Seit Beginn der Pandemie warnen feministische Organisationen in Venezuela und internationale NGOs vor einem Anstieg von Fällen häuslicher Gewalt während der strengen Quarantäne-Maßnahmen, die in den meisten venezolanischen Städten eingeführt wurden. Laut Save the Children, einer internationalen Organisation für Kinderrechte, ist in Venezuela die Zahl der Unterstützungsanfragen in Fällen körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt gegen Frauen seit Beginn der Pandemie im März um 33 % gestiegen. In den ersten acht Monaten des Jahres 2020 sind in Venezuela 172 Frauen ermordet worden: ein Femizid alle 43 Stunden.
Zivilgesellschaftliche Organisationen und feministische Gruppen fühlen sich von der Regierung im Stich gelassen und greifen zur Unterstützung von Frauen, die während der Pandemie Gewalt erfahren, auf WhatsApp als Instrument zurück. Global Voices hat mit den Leiterinnen von vier Projekten gesprochen, deren Ziel es ist, während der Pandemie von Gewalt betroffenen Frauen mithilfe von WhatsApp zu helfen.
Uquira vermittelt die Grundlagen von modernem Feminismus
Vor der Pandemie gingen Mitglieder der feministischen Gruppe Uquira auf die Straßen, um ihren Unmut gegen die Nachlässigkeit der Regierung, die Kultur der Gewalt gegen Frauen und den Machismus in Venezuela kundzutun. Aufgrund der Pandemie musste Uquira ihre Arbeitsdynamik umstellen und fing an, interaktive Konferenzen, sogenannte foro chats, auf WhatsApp zu organisieren. Das sagte Melanie Arguinzones, ein Mitglied von Uquira, zu Global Voices:
WhatsApp es una herramienta genial para el contexto venezolano. Hay muchas mujeres que no tienen computadora o una conexión estable de internet, así que les cuesta entrar a una reunión de zoom, por ejemplo. Para muchas esta puede ser la única y la forma más económica de compartir información, experiencias y pedir ayuda. […] Los foro chats se convirtieron en una buena herramienta para invitar a expertos a que compartan información de temas relacionados a género. Esta nueva dinámica es mucho más inclusiva, porque nos permite acercarnos a mujeres que están fuera de Caracas
Im venezolanischen Kontext ist WhatsApp ein großartiges Instrument. Es gibt viele Frauen, die keinen Computer oder keine stabile Internetverbindung haben, sodass es für sie schwierig ist, beispielsweise an einem Zoom-Meeting teilzunehmen. Für viele ist WhatsApp deshalb der einzige und auch günstigste Weg, um Informationen weiterzugeben, sich über Erfahrungen auszutauschen und um Hilfe zu bitten. […] Die foro chats haben sich zu einem guten Instrument entwickelt, über das Expert*innen genderbezogene Informationen vermitteln können. Diese neue Dynamik ist viel inklusiver, da sie uns ermöglicht, auch Frauen von außerhalb von Caracas einzubeziehen.
Seit Beginn der Pandemie hat Uquira vier öffentliche foro chats zu den Themen Grundlagen des Feminismus, feminische Selbshilfe und das Widerlegen von Verschwörungstheorien über LGBTQ-Gemeinschaften organisiert. Der letzte foro chat über Sexualpolitik war ein privater Kurs für Uquira-Mitglieder.
Um an den foros teilzunehmen, melden sich die Teilnehmenden über ein Google-Dokument an und bekommen später einen Link zugeschickt, mit dem sie einer WhatsApp-Gruppe beitreten können. Am Tag des Vortrags begrüßen die Moderatorinnen die Teilnehmenden, erklären die Gruppenregeln und stellen die eingeladenen Referentinnen vor. Diese analysieren das Thema anhand von Fotos, Texten und Sprachnachrichten; die Teilnehmenden können in dieser Zeit keine Nachrichten an die Gruppe schreiben. Am Ende öffnen die Moderatorinnen den Chat für eine ca. 40-minütige Fragerunde.
