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Bahnbrechender Film über Russlands HIV-Epidemie bringt weitreichende Veränderungen mit sich

Kategorien: Ost- und Zentraleuropa, Russland, Bürgermedien, Film, Gesundheit, Internetaktivismus, Medien & Journalismus, Meinungsfreiheit, Menschenrechte, Rechte der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transsexuellen (LGBT), RuNet Echo

„Einhundert Menschen pro Tag“, sagt die Inschrift im Screenshot der YouTube-Dokumentation [1] des Vloggers Yury Dud über die HIV-Epidemie. So viele Menschen sind durchschnittlich pro Tag im Jahr 2018 an der Krankheit gestorben.

Einer der bekanntesten Vlogger (kurz für Video-Blogger [2]) Russlands, Yury Dud [3], hat einen Dokumentarfilm veröffentlicht, der die HIV/AIDS-Situation in Russland thematisiert. Seit der Veröffentlichung am 11. Februar wurde Duds Film fast 17 Millionen Mal aufgerufen.

Das macht Duds Dokumentation zu einem der derzeit meistgesehenen YouTube-Videos Russlands. Und der Zeitpunkt des Erscheinens hätte nicht drängender sein können.

Russland sieht sich einer HIV-Epidemie gegenüber. Zu Ende 2019 lag laut Schätzungen des russischen Gesundheitsministeriums die Zahl der HIV-positiven Menschen in Russland bei einer Million [4], was bedeutet, dass rund 1 % der erwachsenen Bevölkerung betroffen ist. Die russische Regierung schweigt jedoch. Der Soziologe Iskander Yasaveyev schrieb vergangenen November [5] in der unabhängigen Zeitung Novaya Gazeta:

Из миллиона четырехсот тысяч случаев ВИЧ-инфекции, зарегистрированных в нашей стране с 1987 года, более половины — около 750 тысяч — зарегистрировано с 2012 года, когда начался третий путинский срок.

Von allen seit 1987 in unserem Land registrierten 1.400.000 HIV-Infektionen wurden mehr als die Hälfte – rund 750.000 – nach 2012 erfasst, dem Jahr, in welchem Putins 3. Amtszeit begann.

Glücklicherweise spricht Russlands boomende Vlogosphäre an, was anderorts verschwiegen wird. Vlogger wie Dud haben eine bedeutende Anzahl an Followern, da sie eine seltene Alternative in einem Land bieten, in dem die Medien durch die Regierung stark kontrolliert und zensiert werden. Das Fernsehen ist in Russland die wichtigste Informationsquelle [6]. Das bedeutet, die meisten alternativen Medien, mit Ausnahme des Online-Fernsehsenders Doschd [7] (Дождь), bestehen aus Zeitungen und Radiosendern. Demzufolge sind die YouTube-Kanäle der beliebten Vlogger die einzige wirklich unabhängige Konkurrenz zu den staatlichen TV-Sendern.

Dud, ein ehemaliger Sportjournalist, ist einer von Russlands führenden Vloggern und hat über sechs Millionen Follower auf seinem YouTube-Kanal [8]. Oft interviewt er russisch sprechende Promis, er hat aber auch schon mehrere professionelle Dokumentationen produziert, die kontroverse Probleme der russischen Gesellschaft thematisieren.

Sein einfühlsamer und umsichtiger Umgang mit einigen wahrhaftig schwierigen Themen machte Dud zu einem Superstar im RuNet. Global Voices bat Zhenya Snezhkina, eine in Prag lebende Journalistin und Expertin bezüglich russischer Vlogger, um eine Erklärung zur aktuellen Beliebtheit der Video-Blogger in Russland und Duds Erfolg im Speziellen:

Быстрая обратная связь дала создателям контента возможность наиболее точно попадать в свою аудиторию. По мере наступления цензуры в России, все больше людей старались уйти из-под ее влияния и переходили на площадку, которая в силу ее устройства не дает российским властям цензурировать контент. Также как и несколько десятков миллионов пользователей предпочитают неподцензурное медиа. 

С самого начала своей карьеры на Youtube Дудь говорил о себе как о человеке, который задает неудобные вопросы и старается докопаться до реального положения дел. Без осуждения, но с пониманием. Фактически он переоткрыл жанр интервью, отменив “приличия” поведения героев. По мере развития канала количество вопросов росло, как и количество тем, о которых Дудь рисковал говорить. Рекордами прошлого года стали фильмы “Колыма” и “Беслан” (у обоих по 19 миллионов просмотров). Оба фильма вызвали ярость российских пропагандистов. Логично, что одной из тем для следующих фильмов должна была стать ситуация с ВИЧ в России, потому что положение дел тут трагическое.

Schnelles Feedback, das den Kreativschaffenden die Möglichkeit gibt, die Bedürfnisse und Erwartungen ihres Publikums besser einzuschätzen. Als die Zensur in Russland zunahm, suchten mehr und mehr Menschen nach Wegen, diese zu umgehen und wechselten zu Plattformen, auf denen die russische Zensur sie nicht so einfach zensieren kann. Dementsprechend bevorzugen mehrere zehn Millionen Nutzer unzensierte Medien.

