ihren Kindern in der Nacht draußen unterwegs war und dies überhaupt zu thematisieren. Vergewaltigung kann durch nichts rationalisiert werden. Mehr ist nicht zu sagen.
Die Anwältin Khadija Siddiqui, die im Mai 2016 auf einer Straße in Lahore von einem männlichen Klassenkameraden brutal angegriffen wurde, konterte dem CCPO ebenso:
Ccpo claiming that in our society women/children arent allowed to go outside after 12:30 am! Who are you to set time limits for us?
I was stabbed 23 times in broad daylight! Dont tell us that ‘time’ is directly connected to the commission of offence! #motorwayincident pic.twitter.com/8z9ERuJ3Rc— khadija siddiqi (@khadijasid751) September 10, 2020
Dass der CCPO meint, Frauen/Kinder sollten nach 00:30 überhaupt nicht mehr draußen unterwegs sein! Wer sind Sie, uns vorzuschreiben, bis wann wir unterwegs sein dürfen?
Auf mich wurde am helllichten Tag 23 Mal eingestochen! Versuchen Sie nicht, uns zu erklären, dass die „Uhrzeit“ im direkten Zusammenhang mit den Straftaten steht!
Ein präsenter Slogan auf den Protesten vom 12. September war „Mera Jism Meri Marzi“ („mein Körper, meine Entscheidung”).
Die Veranstalter*innen des Aurat-Marsches (Urdu für „Marsch der Frauen“), die bei der Organisation der Proteste in verschiedenen Städten mithalfen, veröffentlichten eine Charta mit Forderungen, in denen sie sich auch gegen Erhängen und für Justiz- und Polizeireformen aussprachen, um sicherzustellen, dass „unsere Körper sicher sind und dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden.“
Our charter of demands for the protest today at 5 PM liberty roundabout.
We oppose public hangings and call for meaningful reform to ensure our bodies are safe and there is accountability for violence.#MeraJismMeriMarzi pic.twitter.com/1lV5QWj03s
— عورت مارچ لاہور – Aurat March Lahore (@AuratMarch) September 12, 2020
Unsere Charta mit Forderungen für die heutigen Proteste um 17:00 beim Liberty-Kreisverkehr.
Wir sind gegen öffentliche Hinrichtung durch Erhängen und fordern bedeutende Reformen, um sicherzustellen, dass unsere Körper sicher sind und dass Täter zur Rechenschaft gezogen werden.
We, as the organizers of the protest that's being held in light of the heinous motorway attack, demand swift justice for all victims of sexual violence BUT we oppose capital punishment & violence begetting violence. Here is our list of demands. #EndRapeCulture #MeraJismMeriMarzi pic.twitter.com/r7m4ca3RC3
— Aurat Azadi March Islamabad (@AuratAzadiMarch) September 11, 2020
Wir als die Organisator*innen des Protests, der in Reaktion auf diesen abscheulichen Angriff auf der Autobahn stattfindet, fordern schnelle Gerechtigkeit für alle Opfer sexueller Gewalt. TROTZDEM sprechen wir uns gegen die Todesstrafe und gegen „Gewalt gegen Gewalt“ aus. Hier sind unsere Forderungen.
We, the organisers of the Mera Jism Meri Marzi protest in Karachi, demand justice, accountability, an end to violence, and structural reform. We demand radical change within our public institutions to ensure that this culture of patriarchal violence and control comes to an end. pic.twitter.com/6fmCIMAc2r
— Aurat March – عورت مارچ (@AuratMarchKHI) September 12, 2020
Wir, die Organisator*innen der Mera-Jism-Meri-Marzi-Proteste in Karachi, fordern Gerechtigkeit, dass jemand zur Rechenschaft gezogen wird, ein Ende der Gewalt sowie Strukturreformen. Wir fordern radikale Veränderungen innerhalb der öffentlichen Institutionen, um sicherzustellen, dass diese Kultur der patriarchalen Gewalt und Kontrolle ein Ende nimmt.
2019 wurden allein in Punjab 3.881 Vergewaltigungsfälle und 1.359 Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern gemeldet. Gemäß Daten der Polizei in Punjab wurden im ersten Halbjahr 2020 bereits 2.043 Vergewaltigungsfälle gemeldet.
Die Polizei untersucht den Vorfall auf der Autobahn. Es wurden zwar bereits Verdächtige identifiziert, jedoch kam es noch zu keinen Festnahmen.
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In den sozialen Medien wird die Todesstrafe diskutiert
Immer, wenn in Pakistan ein Vergewaltigungsfall in den Medien thematisiert wird, fordern Menschen, dass jene, denen Vergewaltigung vorgeworfen wird, mit dem Tode bestraft werden. Dieser Vorfall ist hier keine Ausnahme, der Hashtag #HangRapistsPublically (in etwa: Erhängt Vergewaltiger öffentlich) wurde zum Trend in den sozialen Medien.