Aufgrund bisheriger Erfahrungen nimmt Uquira verschiedene Sicherheitsmaßnahmen vor, wie zum Beispiel die obligatorische Anmeldung und die Öffnung des Chats erst zur Fragerunde. “Am Anfang gab es einige Trolls, die in die Gruppen kamen, uns beleidigten und obszöne Fotos verschickten. Aber wir brauchen diesen Raum nachwievor. Wir wollen so viele Kommunikationskanäle nutzen wie wir können, weil wir wollen, dass unser Anliegen ankommt”, sagt Arguinzones.
#JusticiaParaTodas bietet eine Unterstützungsgruppe für Angehörige der Femizidopfer
Als 2018 ihre Mutter ermordet wurde, wusste Ketsy Medina, dass es ein langer Weg werden würde, bevor sie Gerechtigkeit erlangt. Und tatsächlich war das Ermittlungsverfahren, um den Mörder ihrer Mutter zu finden, lang und schwierig. Schon bald ist ihr klar geworden, dass es sich nicht lohnt, alleine gegen die venezolanische Justiz zu kämpfen. Sie erstellte eine Unterstützungsgruppe in WhatsApp unter dem Titel “#JusticiaParaTodas” (“Gerechtigkeit für Alle”) für alle Frauen, die die gleiche Odysee durchmachen. In einem Telefongespräch mit Global Voices sagte sie Folgendes:
Creamos este grupo de apoyo para que las familias de las víctimas pudieran construir un espacio para compartir información, actualizaciones de los casos y buscar apoyo. Presionamos a las instituciones a través de las redes sociales con la información que recopilamos; pero el grupo ofrece algo fundamental para curar una herida tan grande como el feminicidio de un ser querido: compañerismo, comprensión y apoyo.
Wir haben diese Unterstützungsgruppe ins Leben gerufen, damit die Angehörigen der Opfer einen Raum haben, um Informationen und Aktuelles aus ihren Fällen mitzuteilen und Unterstützung zu suchen. Über die sozialen Netzwerke üben wir mithilfe der so zusammengetragenen Informationen Druck auf die Institutionen aus. Die Gruppe bietet aber auch Gemeinschaft, Verständnis und Unterstützung, die für die Heilung der tiefen Wunden, die ein Femizid an einem geliebten Menschen hinterlässt, unabdingbar sind.
Ketsy erklärte, dass sich der Gruppenname von dem Hashtag ableitet, der in Venezuela in sozialen Medien genutzt wird, um die Gewalt gegen Frauen und die Nachlässigkeit des States anzuzeigen:
En Venezuela es común ver denuncias de feminicidio en Twitter. Usan el nombre de la víctima: #JusticiaParaGreicy, #JusticiaParaAngela, #JusticiaParaKarla. Nosotras usamos la etiqueta #JusticiaParaTodas, porque juntas somos más fuertes”
In Venezuela werden Femizide häufig auf Twitter angezeigt. Der Name des Opfers wird im Hashtag genannt: #JusticiaParaGreicy, #JusticiaParaAngela, #JusticiaParaKarla. Wir benutzen den Hashtag #JusticiaParaTodas (Gerechtichkeit für Alle), weil wir gemeinsam stärker sind.
Tina Violeta ist ein Hilfetelefon für Opfer von Gewalt gegen Frauen während der Quarantäne
2019 war für Daniella Inojosa, Gründerin des feministischen Kollektivs Tinta Violeta, der Moment gekommen, ein Hilfetelefon für Frauen zu schaffen. So erklärte sie es Global Voices über WhatsApp:
Cuando comenzó la pandemia, empezamos a pensar: ¿Qué tipo de apoyo tienen las mujeres si son víctimas de violencia? ¿De dónde obtienen ayuda, atención y un espacio para denunciarlo? Lamentablemente, en Venezuela no hay.
Als die Pandemie begann, fragten wir uns: Wie werden Frauen unterstützt, wenn sie Opfer von Gewalt sind? Wo bekommen sie Hilfe, Betreuung und einen Raum, um die Gewalt anzuzeigen? Leider gibt es so etwas in Venezuela nicht.
