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In zahlreichen Ländern rund um den Globus nimmt die häusliche Gewalt während der COVID-19-Pandemie zu, jetzt, wo die Menschen gezwungen sind, sich in ihre Wohnungen zurückzuziehen.
Mit den Ausgangssperren und Einschränkungen hat in vielen Ländern die Gewalt gegen Frauen zugenommen – auch in demokratischen Industrieländern. So verzeichnete etwa Frankreich einen 30-prozentigen Anstieg der häuslichen Gewalt, seit das Land in die Ausgangssperre gegangen ist. Zu einem ähnlichen Anstieg kam es in Italien, Spanien, dem Vereinigten Königreich, Brasilien und China.
Noch immer vernachlässigt wird dieses Thema in den Gesellschaften des Nahen Ostens und Nordafrikas, wo die Gewalt in patriarchal geprägten Gesellschaftsordnungen besonders ausgeprägt ist. Hier trifft die COVID-19-Pandemie mit weitreichenden Konflikten, Aufständen und wirtschaftlicher Depression zusammen.
Dies veranlasste UN-Generalsekretär António Guterres dazu, von einem “schockierenden Umsichgreifen häuslicher Gewalt” zu sprechen und zu dringendem Regierungshandeln aufzurufen.
Wenn das Zuhause zur Gefahr wird
Gewalt gegen Frauen ist kein neues Phänomen im Nahen Osten und Nordafrika. Die in Schätzungen zur Gleichberechtigung ermittelten Raten sind nach wie vor hoch, sexuelle und geschlechtsbezogene Gewalt ist ein chronisches und weit verbreitetes Problem. Für gewöhnlich ist es gerade der “Intimpartner”, von dem die meiste Gewalt ausgeht.
Frauen haben in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas in großem Ausmaß mit gesetzlicher Diskriminierung und patriarchalen gesellschaftlichen Normen zu kämpfen. Die Teilhabe von Frauen am öffentlichen und zivilen Leben ist gering – gerade einmal 25 % der Frauen sind berufstätig.
Nun, da die Familien gezwungen sind, die Zeit in ihren Wohnungen auf engstem Raum miteinander zu verbringen, sind sowohl Ausmaß als auch Schwere der Gewalt überall in der Region weiter angewachsen. Laut der tunesischen Ministerin für Frauen, Familien, Kinder und Senioren, Asma Shiri Laabidi, hatte Tunesien seit Beginn der COVID-19-Pandemie eine Verfünffachung der geschlechtsbezogenen Gewalt zu vermelden.
Laut Yosra Frawes, der Vorsitzenden des tunesischen Vereins demokratischer Frauen, führen überfüllte Wohnräume und schlechte Lebensbedingungen verstärkt zur Erfahrung von Kontrolle und Überwachung innerhalb der Großfamilien, die beengt zusammenleben.
Many women report feeling that they are suffocating as a result of the physical proximity to their husbands who are watching their every move.
Viele Frauen berichten von einem Gefühl des Erstickens durch die physische Nähe ihrer Ehemänner, die jede ihrer Bewegungen beobachten.
Im Libanon, wo heftige Unruhen gegen Korruption und die schwache Wirtschaft ausgebrochen waren, bevor mit dem Virus die Ausgangssperre kam, nahm die häusliche Gewalt um 20 % zu.
In Marokko ergab eine Erhebung der Regierung im Jahr 2019, dass mehr als die Hälfte aller Frauen Gewalt erfahren haben, jedoch nur 7 % dies meldeten. Eine Gruppe von Frauenrechtsorganisationen läutete jüngst die Alarmglocken und richtete einen offenen Brief an die Behörden, demzufolge “das eigene Zuhause für Frauen zum gefährlichsten Ort geworden ist.”
Normalerweise ist körperliche Gewalt die letzte Phase einer langen Entwicklung, die mit verbalen Misshandlungen beginnt und auch sexuelle Gewalt einschließt. Najia Tazrout, die Vorsitzende des Netzwerks “Anjad gegen geschlechtsbezogene Gewalt”, einer marokkanischen Frauenrechtsorganisation, sagt:
Marital rape is a taboo and women don’t talk about it. Women accept this violence because they are financially dependent on their husband who is often the only breadwinner in the family.
Vergewaltigung in der Ehe ist ein Tabu, über das Frauen nicht sprechen. Die Frauen erdulden diese Gewalt, weil sie finanziell von ihren Ehemännern abhängig sind, insbesondere wenn der Mann der Alleinverdiener ist.
Unterstützungsnetzwerke gelähmt
Zahlreiche Frauen sind nun auf unbestimmte Zeit eingeschlossen mit ihrem Peiniger und können aufgrund der verhängten Ausgangsbeschränkungen oder aus Angst vor dem Virus keine Zuflucht bei Verwandten mehr suchen. Infolgedessen sind sie noch stärker isoliert und haben keinen Zugang mehr zu Unterstützungsnetzwerken und Sozialdiensten.
Die wenigen öffentlichen Organisationen und Einrichtungen, die Unterstützung für Frauen anbieten – Frauenhäuser, Safe Spaces und Zentren für Frauengesundheit – wurden größtenteils geschlossen oder gerieten unter Druck, weil sie mit kleinen Budgets auskommen müssen. Zudem wurden Familienplanungsstellen geschlossen und Gerichtsverfahren ausgesetzt. Die Polizei konzentrierte sich überall in der Region weitgehend auf die Durchsetzung des Lockdowns.