Der Frauenflügel der Jamat e Islami, einer religiösen politischen Partei, der in Reaktion auf den Vorfall ebenso Proteste organisierte, twitterte ebenso eine Nachricht mit diesem Hashtag.
General Secretary of JI Women Wing, Ms Durdana Siddiqui spoke from the protest today at Khi Press Club. She asked for the Women Protection & demanded to #hangrapistspublicly #تحفظ_فوری_انصاف pic.twitter.com/Sb1dmXrT8u
— Jamaat e Islami Karachi (Official) (@KarachiJamaat) September 11, 2020
Die Generalsekretärin des Frauenflügels der JI-Partei, Frau Durdana Siddiqui, sprach über den heutigen Protest im Khi-Presseclub. Sie forderte den Schutz von Frauen und die öffentliche Hinrichtung durch Erhängen von Vergewaltigern.
Der Premierminister von Pakistan, Imran Khan, verteidigte Hinrichtungen durch Erhängen in einem Interview: „Sie [Vergwaltiger] sollten exemplarisch bestraft werden. Meiner Meinung nach sollten sie an der Chowk-Kreuzung erhängt werden“, meinte Khan.
Das Bundeskabinett unterstützte die Ansicht des Premierministers, sprach sich jedoch bevorzugt für die „chemische Kastration“ als Strafe aus, um das Land von der Kritik aus westlichen Ländern zu schützen.
I personally think pedophiles & rapists must be hanged publicly but I'm told that we have international repercussions. EU's GSP status for trade with Pakistan will be affected by public hangings. Hence I think chemical castration must be conducted on those criminals #PMIKon92News
— PTI (@PTIofficial) September 14, 2020
Ich persönlich denke, dass Pädophile und Vergewaltiger öffentlich gehängt werden sollten, jedoch wird mir gesagt, dass wir hier mit internationalen Konsequenzen zu rechnen haben. Der EU-Status gemäß des Schemas allgemeiner Zollpräferenzen beim Handel mit Pakistan würde von öffentlichen Hinrichtungen beeinflusst werden. Daher denke ich, dass bei diesen Straftätern die chemische Kastration zum Einsatz kommen muss.
Andere wiederum sprachen sich gegen solche Strafmaßnahmen aus. Die Journalisting Mehreen Zahra Malik meinte:
EU’s Generalized System of Preferences (GSP-plus) status, granted to Pakistan in 2014, is contingent upon observation of international conventions, such as human rights. Don't think they'll be too happy with #chemicalcastration & public executions. #motorwaycase #motorwayincident
— Mehreen Zahra-Malik (@mehreenzahra) September 14, 2020
Der EU-Status des Schemas allgemeiner Zollpräferenzen (GPS-plus), der Pakistan 2014 zugesprochen wurde, hängt von der Einhaltung internationaler Konventionen wie zum Beispiel jener der Menschenrechte ab. Ich denke nicht, dass sie sich über chemische Kastration und öffentliche Hinrichtungen freuen würden.
Reema Omer, eine rechtliche Beraterin der International Commission of Jurists (in ewa: internationale Jurist*innenkommission), sagte:
In addition to public hanging, certain MNAs have also suggested “chemical castration” as punishment for rape
A similar proposal was made to J. Verma Committee (constituted for law reform after the Delhi gang rape) in India
The Committee rejected it for the following reasons: pic.twitter.com/IfD09BYqeV
— Reema Omer (@reema_omer) September 14, 2020
Neben öffentlichen Hinrichtungen durch Erhängen haben einige Mitglieder der Nationalversammlung „chemische Kastration“ als Strafe für Vergewaltigung vorgeschlagen.
Dem J.-Verma-Ausschuss (nach der Massenvergewaltigung in Delhi zur Umsetzung einer Justizreform ins Leben gerufen) hat in Indien einen ähnlichen Vorschlag vorgebracht.
Der Ausschuss hat den Vorschlag aus Folgenden Gründen abgelehnt: pic.twitter.com/IfD09BYqeV (auf Englisch)
Der Journalist Zarrar Khuhro twitterte:
Systemic reform is what we need to be talking about. Chemical castration, public hanging, dissolving in acid…all that has to come later. Most #rape cases go unreported because of police, legal and societal problems. And of those who go to court, 96% are acquitted.
— Zarrar Khuhro (@ZarrarKhuhro) September 14, 2020
Worüber wir dringend sprechen müssen sind Systemreformen. Chemische Kastration, öffentliche Hinrichtung durch Erhängen, Auflösen in Säure… all das muss an späterer Stelle stehen. Die meisten Vergewaltigungsfälle werden wegen Problemen bei der Polizei, der Justiz und in der Gesellschaft nicht gemeldet. Bei jenen Fällen, die vor Gericht landen, enden 96 % in einem Freispruch.