Schlaf oder Tod, Teil 5: Diese Farce, die sich Vaterland nennt

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BILD: Public Domain, von Pixabay

Dies ist der fünfte Bericht in der sechsteiligen Reihe „Schlaf oder Tod“, in der der Aktivist Sarmad Al Jilane von seinen Erlebnissen in einem syrischen Gefängnis erzählt. Hier sind die Teile eins, zwei, drei und vier zu lesen.

Wir werden nach Homs in al-Balony versetzt und kommen schließlich in einem großflächigen, mit Kanonen übersäten Hof an. Ich habe noch nie so viel Artillerie auf einem Haufen gesehen. Wie üblich werden wir ohne Schuhe oder sonstige Kleidungsstücke ins Gebäude geführt. Dort ziehen wir uns zunächst an und werden dann auf die einzelnen Zellen verteilt. Mehr als 400 Menschen passen hier in eine einzige Zelle; sie sind größer als alle anderen Gefängniszellen, die mir bisher untergekommen sind.

Hinten gibt es drei Badezimmer; dort haben die Verbrecher ihr Revier markiert. Wenn die eigene Zelle mit Befürwortern des Regimes gefüllt ist, fühlt man sich umso mehr ausgeliefert. Diebe, Plünderer und Vergewaltiger, die ihre Freilassung abwarten und laut über die „Handvoll Hunde“ schimpfen, die „die Regierung durch eine Protestwelle stürzen wollen“ und in ihre „sicheren“ Zellen eingedrungen sind. Es ist schwer, sich an die konstanten Schüsse der Artillerie zu gewöhnen, auch wenn sie manchmal nur ein paar Minuten lang anhalten. Uns wurde gesagt, die Kanonen seien auf Baba Amr gerichtet. Die Zeit bleibt komplett stehen.

Unsere nächste Versetzung findet genau einen Tag später statt. Ich grübele immer wieder darüber, warum mir diese Begrüßungs- und Abschiedszeremonien wie Rituale vorkommen, die uns dem Anführer immer näher bringen sollen. Sie ähneln religiösen Handlungen und werden so sehr überspitzt wie nur irgend möglich.

Wir kommen in Damaskus an, oder genauer gesagt, in der Kaserne der Militärpolizei in al-Kabun. Sie verteilen uns quer über einen engen Flur und fangen an, uns den Zellen zuzuordnen, die sich direkt unter den Treppen befinden. Ich höre jemanden „235“ sagen; ich habe keine Ahnung, wo das sein soll; ich weiß nur, dass damit die Zelle Nummer 235 gemeint ist. Wir werden auf die acht Sitze im hinteren Teil eines Gefährts verteilt. Von denjenigen, die mit mir dort hinten sitzen, kenne ich nur den jungen Mann aus ar-Raqqa, den ich bei der Militärpolizei in Aleppo kennengelernt habe.

Wir kommen in „Palästina“ an, dem Bereich, dessen Bewohner als „professionelle Auftragskiller“ berüchtigt sind. Wir treten ein, ohne auf Anweisungen warten zu müssen, die kennen wir inzwischen auswendig: Besitztümer in die Tüten, bis auf die Haut ausziehen, zwei Sicherheitskontrollen und dann werden wir unseren Zellen zugeteilt.

Einige Tage vergehen. Überraschenderweise zählen diese nicht zu den schlimmsten, sondern beinahe zu den besten. Sobald man sich an ein gewisses Maß an Folter gewöhnt hat, passt sich auch die eigene Resilienz daran an; wird dieses Maß nicht erreicht, kommt es einem fast wie Gnade vor. Ich werde verhört, gefragt, ob ich mein Geständnis in irgendeiner Form ändern möchte, und schon heißt es wieder zurück in die Zelle.

Am nächsten Tag werden wir erneut versetzt, um auf die gleiche Weise vernommen zu werden. In einer Kolonne der Militärpolizei von Mezze legen wir eine mehrstündige Rast ein – um etwas „Gesellschaft“ zu bekommen, wie der uns zugeteilte Wächter sagt. Wir befänden uns auf dem Weg zu unserem Bestimmungsort, betonen sie immer wieder in ihren Gesprächen, damit wir es auch ja nicht überhören. Wir betreten einen immensen Hof, auf den ich gerade noch so einen Blick werfen kann, bevor sie mir auf der höchsten Stufe einer nach unten führenden Treppe die Maske entfernen. Wir erreichen einen großen Saal; wir sind mehr als hundert.

