Der syrisch-palästinensische Webentwickler Bassel Khartabil, auch bekannt als Bassel Safadi, wird seit über einem Jahr vermisst. Aber er ist nicht vergessen. Mehr als fünf Jahre nachdem er vom syrischen Regime verhaftet wurde, setzen seine Unterstützer und Angehörigen die Kampagne für seine Freiheit fort und erinnern an die Beiträge, die er für ein offenes Netz geleistet hat.
Bei der diesjährigen re:publica, der jährlich stattfindenden Konferenz zur digitalen Kultur, die in Berlin ausgerichtet wird, widmete sich eine Veranstaltung der #FreeBassel-Kampagne.
Mélanie Dulong de Rosnay, eine Wissenschaftlerin des in Frankreich ansässigen CNRS Institute for Communication Sciences, und Barbara Rühling, Geschäftsführerin bei Book Sprints, einem Verlag der durch sogenannte ‘Book Sprints’ fertige Bücher innerhalb von drei bis fünf Tagen produziert, lasen Auszüge aus dem Buch Cost of Freedom: A Collective Inquiry (Die Kosten der Freiheit: Eine kollektive Nachforschung).
Das Buch, das im letzten Jahr veröffentlicht wurde und hier lizenzfrei erhältlich ist, enthält eine Reihe von Aufsätzen, die sich mit der freien Kultur im Angesicht der Unterdrückung beschäftigen. Es ist eine Hommage an Bassel und sein Werk. In der Einleitung heißt es:
This book wants to discuss how free knowledge movements are built and the real costs attached to them. Activists, artists, designers, developers, researchers, and writers involved with free knowledge movements have worked together to see further than the fog of our news feeds and produce some sense from our different experiences. This book is born in an attempt to free Bassel Khartabil, loved and celebrated Internet volunteer detained in Syria since 15 March 2012. His name has been deleted from the Adra Prison’s register where he was detained, on 3 October 2015. We have not received any information about his current status or whereabouts since. The introductory part of this book called Collective Memory gives voice to his friends and family that have been urging for his release and want him back in his normal life and freedom, immediately. Seeing Bassel paying a high price for his participation in free culture, many of us have started to reflect on our own fates, actions, and choices. Why are we here today? What have we chosen? What have we given up in this process of sometimes extreme belief?
Dieses Buch möchte erörtern, wie Bewegungen für Freies Wissen aufgebaut werden und was die wahren Kosten sind, mit denen dies verbunden ist. Aktivisten, Künstler, Designer, Entwickler, Forscher und Autoren, die an den Bewegungen für Freies Wissen beteiligt sind, haben Seite an Seite gearbeitet, um über den Nebel hinauszuschauen, der unsere Newsfeeds umgibt und um etwas Sinn aus unseren verschiedenen Erfahrungen zu schaffen. Dieses Buch ist ein Versuch, Bassel Khartabil zu befreien, den geliebten und gefeierten Internet-Freiwilligen, der seit dem 15. März 2012 in Syrien inhaftiert ist. Sein Name wurde aus dem Verzeichnis des Adra-Gefängnisses gestrichen, in dem er am 3. Oktober 2015 einsaß. Wir haben seither keinerlei Informationen über seinen derzeitigen Zustand oder Aufenthaltsort. Der einleitende Teil seines Buchs mit dem Titel Kollektive Erinnerung gibt seinen Freunden und seiner Familie eine Stimme, die auf seine Freilassung drängen und die ihn zurück in seinem normalen Leben und in Freiheit wissen wollen, und zwar sofort. Zu sehen, wie Bassel einen hohen Preis für seine Beteiligung an einer freien Kultur zahlt, hat viele von uns beginnen lassen, über ihre eigenen Schicksale, Taten und Entscheidungen nachzudenken. Warum sind wir heute hier? Wofür haben wir uns entschieden? Was haben wir in diesem Prozess von zeitweise extremen Überzeugungen aufgegeben?
Der Webentwickler für Open Source und digitale Aktivist ist seit März 2012 in der Haft syrischer Regierungsbehörden. Im Oktober 2015 wurde Bassel aus dem Adra-Gefängnis, einer nicht-militärischen Einrichtung, an einen unbekannten Ort überstellt. Seine Frau, die Schriftstellerin und Anwältin Noura Ghazi, berichtete, dass die „Militärpolizei Bassel auf Grundlage eines als „streng geheim“ gezeichneten Befehls des Militärgerichts aus seiner Zelle in Adra mitgenommen hatten“.
Ghazi berichtete, sie sei am 12. November 2015 von Personen kontaktiert worden, die sich selbst als Insider der Assad-Regierung vorstellten und sie von einem angeblichen Todesurteil gegen ihren Ehemann in Kenntnis setzten. Sein Aufenthaltsort und Zustand bleiben aber weiterhin unbekannt.
Ein Vorreiter der Creative Commons in Syrien und aktiv an Projekten wie Mozilla Firefox und Wikipedia beteiligt, spielte Bassel eine entscheidende Rolle darin, den Zugang zum Internet und zu Wissen für die herum Öffentlichkeit in Syrien auszuweiten.
Barry Threw, ein Designer, Technologe und momentan übergangsweise der Leiter von New Palmyra, einem Projekt, das Bassel gründete, schreibt auf den Seiten 10 und 11 des Buchs:
Perhaps none of Bassel’s cultural prototypes were more prescient than the work he started around 2005, with a group of archaeologists and 3D artists, to virtually reconstruct the ancient ruins of Palmyra. One of the world’s most important archaeological sites, Palmyra stood at the crossroads of several civilizations, with Graeco-Roman architectural styles melding with local traditions and Persian influences. Little could Bassel know that ten years after he began, Daesh fundamentalists would be actively deleting this architecture embodying Syrian, and the world’s, cultural heritage. But his foray into digital archaeology and preservation created a time capsule that will be invaluable to the public, researchers, and artists for years to come. Tragically, Bassel has not yet been able to complete this project.
