Yasin Al Haj Saleh ist umgeben von Freunden, die seinen Rat suchen, wenn sie sich müde und ausgelaugt fühlen. Warum auch nicht? Schließlich hat er alle Etappen des syrischen Bürgerkriegs miterlebt und wartet mit einer gewaltigen Portion Hoffnung noch immer auf dessen Ende. Eine Hoffnung, die so groß ist, dass man sich seiner eigenen Schwäche schämen muss.
Unsere Freundschaft—ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich es Freundschaft nennen kann, da er für mich und Gleichgesinnte eher wie ein Patenonkel ist—begann, als ich ihm zu Beginn der syrischen Revolution jedes Mal schrieb, wenn ich zu einer Konferenz oder einem öffentlichen Vortrag eingeladen wurde. Ich kannte mich nicht einmal mit den Grundregeln der Öffentlichkeitsarbeit aus und fragte ihn daher bei jeder Kleinigkeit um Rat. Fast immer hörte ich auf seine Meinung und nahm seine Ratschläge an. Ich schickte ihm meine Artikel, die wie die eines Grundschülers voller Rechtschreibfehler waren. Doch trotz seiner hohen Bildung las er jeden einzelnen meiner Beiträge sorgfältig durch und ermutigte mich wie ein Vater. Er schenkte uns die väterliche Fürsoge, nach der wir uns als jugendliche Rebellen so sehr sehnten.
Yasin hat uns gelehrt, die Hoffnung niemals aufzugeben. Dieser Artikel soll weder eine Lobpreisung seiner Werke noch seiner Persönlichkeit sein. Ich möchte den Menschen da draußen lediglich aufzeigen, was uns an ihm inspiriert. Ich möchte versuchen, den Lesern seine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die trotz all dem Leid eine eindringliche und überwältigende Botschaft hat: Wenn selbst Yasin noch hoffen und lachen kann, was ist dann unsere Entschuldigung?
Yasin wurde im Alter von 19 Jahren verhaftet und muste 16 Jahre im Gefängnis verbringen. Er zählt zu Syriens bedeutendsten Dissidenten und ist einer der ersten Autoren, die über die syrische Revolution geschrieben haben. Ihm eigen ist eine gewisse gesellschaftliche Ungeschicklichkeit, die er in all den Jahren im Gefängnis entwickelt hat. Wenn man ihn damit konfrontiert, dann lacht er bloß und meint: „Sameera. Soziale Beziehungen waren ihre Stärke. Sie war diejenige von uns beiden, die die Leute um sich scharrte.“
Wahrscheinlich geht es in dem Artikel genau darum: Um Yasins Liebe zu seiner Frau Sameera, die zusammen mit ihren Kollegen Razan, Wael und Nadhem in Ghouta, bei Damaskus, von der Islamischen Armee unter der Leitung von Zahran Alloush entführt wurde und deren Verbleib seither ungewiss ist.
Immer wenn wir Yasin in seinem Mietshaus besuchten, erzählte er uns voller Stolz die Liebesgeschichte von einer Freundin und ihrem griechischen und körperlich behinderten Ehemann. Nichts hat sich in seinem Haus verändert, bis auf die Büchersammlung auf Arabisch und einem Foto von Sameera in Sepiafarben, auf das er von seinem Arbeitsplatz aus direkt blicken kann. In seinen Gesprächen, Werken und Alltag ist sie immer allgegenwärtig. Er hat versucht, ihre Abwesenheit in die Gedanken der Syrer einzubrennen. Wir denken jedes Jahr an ihren Geburtstag. Uns bedrücken seine Schuldgefühle, die er angesichts ihrer Entführung hat. Und unsere Unfähigkeit, etwas an der Situation zu ändern, erschlägt uns. Haben wir Syrer ihn etwa schon wieder im Stich gelassen?
Wir sehen Sameera in seiner Wut und seiner Sehnsucht. Wir sehen sie, wenn er auf sein Recht beharrt, bei uns zu sein. Wir sehen sie in seiner väterlichen Fürsorge für uns. Jedes Mal, wenn ich den Schmerz in seinen Augen sehe, wird mir bewusst, dass Sameeras Abwesenheit mit dem Verlust meiner Mutter während der syrischen Revolution vergleichbar ist. Wenn Sameera morgen zurückkehrt — keiner von uns wagt es je zu glauben, dass sie nicht mehr zurückkommt — dann wird sie überwältigt sein von der Zahl der Syrer, die ihre Gegenwart verspüren, auch wenn sie niemand von ihnen kennt.
Trotz des schmerzlichen Gedankens an die Entführung seiner Frau und die Verhaftung seines Bruders durch den IS, trotz seines Lebens im Exil und seiner Erinnerungen an die Zeit im Gefängnis predigt Yasin Moral und Hoffnung und lehrt uns, dass die Entführer zwar unsere Lebensrichtung ändern können, nicht aber, wie wir in unserem Herzen leben.
Seine Liebe zu Sameera wird sich weder durch ihr Verschwinden noch durch seine Schuldgefühle ändern. Sie wird auch nicht von der Unverfrorenheit der Entführer beeinflusst werden. Seine Liebe zu ihr wird nicht von Anschuldigungen oder Gerüchten überschattet. Seine Liebe zu ihr zwingt uns Syrer, bis zur Schmerzensgrenze zu gehen und den beiden ein glückliches Ende zu wünschen.
Lasst uns unsere Augen schließen und für Sameera, Razan, Wael und Nadhem beten. Dafür, dass sie bald nach Hause kommen und wieder für die Rechte der Gefangenen und ausgegrenzten Frauen kämpfen, so wie sie es immer getan haben. Und dafür, dass sie mit all diesen Menschen gemeinsam eine Bewegung ins Leben rufen, die sich für die Gerechtigkeit aller Opfer des erzwungenen Verschwindes einsetzt.
Die ehemals politisch Gefangene Sameera Al-Khalil, die Anwältin und Menschenrechtsverfechterin Razan Zaitouneh, ihr Ehemann, Ingenieur und Aktivist Wael Hamadeh sowie der Anwalt und Dichter Nazem Al Hamadi sind seit Dezember 2013 verschwunden. Zusammen sind sie als Douma Four bekannt. Dieser Blog widmet sich ihrem Fall.