Sobald alle angekommen sind, ziehen sie sich aus. Die Kleider werden von den Wächtern durchsucht und wir unseren Zellen zugeteilt. Meine Nummer lautet 124/1. Wir betreten zunächst eine etwas kleinere Eingangshalle und danach ein „One-Wood“, wie es einer von uns nennt. Wir müssen uns zu sechsundachtzigst ein kleines Zimmer teilen. Von der Decke baumeln zwei Glühbirnen, die von Metallstangen umschlossen sind. Sogar das Licht ist in diesem Land eingesperrt.

Uday, Bilal und Mudar, drei gute Bekannte vom Land rund um Deir ez-Zor, haben mir einen Platz neben sich reserviert. „Du hast Glück, heute wurden einige Männer woanders hingebracht. Vorher hatten wir uns Schichten fürs Stehen und Sitzen zugeteilt. Gerade schlafen wir, indem wir uns hinknien und uns aneinander anlehnen.“ Bilal, der einzige, der etwa in meinem Alter ist, versucht, meinen Schock ein wenig zu lindern.

Es ist Freitag, das erkenne ich an den Orangen, die sich jeweils fünf Gefangene teilen müssen, und an den Teelöffeln Marmelade, die es zu Mittag gibt. „Hier gibt es Oliven für jeden und ein Laib Brot für jeweils vier von uns. An manchen Tagen bekommen wir sogar Kartoffeln oder Tomaten, je nach dem, wie die Lage gerade aussieht. Sie verwöhnen uns dieser Tage. Ich weiß, so etwas isst du nicht. Das macht nichts – wenn es Brot und Marmelade gibt, kriegst du es und wir schauen, wie wir zurechtkommen.“ Mit diesen Worten klärt mich Mudar, der Älteste von uns allen, ein wenig über die Nahrungssituation auf.

Tagelang passiert nichts. Morgens stehen wir auf, um gezählt zu werden. Da sich das Bad direkt links neben der Zelle befindet, dürfen wir es zweimal am Tag betreten, jedoch nie länger als etwa zehn Sekunden am Stück. Bei dieser Gelegenheit füllen wir eine Fünfliterflasche mit Wasser, die uns zur Verfügung steht; das müsste uns für einen Tag reichen. Es gibt auch Tröge, in denen wir unsere Notdurft verrichten können – vor allem die Älteren unter uns, die es nicht so lange aushalten. Oft gibt es zweimal am Tag Essen, manchmal allerdings auch nur einmal. Aber auch wenn wir alles Essen zusammentragen, das wir bekommen, reicht es immer noch nicht für eine gewöhnliche Mahlzeit.

„Na gut, bei dir wäre eigentlich schon längst eine Diät fällig, jetzt wird sie dir eben nur zwangsverordnet. Dir gefällt dein dicker Bauch nicht; ich hingegen mag, wie ich aussehe. Wir passen perfekt zusammen“, versucht Uday, mich wie Mudar und Bilal aufzuheitern.

Dann beginnen die Anweisungen: Man muss sich ausziehen und die Kleider umdrehen, weil die Läuse im Inneren umherkrabbeln, genau dort, wo die Naht ist. Auch die Socken müssen über die Hosenbeine gestülpt werden, damit die Läuse dort nicht eindringen können. „Meine Großmutter sagte immer, nach Läusen zu suchen ist was für diejenigen, die sonst nichts zu tun haben. Und jetzt schau uns an. Auch wenn du dich ekelst, versuch dich nicht zu kratzen. Am besten machst du es wie wir und gewöhnst dich dran.“ Mudar fischt nach den Läusen in seinem Hemd, als wäre es das Normalste auf der Welt.

Mein erstes Verhör verlasse ich mit verhülltem Kopf und hinter dem Rücken gefesselten Händen. Während ich so im Hof stehe, höre ich Schreie, Jammern, die Verhörer, Peitschenhiebe und das Knistern von Strom. Es handelt sich zwar um unterschiedliche Geräusche, sie alle weisen aber auf dieselbe Tatsache hin. Mein Verhörer kommt näher. „Ich werde dich nicht schlagen, solange du nur die Beine breit machst und deinen Kopf auf den Boden legst.“ Nur diese letzten Worte kommen bei mir an. Die Zeit vergeht, eine Stunde, zwei Stunden … ich versuche durchzuhalten, auch wenn ich mehrmals kurz vor dem Zusammenbruch stehe. Ich schaffe es nicht, falle zu Boden. Die Schläge und Tritte halten einige Minuten lang an. Ich werde gezwungen, aufzustehen, woraufhin das Spiel wieder von vorne losgeht und bis zum Morgengrauen andauert. Fragen werden keine gestellt. Am Ende werde ich zu meiner Zelle zurückgebracht.