Vielleicht war keiner von Bassels kulturellen Prototypen vorausschauender als das Werk, das er mit einer Gruppe von Archäologen und 3D-Künstlern um 2005 herum begann, um die antiken Ruinen Palmyras virtuell zu rekonstruieren. Palmyra, einer der wichtigsten archäologischen Stätten der Welt, war das Wegkreuz zahlreicher Zivilisationen und hier verschmelzen griechisch-römische Architekturtypen mit hiesigen Traditionen und persischen Einflüssen. Bassel konnte damals noch nicht wissen, dass zehn Jahre nachdem er mit dieser Arbeit begann, der IS alles daran setzen würde, diese Architektur, die nicht nur das kulturelle Erbe Sysriens sondern der Welt verkörpert, auszulöschen. Dieser Streifzug in die digitale Archäologie und die Erhaltung hat eine Zeitkapsel geschaffen, die für die Öffentlichkeit sowie für Wissenschaftler und Künstler in Zukunft von unschätzbarem Wert sein wird. Tragischerweise konnte Bassel dieses Projekt bisher noch nicht abschließen.
Noura Ghazi hat ebenfalls zu dem Buch beigetragen und schreibt über die Leidenschaft ihres Mannes, sein Wissen mit anderen zu teilen, sogar während seiner Zeit im Gefängnis:
I’ve lived all my life dreaming of Freedom, and Bassel taught me to embrace it. I feel overwhelmed when I mention his name. Bassel taught me to master English, even while he’s been in prison. I’ve learned to read, write, and speak English well. He has always shared his knowledge with everyone who asked, and has also taught many prisoners to read, write, and speak English. Bassel opened the door to technology for me, he taught me to use both computers and smartphones. He taught me the Internet. He also taught other prisoners to use computers theoretically, without having one in their hands.
Ich habe mein gesamtes Leben damit verbracht, von Freiheit zu träumen und Bassel lehrte mich, sie zu umarmen. Ich bin überwältigt, wenn ich seinen Namen nenne. Bassel brachte mir Englisch bei, sogar als er sich schon in Haft befand. Ich habe gelernt, Englisch gut zu lesen, zu schreiben und zu sprechen. Er hat immer sein Wissen mit jedem geteilt, der gefragt hat. Er hat andere Inhaftierte gelehrt, Englisch zu lesen, zu schreiben und zu sprechen. Bassel hat mir das Tor zur Technologie geöffnet. Er lehrte mich, sowohl Computer als auch Smartphones zu gebrauchen. Er brachte mir das Internet bei. Er hat auch anderen Inhaftierten beigebracht, wie sie Computer nutzen, zumindest theoretisch, ohne dass sie tatsächlich einen in ihren Händen hielten.
Ghazi ist zudem die Autorin von Waiting (Warten), einem Prosabuch, das sie in den Jahren 2012 bis 2015 ihrem Mann schrieb, als er sich in Haft befand. Bassel und Noura haben ein Jahr lang gemeinsam an dem Buch gearbeitet. Sie schmuggelte die Texte zu ihm, wenn sie ihn besuchte und er übersetzte sie aus dem Arabischen ins Englische. Das Buch ist lizenzfrei erhältlich.
Hier ein Auszug aus dem Buch von Nora mit dem Titel „Es geschieht“:
It happens on every visit
that I sink into the world of your magical eyes
that I lose consciousness in the moment we embrace,
that I don't care about any of the dangers,
any of the fences, chains and guards
I forget the hustle of the jail
and I penetrate into every detail of your voice and words
that I carry with me with passion,
when your eyes say goodbye
and I leave another piece of my soul with you…
I return quickly to my solitude,
to retrieve all the moments,
and cry your absence and smile.
I convince myself that you will return soon…
Es geschieht bei jedem Besuch,
dass ich in der Welt deiner bezaubernden Augen versinke,
dass ich die Besinnung verliere in dem Moment, in dem wir uns umarmen,
dass mir jede der Gefahren egal ist,
jeder der Zäune, Fesseln und Wächter
Ich vergesse das Gedränge des Gefängnisses
und ich dringe in jedes Detail deiner Stimme und Worte ein
die ich mit Leidenschaft bei mir trage,
wenn deine Augen Lebewohl sagen
und ich ein weiteres Stück meiner Seele bei dir lasse…
Ich kehre rasch zu meiner Einsamkeit zurück,
um all die Momente zurückzuholen,
und über deine Abwesenheit zu weinen und zu lächeln.
Ich überzeuge mich selbst, dass ich bald zurückkehren werde…
Am ersten Jahrestag der Inhaftierung von Bassel schrieb Ghazi:
A year passes, my soul
While
I'm in your cage,
And you are still
In the cage of the monsters
Ein Jahr vergeht, meine Seele
Während
Ich in deinem Käfig bin,
Und du bist immer noch
Im Käfig der Monster
Bassels Geschichte ist nicht einzigartig in Syrien. Seit Beginn der Proteste 2011 gegen das Regime Bashar al-Assads sind laut des Syrian Network for Human Rights (syrisches Netzwerk für Menschenrechte) mehr als 65.000 Menschen verschwunden.
Diejenigen, die verhaftet wurden oder unter Gewaltanwendung durch das Regime verschwanden, wurden gefoltert oder sogar hingerichtet. Bis 2016 sind seit 2011 laut der internationalen Menschenrechtsorganisation Amnesty International mindestens 17.723 Syrer in Haft gestorben. Die Geschichten vieler weiterer Menschen bleiben unbekannt.