Und so veröffentlichte Tinta Violeta die Telefonnummern einiger Mitglieder und schuf ein Hilfetelefon auf WhatsApp. Die Freiwilligen arbeiten von 06:00 Uhr bis 22:00 Uhr und unterstützen, hören zu und beraten Frauen, die während der Ausgangssperre mit den Tätern zusammenleben.
“2019 fingen wir an, unser Unterstützungsprojekt zu entwickeln, weil wir verstehen wollten, welche alternativen Wege es gibt, um Frauen in einer Gewaltsituation zu unterstützen”, sagte sie. Inojosa erklärte auch, dass viele der Frauen, die sie angerufen oder ihnen geschrieben haben, ihre Partner bereits bei den einschlägigen Justizorganen angezeigt hatten. “Das System hat sie im Stich gelassen”, fügte sie hinzu.
Inojosa beschreibt diese Erfahrung wie eine große Verantwortung, die auf den Schultern ihres Teams lastet. “Wir müssen aus der Entfernung mit äußerst gewaltsamen und alarmierenden Situationen umgehen”, sagte Inojosa. Seit Beginn der Pandemie hat Tinta Violeta 215 Frauen und insgesamt 500 Personen unterstützt. “Wir unterstützen direkte oder auch indirekte Opfer von Gewalt, was häufig bei Kindern der Fall ist”.
Alimenta la Solidaridad bringt ihrem Köchinnen-Netzwerk bei, ihre Gemeinschaften zu unterstützen
Die Gruppe Alimenta la Solidaridad war nicht überrascht, als sich herausstellte, dass ihre Köchinnen eine wichtige Stütze für ihre Gemeinschaften sind. “Das sind vertrauenswürdige Frauen, die über die Gemeindekantinen mit vielen Familien aus der Gemeinschaft im Kontakt sind”, erzählte Mariana Luengo Global Voices am Telefon. Sie ist ehrenamtliche Psychologin in den durch Alimenta la Solidaridad organisierten Gruppenchats über Gewalt gegen Frauen. Das Ziel war es, den Köchinnen bei der Unterstützung von Gewaltopfern behilflich zu sein. “[Die Köchinnen] wollten erfahren, wie sie Frauen und Minderjährigen, die mit ihnen über die zuhause erlebte Gewalt sprechen, helfen können”, fügte Luengo hinzu.
Alimenta la Solidarid lud Psychologinnen und Anwältinnen der Katholischen Universität Andrés Bello ein, um mit den Köchinnen darüber zu diskutieren, wie sie die Gemeinschaft besser unterstützen können. Luengo sagte:
La experiencia fue particularmente enriquecedora por las preguntas que las cocineras traían a la mesa: cada uno tuvo un enfoque muy particular después de haber escuchado a los vecinas hablar sobre sus experiencias de violencia y haber vivido situaciones de abuso en un momento u otro de su vida. Las mujeres estaban particularmente enfocadas en la idea de ayudar a los demás, y les ayudó mucho contar con un equipo de psicólogos y abogados para entender cómo apoyar y asesorar sobre qué hacer contra los abusadores.
Die Erfahrung wurde insbesondere durch die Fragen bereichert, die die Köchinnen mitbrachten: jede hatte ihre eigene Sicht auf das Thema, weil Frauen aus der Nachbarschaft mit ihnen über ihre Gewalterfahrungen gesprochen oder auch weil sie selbst zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben Gewalt erlebt hatten. Der Fokus der Frauen lag vor allem auf der Frage, wie sie anderen helfen können. Das Team aus Psychologinnen und Anwältinnen war deshalb eine große Hilfestellung, und sie konnten den Frauen erklären, wie sie andere unterstützen und beraten können und welche Schritte gegen die Täter unternommen werden können.
Weitere Informationen zu verschiedenen Formen von Gewalt gegen Frauen (Quelle: Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben) sind unter diesem Link zu finden. Konkrete Anlaufstellen und Beratung sind unter diesem Link zu finden.