Hend, eine Betroffene aus Marokko (die nur ihren Vornamen nennt), berichtet, Frauenhäuser hätten “aus Angst vor dem Virus Frauen die Aufnahme verweigert”.
Die Leiterin von ABAAD, einer gemeinnützigen Organisation, die Frauenhäuser im Libanon betreibt und als Ressourcenzentrum für die Gleichberechtigung der Geschlechter tätig ist, sagt:
With the cases that are turning up at the shelters right now, we’re seeing a violence more severe than before the financial crisis and even during the revolution. There are more death threats.
An den Fällen der Frauen, die jetzt in die Frauenhäuser kommen, beobachten wir schwerere Formen der Gewalt als vor der Finanzkrise und sogar als während der Revolution. Die Zahl der Todesdrohungen hat sich erhöht.
Auch Berichte über Ermordungen gibt es; nach Angaben des libanesischen Militärs hat ein Mann in der Bekaa-Ebene am 17. April seine Mutter und seine Schwester erschossen.
Eine Pandemie, über die nicht berichtet wird
Selbst angesichts solch besorgniserregender Berichte über die Zunahme häuslicher Gewalt ist das wahre Ausmaß der Gewalt wahrscheinlich noch weit aus größer und unentdeckt.
Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Gewalt gegen Frauen die am weitesten verbreitete und zugleich am seltensten angezeigte Form der Verletzung der Menschenrechte. Angst, kulturelle Normen und Stigmatisierung gehören zu den Hindernissen, die Frauen davon abhalten, die Taten anzuzeigen.
Eine von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) vor Kurzem durchgeführte Studie ergab, dass 75 % der Frauen im Irak sich nicht wohl dabei fühlen, Gewalt bei der Polizei anzuzeigen – aus Angst vor weiteren Misshandlungen und kultureller Stigmatisierung.
Der Mangel an juristischem Schutz vor häuslicher Gewalt und an Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen hindert die Frauen daran, sich offen zu äußern.
Im Irak etwa darf der Ehemann seine Frau “bestrafen” und Eltern ist es erlaubt, ihre Kinder “in gesetzlich und gewohnheitsrechtlich festgelegtem Rahmen” zu disziplinieren. In Kuwait gibt es überhaupt keine Gesetze, die häusliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen unter Strafe stellen.
Frauenrechte kommen in der vornehmlich männlichen Reaktion auf COVID-19 nicht vor
Es ist zwar bekannt, dass häusliche Gewalt in Ausnahmesituationen zunimmt, insbesondere wenn Eheleute längere Zeit unter einem Dach verbringen, trotzdem verhängten die Regierungen den Lockdown planlos und ohne ausreichende Bestimmungen, um der geschlechtsbezogenen Gewalt zu begegnen, die aus der Einsperrung entsteht. Frauenrechte kamen in der Reaktion auf die Krise schlichtweg nicht vor.
Suad Abu-Dayyeh von der Organisation Equality Now (etwa: Gleichberechtigung Jetzt) kommt zu dem Schluss, dass die Regierungen “den Aspekt der Gewalt gegen Frauen in der Zeit des Coronavirus komplett ausgeblendet haben.” Die fehlende Vorbereitung und die zu späte Befassung mit der Gewalt bedeuten einen irreparablen Schaden, der hätte verhindert werden können.
Die Reaktion auf die Pandemie in der Region wurde als “Kriegsanstrengung” formuliert – so wird erneut eine patriarchale Dynamik wiedergegeben.
Frauen wurden als Beschäftigte im Bereich der Gesundheits- und Krankenpflege beim Kampf gegen die Pandemie besonders beansprucht, da sie laut Weltgesundheitsorganisation 70 % des Personals in diesem Sektor stellen. Zudem verrichten sie den Hauptanteil der Pflege- und Betreuungstätigkeiten.
Laut Weltarbeitsorganisation werden 76 % aller unbezahlten Arbeitsstunden in diesem sogenannten “Care-Bereich” von Frauen geleistet – also dreimal so viele wie von Männern.
Frauen haben eine elementare Rolle gespielt und wurden bei den höheren Exekutiventscheidungen dennoch links liegen gelassen. Der Großteil der Entscheidungsträger in der Region sind Männer. Frauen sind nicht nur bei der politischen Reaktion auf die Krise unterrepräsentiert, auch die politische Vertretung der Frauen in der Region liegt auf den niedrigsten Niveaus weltweit.
Die männliche Führungsriege hat die strategische Reaktion auf die Pandemie formuliert – im Hinblick auf Budgets und Planungen. Den Belangen der Frauen wurde dabei keinerlei Priorität eingeräumt. Meist sind es Männer, die die Debatten um COVID-19 führen und als Informationsquellen herangezogen werden. Gleichzeitig reproduzieren die Medien dieses Ungleichgewicht der Kräfte.
Tatsächlich hat diese Pandemie einmal mehr die desolate Situation der Frauenrechte in der Region offenbart und zugleich zu einer Eskalation der lautlosen, aber tödlichen Pandemie der häuslichen Gewalt geführt.