Seit Beginn seiner YouTube-Karriere bezeichnete sich Dud selbst als jemand, der unbequeme Fragen stellt und der Wahrheit auf den Grund geht. Ohne Verurteilung, aber mit Verständnis. Er entwickelte quasi das Format des Interviews neu und ging über das Bedürfnis nach „braven“ Interviewten hinaus. Als sich sein Kanal entwickelte, wurden nach und nach auch gefährliche Angelegenheiten teil seines Themenspektrums. Seine zwei rekordbrechendsten Filme 2019 waren zum einen über Kolyma [Teil der russischen Gulags [10]] und über Beslan [ein Terroranschlag auf eine Schule im russischen Kaukasus]. Beide Filme haben jeweils mehr als 19 Millionen Aufrufe. Beide Filme entzürnten Kreml-treue Propagandisten. Es war nur logisch, dass die HIV-Epidemie eines seiner nächsten Themen werden würde, da es eine tragische Situation ist.

Der Titel von Duds neuester Dokumentation lautet „HIV in Russland – eine Epidemie, über die niemand spricht“ (im Original: ВИЧ в России — эпидемия, про которую не говорят) und hat eine Laufzeit von knapp zwei Stunden. Sie beginnt mit der Nennung einiger zentraler Statistiken, einschließlich der, die besagt, dass im Jahr 2018 pro Tag durchschnittlich 100 Menschen an dem Virus verstarben. Der Film enthält mehrere Aussagen von HIV-positiven Menschen und deren Partner*innen und umfasst vielseitige Thematiken: Partnerschaften, in denen ein Partner bzw. Partnerin HIV-positiv ist und der bzw. die andere nicht, HIV-positive Kinder, HIV und Drogenkonsum, Mythen über HIV-Übertragung, Aktivismus rund um HIV, die Notwendigkeit der sexuellen Aufklärung in Schulen, und das Schweigen seitens der Behörden. Der Film dreht sich um Geschichten aus dem echten Leben und ist geprägt von einem wie auch in Duds anderen Videos umgangssprachlichen Stil, wodurch sie sich stark von dem sonst so offiziellen Tenor der russischen Medien unterscheiden.

Die Auswirkungen des Films in Russland sind nur schwer überzubewerten – jeden Tag steigen die Aufrufzahlen des Videos. Aber der Erfolg lässt sich nicht ausschließlich an Zahlen festmachen. Ein Netizen schrieb Folgendes in einem Kommentar unter dem Video:

Ich arbeite in einer HIV-Klinik und mein erster Patient heute war ein junger Mann, der für einen HIV-Test kam und sagte, der Auslöser dafür war, dass er das Video gesehen habe. Es ist toll.

— Anastasiya Botushan, YouTube, February 13, 2020 [11]

Nach der Veröffentlichung von Duds Dokumentation gab es einen rapiden Anstieg von HIV-Tests – eine Tatsache, die den Mangel an Regierungskampagnen zur Vorbeugung der Epidemie widerspiegelt. Ein russischsprachiger Artikel behauptet [12], die Nachfrage nach HIV-Tests sei in Russland seit dem 11. Februar um 5,5 Prozent gestiegen.
Anscheinend ließ der Film auch die Behörden hellhörig werden. Die Duma [13], Russlands Parlament, organisierte eine Vorstellung des Films am 14. Februar:

Und am Valentinstag trafen wir eine ungewöhnliche Entscheidung in der Staatsduma. Wir bekommen Yury Duds Film gezeigt.

Am 16. Februar gab die Rechnungskammer Russlands [16], welche die Finanzgewalt über die staatlichen Finanzen innehat, bekannt [17], dass die Effizienz der Maßnahmen zur Unterstützung von HIV-positiven Menschen in Russland überprüft werden würde. Der Leiter der Rechnungskammer, Alexey Kudrin, lobte Duds Film auf Twitter:

Yury Dud hat einen dringend notwendigen Film über HIV in Russland produziert. Mehr als eine Million Menschen sind infiziert. Im Jahr 2018 starben 37.000 Menschen an AIDS – das sind durchschnittlich 100 pro Tag. Vergleichen Sie das mit dem Corona-Virus. #HIV ist in unserem Land eine sehr viel realere Bedrohung.

Snezhkina, die in Prag lebende Journalistin, glaubt jedoch nicht daran, dass sich die Herangehensweise der Behörden über Nacht ändern wird. Trotz alledem ist sie optimistisch, was die Aussichten für ein präsenteres Bewusstsein zu HIV in Russland angeht:

Условно говоря “власти” услышали слова Дудя и его героев – фильм был показан в Госдуме и Министерстве здравоохранения России. Я не думаю, что сам фильм приведет к каким-то радикальным результатам. А вот то, что гораздо больше людей открыли для себя, что доступное тестирование на ВИЧ и доступные лекарства, это может иметь гораздо более широкие последствия.

Im Wesentlichen haben die „Behörden“ die Worte Duds und seiner Helden*innen gehört – der Film wurde in der Staatsduma und dem Gesundheitsministerium gezeigt. Ich erwarte keine radikalen Veränderungen aufgrund des Films. Aber die Tatsache, dass so viele Menschen von HIV-Tests und der Existenz von Medikamenten [zur Behandlung der Krankheit] erfahren haben, wird viel bedeutendere Konsequenzen haben.

Einer der ergreifendsten Momente in Duds Film ist sein Interview mit Katya, einer ehemaligen Drogenabhängigen, die starb, während die Produktion des Films noch lief. Während ihrer Unterhaltung beharrt Katya mehrere Male darauf:

Мы не прокаженные. Я надеюсь, что пойдет поток информаций

Wir sind keine Aussätzigen. Ich hoffe, es wird einen freien Informationsfluss [über uns] geben.