Historischer Rückgang der Mordrate in El Salvador führt zu heftigen Diskussionen im Land

Screenshot aus einem Bericht des Nachrichtensenders Al Jazeera vom 6. September 2020 auf YouTube.

Nach 15 Monaten im Amt sieht es so aus, als halte Präsident Nayib Bukele – ein 37 Jahre alter Politiker, der dem traditionellen Zwei-Parteien-System ein Ende setzte – sein Wahlversprechen ein, das Erbe der Gewalt und der Morde in El Salvador zu verringern. Seit seinem Amtsantritt weist El Salvador die niedrigste Mordrate seit 2015 auf, das als das tödlichste Jahr in der jüngeren Vergangenheit des Landes gilt. Dennoch sind Hypothesen und Analysen, wie es zu diesem Rückgang der Zahlen gekommen ist, Gegenstand vieler Diskussionen im Land.

Präsident Bukele schreibt diesen Erfolg seinem „Plan zur territorialen Kontrolle“ zu. Einige Analyst*innen, Journalist*innen und Mitglieder der politischen Opposition glauben jedoch, dass Bukele einen geheimen Waffenstillstand mit den Banden geschlossen hat, um die Mordrate zu senken und bei den nächsten Parlamentswahlen im Februar 2021 Wählerstimmen zu gewinnen, wie die Online-Nachrichtenseite El Faro berichtet.

Bukeles Plan zur territorialen Kontrolle besteht aus sieben Phasen, die während seiner Amtszeit umgesetzt werden. In den ersten drei Phasen soll die Präsenz der Sicherheitskräfte auf den Straßen erhöht und die Ausrüstung der Polizeikräfte modernisiert werden. Außerdem sind Präventionsmaßnahmen für gefährdete Jugendliche geplant. Laut Schätzungen belaufen sich die Kosten für die ersten drei Phasen des Sicherheitsplans auf etwa 575 Millionen US-Dollar [etwa 474 Millionen Euro]. Aktuell sind erst Phase eins und Teile von Phase zwei umgesetzt worden. Aufgrund fehlender finanzieller Mittel verzögert sich die Umsetzung von Phase drei.

Phase eins des Sicherheitsplans zielt darauf ab, die Kontrolle über die von Banden kontrollierten Gebiete „zurückzugewinnen“. Dazu entsandte die Regierung ein großes Aufgebot an Soldat*innen, das der Nationalen Zivilpolizei bei der Gewährleistung der Sicherheit helfen sollte, verlegte hochrangige Bandenmitglieder in unterschiedliche Gefängnisse und Mitglieder rivalisierender Banden in gemeinsame Gefängniszellen und entfernte alle Telefongeräte aus den Gefängnissen.

Behördenmitarbeiter*innen der @CentrosPenales verlegten mehrere hochgefährliche Insassen in Gefängnisse mit höherer Sicherheit, um sie daran zu hindern, weitere Verbrechen zu befehlen. Diese Aktion ist Teil des #PlanControlTerritorial, der durch die Regierung umgesetzt wird, berichtet @SeguridadSV_.

Sofía Martinez, Fachberaterin für Sicherheit in Zentralamerika, stellte die Taktik von Präsident Bukele in Frage, die bereits von vorherigen Präsidenten von 2003 bis 2018 angewandt worden war. Keine der Maßnahmen hatte in der Vergangenheit zu positiven Ergebnissen geführt.

Die investigative Online-Nachrichtenseite El Faro berichtete am 03. September, die Regierung Bukele habe geheime Verhandlungen mit der größten Bande El Salvadors, der MS-13, geführt, um die Mordrate zu senken und Unterstützung bei den Wahlen zu erhalten. MS-13 ist die wahrscheinlich berüchtigtste und wohl auch die gewalttätigste Straßenbande in Amerika. Diese Bande ist in allen 14 Provinzen El Salvadors sowohl in ländlichen Gebieten als auch in Städten fest etabliert.

El Faro erklärte, sie hätten hunderte Seiten wie beispielsweise Berichte und Logbücher aus Hochsicherheitsgefängnissen als Beweismaterial. El Faro schrieb:

The documents reveal negotiations between the Salvadoran administration and incarcerated leaders of MS-13 dating back to June of 2019, when President Bukele took office.

Die Dokumente enthüllen Verhandlungen zwischen der Regierung El Salvadors und inhaftierten Anführern der MS-13, die bis Juni 2019 zurückreichen, als Präsident Bukele sein Amt antrat.