Das Gleiche passiert am nächsten Tag noch mal, und wir widmen uns wieder unserer Routine der Läusesuche.

Es vergehen mehrere Tage. „Nummer 124/1, zum Verhör.“ Mein Kopf wird bedeckt, meine Hände gefesselt, und dann werde ich zu einem Raum gebracht. Dort wird mir der Kopf wieder freigelegt. Der Raum ist sechs Quadratmeter groß und steht vollkommen leer. Dann kommt ein Junge herein – er ist blond und etwas kleiner als ich, wohl etwa ein Meter vierundachtzig. „Los, ausziehen.“ Er trägt keinen Stab mit sich. Ich lege meine Kleider ab. Er zieht zwei Stühle heran. „Setz dich. Was weißt du über Terroristen, Waffen und die Organisation und Aufzeichnung von Protesten? Stell dir vor, ich hätte das Dossier mit deinen Aussagen nicht bei mir, und zähl all das auf, was du in den Monaten vor deiner Ankunft hier getan hast.“ In seiner Hand hält er einen transparenten Nylonfaden, der einer Angelrute nicht unähnlich sieht, aber nur wenige Zentimeter lang ist. Er ist sehr von diesem Faden eingenommen.

„Ich glaube nicht, dass ich noch irgendetwas zu sagen hätte. Aber bitte: Hätte ich eine Waffe mit mir getragen, Fotos geschossen oder sonstiges dergleichen, hätte ich das längst gestanden. Glauben Sie mir, die Schläge, die ich erhalten habe, hätten mich sogar dazu gebracht, Dinge zu gestehen, die ich nicht getan habe. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nichts getan habe, und ich hoffe, Sie glauben mir“, sage ich mit zittriger Stimme. Es folgt eine minutenlange Stille.

„Du willst also sagen, dass du meinen Ohren nur deine üblichen Lügen auftischen willst?“ Ich bleibe stumm; sein schärfer gewordener Ton jagt mir Angst ein.

„Steh auf“, sagt er mit lauter, harter Stimme. Er fesselt mich erneut, stößt mich mit aller Kraft gegen die Wand und zerrt mein rechtes Bein hoch. Ich versuche zu begreifen, was da gerade vor sich geht. Mit seinem Nylonfaden bindet er meinen großen Zeh an mein Geschlechtsorgan. Der Faden ist definitiv von einer Angelrute, zumindest fühlt es sich so an. Ich stehe nur noch auf einem Bein. Jede Bewegung, jede noch so sanfte Schwingung reicht aus, um die Seele eines Menschen zu verletzen. Meine wird vom Schmerz zerfetzt. Er setzt sich gegenüber von mir hin, um sicherzustellen, dass ich mich nicht gegen die Wand lehnen und ausruhen kann.

Ich weiß nicht, wie lange dieses Spiel gedauert hat. Was ich weiß, ist, dass das zweifellos die größte Erniedrigung war, die mir jemals angetan wurde. Ich verliere das Bewusstsein, und als ich aufwache, bin ich wieder in meiner Zelle.

Anders als der Prophet Mohammed, Friede sei mit ihm, zu predigen pflegte, liegt das Paradies nicht zu Füßen der Mutter, die dieses Monster, diesen Mörder, diesen Schlächter zur Welt gebracht hat. In solchen Momenten verspüre ich einen solchen Hass auf alles und jeden. Ich tue so, als ob ich schlafe, damit niemand meine Tränen sehen kann.

Damals erwartete ich keine Tränen für mich oder diejenigen, die mit mir Teil dieser Farce geworden waren, die sich Vaterland nennt. Ich erwartete auch kein Lächeln, keine Unterstützung für das Opfer, das wir in unserem Kampf für die Revolution erbracht hatten. Damals war ich Sarmad, nur Sarmad, ein Junge von 18 Jahren, dessen Folter das Fundament für dieses Land darstellen sollte und dessen Foltertod als Weg in den Himmel galt. Sie säen Hass und Groll in unseren Herzen, ob es uns gefällt oder nicht. Sie reißen uns die Herzen auf und führen Stahlseile dort ein, die das Land spalten und, von Rachegelüsten getränkt, zu Mauern der Abschottung anschwellen.

