Dieser Artikel von Matthew Bell erschien am 10. Januar 2017 auf PRI.org. Im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen PRI und Global Voices wird er nun auch hier veröffentlicht.
Viele Städte im ehemaligen Ostdeutschland haben der Bundesregierung mitgeteilt, dass sie lieber keine Flüchtlinge bei sich aufnehmen würden, die in den letzten Jahren zu hunderten und tausenden nach Deutschland gekommen sind.
Nicht so das Dorf Golzow.
Als ich das Dorf mit 800 Einwohnern, das nur etwa fünf Kilometer von der polnischen Grenze entfernt liegt, besuchte, fand dort gerade das alljährliche Weihnachtskonzert statt. Jeder Platz in der kleinen evangelischen Kirche im Zentrum des Ortes war besetzt.
Für zwei Menschen im Publikum war dies eine ganz neue Erfahrung. Ahmad und Rasha Haimoud sind verheiratet und haben vier Kinder. Sie sind Muslime und stammen ursprünglich aus dem Nordwesten Syriens. So ist es nicht weiter überraschend, dass sie noch nie zuvor in einer Kirche gewesen sind.
Die Haimouds zogen im Februar 2016 nach Golzow. So war dies das erste Weihnachtsfest, das sie in ihrer neuen Heimat feierten. Nach einem Weihnachtsbaum gefragt, antworteten sie, dass sie keinen zu Hause haben, aber vorhätten, Geschenke für die Kinder zu besorgen.
Nach dem Konzert mischten sich Ahmad und Rasha unter ihre Nachbarn. Es gab einen unangenehmen Moment, als Rasha klar wurde, dass die meisten Snacks Schweinfleisch enthielten. Sie erzählten mir, dass sie zweimal pro Woche die zweistündige Fahrt nach Berlin auf sich nehmen, um halal geschlachtetes Fleisch und andere Lebensmittel, an die sie gewöhnt sind, einzukaufen.
Sie haben sich gut eingelebt. Sie nehmen beide an einem Deutschkurs teil. Rasha hofft, dass sie wieder zurück an die Universität kann und Ahmad plant, als Fliesenleger zu arbeiten. Sie erzählen, sie hätten alles in allem sehr viel Glück gehabt.
„Wir sind Deutschland sehr dankbar“, sagt Ahmad auf Arabisch und Rasha übersetzt ins Deutsche. „Wir kamen hierher, um unseren Kindern eine Zukunft zu bieten“, fügt sie hinzu.
Wie sich herausstellt, ist auch Golzow dankbar.
Die Haimouds sind eine von drei syrischen Familien, die im letzten Jahr in dieses Dorf gezogen sind. Sie haben viele Kinder und so tragen die Flüchtlinge dazu bei, den Ort zu retten, der dieses kleine Dorf so berühmt gemacht hat.
Wenn man den Namen Golzow hört, denken Menschen überall in Deutschland sofort an die Grundschule im Ort, die durch eine Fernsehsendung bekannt wurde.
1961 begann ein Filmteam aus der ehemaligen DDR, eine Gruppe von Erstklässlern zu begleiten. Die Dokumentation wurde über Jahrzehnte hinweg im Fernsehen gezeigt, bis 2007. Dabei wurde immer dieselbe Gruppe Kinder von ihrer Grundschulzeit in Golzow bis ins Erwachsenenleben begleitet.
Aber auch diese Bekanntheit konnte die Schule nicht vor der harten Realität bewahren. Viele Regionen in der ehemaligen DDR sind vom Niedergang der Wirtschaft betroffen. Die Einwohnerzahl von Golzow sank sogar so weit, dass die einzige Grundschule im Ort auszusterben drohte.
„Das Problem begann nach dem Mauerfall“, erklärt Gaby Thomas, die Schulleiterin Grundschule, an der sie auch Englisch unterrichtet.
„Der Landwirtschaftsbetrieb LPG wurde geschlossen und die Menschen verloren ihre Arbeitsplätze. Die jüngeren Einwohner zogen in die Städte und plötzlich standen immer mehr Häuser leer“, erklärt Thomas.
Im letzten Jahr waren gerade so genung Kinder angemeldet, um eine erste Klasse aufzumachen.
Thomas erzählt, dass für Bürgermeister Frank Schütz und sie ganz klar war, was zu tun war: Flüchtlingsfamilien mit Kindern im Schulalter finden, die nach Golzow ziehen würden.
Die Weihnachtsferien stehen kurz bevor, als ich die Schüler der vierten Klasse beim Englischunterricht mit Frau Thomas besuche. Die Stimmung in dem vollen Klassenzimmer war lebhaft. Dies ist zum Teil zwei Mädchen aus Syrien zu verdanken.
Thomas erzählt, dass ihre beiden syrischen Schülerinnen gut in der Schule sind. Sie sind noch nicht einmal ein Jahr hier, sprechen aber schon ausgezeichnet deutsch.
Mit Hilfe der insgesamt acht Kinder aus Syrien kamen genug Anmeldungen für die Schule zusammen und die erforderliche Klassenstärke konnte eingehalten werden. Angesichts der von den Behörden angedrohten Schließung der Schule war dies ganz besonders wichtig.
Die syrischen Familien wohnen nun in Häusern, die bis vor Kurzem noch leer standen. Aktuell müssen sie dafür keine Miete zahlen. Anfangs waren einige Einwohner dagegen, muslimische Flüchtlinge aufzunehmen, erzählt Bürgermeister Schütz.
Mittlerweile haben sie aber ihre Meinung geändert.
„Wir haben den Flüchtlingen ein neues Zuhause gegeben“, sagt Schütz. „Aber sie haben unsere Schule gerettet und haben das Lachen von Kindern in unser Dorf zurückgebracht. Deshalb haben sie uns eigentlich mehr gegeben als wir ihnen.“
Dieser Artikel entstand unter Mitarbeit von Frank Hessenland.