El Faro erklärte, dass die MS-13 im Gegenzug für die Senkung der Mordrate und Unterstützung bei den bevorstehenden Wahlen kleine Gefängnisprivilegien erhalten würde, wie z. B. Brathähnchen, Pizza, Süßigkeiten und Pupusas, das Nationalgericht El Salvadors, und die Entfernung aggressiver Gefängniswärter in ihren Zellenblöcken. Es stünden auch größere Vergünstigungen im Raum wie die Rücknahme der Entscheidung, Mitglieder rivalisierender Banden in gemeinsamen Gefängniszellen unterzubringen und „sogar das Versprechen, die maximalen Sicherheitsvorkehrungen aufzuweichen, Gesetze aufzuheben und Bandenmitgliedern ‚Vorteile‘ zu gewähren, falls die Regierung nach den Wahlen im Februar 2021 die Kontrolle über die Legislativversammlung übernehmen sollte“, so El Faro.

Die Bukele-Regierung reagierte umgehend auf die von El Faro erhobenen Vorwürfe, indem sie deren Behauptungen auf Twitter ins Lächerliche zog. Der stellvertretende Justizminister und Generaldirektor der Strafvollzugsanstalten Osiris Luna nahm Reporter in alle drei Gefängnisse mit, die im Bericht von El Faro genannt worden waren, um zu zeigen, dass es keinerlei Vorteile für die Insassen gibt und dass Mitglieder rivalisierender Banden in gemeinsamen Gefängniszellen untergebracht sind.

Der Bericht von El Faro ist nicht der erste, in dem über einen angeblichen Waffenstillstand zwischen der Regierung und den Banden berichtet wurde. Die Nichtregierungsorganisation International Crisis Group (etwa: Internationale Krisengruppe) ging am 08. Juli im einem Artikel der Frage nach, ob der Rückgang der Gewalt „ein Wunder oder ein Trugbild“ ist.

Die gemeinnützige Ermittlungs- und Journalistenorganisation InSightCrime (etwa: Kriminaleinsicht) veröffentlichte am 01. Oktober eine Untersuchung zu Bukele und Banden, die in Bukeles Zeit als Bürgermeister von San Salvador zurückreicht und deren Schwerpunkt auf der Sanierung des historischen Viertels von San Salvador liegt. InSightCrime berichtet, die Sanierung des Viertels kam durch Bukele aufgrund von Geheimverhandlungen mit den Banden vor Ort zustande.

Präsident Bukele hat El Faro und andere Medien immer wieder wegen Berichten über seine Regierung kritisiert und verspottet. Die Kritik an El Faro und anderen Medien löst bei Journalist*innen und internationalen Beobachter*innen Sorge über die Pressefreiheit in El Salvador aus. So forderten lateinamerikanische Journalist*innen die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) auf, auf die Angriffe des Präsidenten in El Salvador im Zusammenhang mit der Verleumdung von El Faro zu reagieren.

Präsident Bukele wies alle Vorwürfe, er greife die Presse an, zurück:

“Algunos periodistas dicen que este gobierno ataca a la prensa; nosotros estamos comprometidos con la libertad de expresión, pero algunos pasan publicando una sarta de mentiras y lo que nosotros hacemos es desmentirlos. Eso no es violar la libertad.”

Presidente Nayib Bukele.

„Einige Journalisten sagen, dass diese Regierung die Presse angreife. Wir bekennen uns zu Meinungsfreiheit, aber einige veröffentlichen Lügen und wir tun nichts anderes, als diesen zu widersprechen. Dies ist keine Verletzung der Freiheit.“

Präsident Nayib Bukele.

2012 wurde schon einmal ein geheimer Waffenstillstand zwischen der Regierung von Ex-Präsident Mauricio Funes und den beiden größten Banden, der MS-13 und der 18th Street Gang, geschlossen, um die Mordrate zu senken. Daraufhin gingen die Morde in den Jahren 2012 und 2013 zurück. Als der Waffenstillstand jedoch endete, schnellte die Zahl der Morde auf die berüchtigte Rate von 18,2 Morden pro Tag im Jahr 2015 in die Höhe.

Der salvadoranische Journalist Oscar Martinez befürchtet, dass sich dies wiederhole, wenn es heute wieder einen geheimen Waffenstillstand zwischen der Regierung und den Banden gebe. Er ruft den Präsidenten auf, offen mit den Banden zu verhandeln, um den Frieden in der Gesellschaft wiederherzustellen. Damit gehört Martinez aber wahrscheinlich zu einer Minderheit, denn die große Mehrheit der Bevölkerung ist laut Umfragen aus dem Jahr 2014 gegen Verhandlungen mit Banden, sei es im Geheimen oder öffentlich. Die Befragten gaben an, dass Verhandlungen rücksichtslosen kriminellen Organisationen Legitimität verleihen würden.

Kurz nach der Veröffentlichtung des Berichts von El Faro leitete der salvadorianische Generalstaatsanwalt Raul Melara eine Untersuchung zu den angeblichen Geheimverhandlungen ein.

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