Mudar, der des unerlaubten Waffenbesitzes bezichtigt wurde, versucht mich aufzumuntern. „Das alles hier ist eine Ehre für uns. Nicht uns beschämen sie, sondern sich selbst. Wenn du aufstehst, stehen alle anderen mit dir, wenn nötig, auch zwei oder drei Tage lang. Sie haben versucht, dich in deiner Männlichkeit zu kränken. Aber das können sie nicht, denn sie selbst sind keine Männer.“

Er, der selbst diversen Foltermethoden zum Opfer gefallen ist, spricht diese Worte mit gebrochenem Herzen. Er erzählt mir, als sie ihm das erste Mal seinen Kopf mit einer Plastiktüte umschlossen und diese unten zuschnürten, habe er sich gefühlt, als enthielte jeder Atemzug, den er daraufhin tat, das letzte bisschen Sauerstoff, das ihm in diesem Leben noch verbleiben sollte. Es habe ihn aber auch gelehrt, jeden Atemzug so zu genießen, als sei er tatsächlich sein letzter. Ich brauchte mich nicht dafür zu schämen, das Bewusstsein verloren zu haben, das sei ihm schon oft passiert. Man würde mit Wunden auf dem Rücken zurück in die Zelle befördert, oder mit blutigen Füßen vom Kopfüber-Hängen. Andere müssten tagelang in einem Wasserdepot ausharren, mit nichts als einem kleinen Loch zum Atmen. Sie würden ins Wasser pinkeln und dann davon trinken.

Dies ist ein Regime, in dem alle schrecklichen Foltergeschichten traurige Realität sind. Es ist ein barbarisches Regime, welches weiß, wie man auf kreative Weise tötet; ein Regime, an dessen Händen das Blut klebt, das in diesen von der Geschichte vergessenen Kellern vergossen wurde.

Die „Arbeiter“ in den Flügeln und den Schlafsälen sind die einzigen, die das Gebäude verlassen und Brot und sonstiges Essen von draußen holen dürfen. Hier aber sind sie lediglich eine Gruppe junger Einwohner, deren Schönheit die Sünde ist, die auf ihr gesamtes Leben lasten wird. Dieser blonde Junge, der nicht älter als sechzehn ist, wurde vergewaltigt. Der Offizier, der die Tat begang, war Alawite, daher haben religiöse Differenzen hier keine Rolle gespielt. Trotzdem bin ich sicher, dass dieser Mann keiner Sekte, Religion oder Doktrin angehört; er dürfte sich eigentlich nicht einmal Mensch nennen. Mir tut es leid, dass er wie ich Syrer ist.

Dieser junge Mann wird weiterhin vergewaltigt, bis wir unsere Männlichkeit verlieren. Er wurde im Zuge einer der Massenfestnahmen in Homs gefangen genommen. Laut Bilal gibt es andere wie ihn, zum Beispiel einen etwa zwölfjährigen Jungen, der von seiner Familie monatelang ignoriert wurde. Viele Monate später konnte sich sein Vater endlich zu einem Besuch durchringen. Aber als er feststellte, dass sein Sohn vergewaltigt worden war, wandte er sich von ihm ab – ein Schritt, der durch eine lange Geschichte gesellschaftlicher Normen begünstigt wurde.

Wir alle sind auf die ein oder andere Weise vergewaltigt worden, von dem Moment unserer Ankunft und der Durchführung der beiden Sicherheitskontrollen bis hin zu unserer Freilassung. Aber bis es so weit ist, lebt jeder Gefangene nackt, mit nichts außer seiner Moral, die er mit seinen Wertsachen abgibt und für deren Unversehrtheit er zu Gott betet.

Manchmal fühle ich mich, als wäre ich kurz davor, zu ersticken. Ich bin jetzt schon elf- oder zwölfmal von einer Provinz in die nächste verlegt worden – wie oft genau, weiß ich schon nicht mehr – und jedes Mal musste ich „die Ehrenrituale der Sicherheitsabteilung“ durchführen. Es ist unglaublich, dass diese Handlungen für sie keine Vergewaltigung darstellen! Sie wollen uns unsere Männlichkeit nehmen und berufen sich dafür auf die Massen, die uns verachten. Nichts als eine Herde blinder Schafe sind sie, sie alle.

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