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In Sri Lanka bewahren die Familien der Verschwundenen deren hinterlassene Alltagsgegenstände (Teil 2)

Kategorien: Südasien, Sri Lanka, Bürgermedien, Internetaktivismus, Politik, Recht, Regierung

Die Verwandten der Verschwundenen leben umgeben von deren Habseligkeiten, die sie verwahren und von denen jedes Stück eine Erinnerung daran ist, dass ein geliebter Mensch fehlt. Bild von Maatram. Verwendung genehmigt.

Dieser Beitrag von Selvaraja Rajasegar [1] ist im Original auf Groundviews erschienen, einer preisgekrönten Webseite für Bürgerjournalismus in Sri Lanka. Eine übersetzte und editierte Version wird hiermit im Rahmen einer Vereinbarung mit Global Voices zum Content-Sharing veröffentlicht. (Der erste Teil ist hier [2] zu finden.)

Vor über 300 Tagen (Anfang 2017) begann eine Gruppe sri-lankischer Personen im Norden (an Orten wie Vavuniya, Kilinochchi, Mullaitivu) zu protestieren [3] und verlangte die Freigabe der Listen geheimer Internierungslager, Listen inhaftierter Personen oder schlicht Information darüber, was mit ihren Liebsten geschehen ist. Obwohl der sri-lankische Präsident Maithripala Sirisena die Freigabe dieser Informationen im Juni (2017) versprochen hatte [4], kam er dem nicht nach.

Sri Lanka trat im Mai 2009 aus einem 30 Jahre währenden Bürgerkrieg [5] hervor, nachdem das sri-lankische Militär die LTTE [6] besiegt [7] hatte, auch bekannt als die Tamil Tigers. Sie hatten fast drei Jahrzehnte dafür gekämpft, im Norden und im Osten Sri Lankas einen unabhängigen tamilischen Staat names Tamil Eelam [8] zu schaffen. Während des Konflikts verschwanden viele Menschen, nicht nur im Norden und Osten, in dem die letzten Phasen des Krieges geführt wurden, sondern auch im mehrheitlich singhalesischen Süden, zu Zeiten der Aufstände, die bis in die 1980er Jahre zurückreichen.

Beunruhigend ist aber, dass viele Menschen auch noch nach Ende des Krieges [9] verschwanden, als Familienmitglieder dem Militär übergeben wurden. In einigen Fällen handelte es sich bei diesen Personen um mutmaßliche Mitglieder der LTTE.

[10]

Bild von Maatram. Verwendung genehmigt.

Die Verwandten derer, die gewaltsam verschwanden, leben weiter. Sie leben umgeben von den Habseligkeiten, die sie verwahren und von denen jedes Stück eine Erinnerung daran ist, dass ein geliebter Mensch fehlt. Sie kommen an den Plätzen vorbei, an denen sie zuvor unterwegs waren und treffen Menschen, die ihre Liebsten einst geliebt haben.

Kürzlich suchte [11] Maatram diese Familien auf, um ihnen eine schwierige Frage zu stellen – ob sie es zulassen könnten, dass die Habseligkeiten ihrer Liebsten fotografiert werden. Bei dieser Frage weinten sie bitterlich. Ihr Schmerz ist schwer in Worte zu fassen.

Und doch brachten sie diese verwahrten Besitztümer hervor, feucht von Tränen. Sie glauben daran, dass ihre Liebsten zurückkehren werden. Ihre Trauer ist unermesslich.

Es folgt hiermit der zweite Teil der Reihe. Wie bereits im ersten Teil [2], werde die Namen der interviewten Personen zum Schutz ihrer Privatsphäre nicht veröffentlicht.

‘Wenn ich seine Kleidung anschaue, dann spüre ich, dass er am Leben ist.’

On April 28, 2009, we were in a bunker. The army came and took us away. One of our sons passed away, and it was our other son who made all the funeral arrangements. After the funeral, he put his brother’s wife and children onto the last ship, but he stayed behind. At that time, he was 23 years old. I still don’t know where he is. On April 12, 2009, he came and left his sarong and shirt at home. To this day, I keep them to remember him. When I look at his clothes, I feel that he is alive. No one can tell me he is not alive. I know that he is.

Am 28. April 2009 befanden wir uns in einem Bunker. Die Armee kam und nahm uns mit. Einer unserer Söhne verstarb und es war unser anderer Sohn, der die gesamte Beisetzung organisierte. Nach der Beerdigung setzte er seine Schwägerin und deren Kinder auf das letzte Schiff, blieb aber selbst zurück. Zu der Zeit war er 23 Jahre alt. Ich weiß immer noch nicht, wo er ist. Am 12. April 2009 war er nach Hause gekommen und hatte seinen Sarong und sein Hemd zurückgelassen. Bis heute verwahre ich es, um mich an ihn zu erinnern. Wenn ich seine Kleidung anschaue, dann spüre ich, dass er am Leben ist. Niemand kann mir erzählen, dass er nicht mehr am Leben ist. Ich weiß, dass er es ist.

[12]

Bild von Maatram. Verwendung genehmigt.

‘Wir haben überall Beschwerde eingelegt… Ich will wissen, ob er lebt oder tot ist.’

My son disappeared during the last stage of the war in 2009. So far, we have not heard any information about his whereabouts. He was just 17 years old and was sitting for his Advanced Level examinations. We have lodged complaints everywhere — with the ICRC [13], numerous commissions, the police and CID [14]. I want to know if he is alive or dead. We have all his possessions, his clothes in a box. When we look at them, we remember him.

Mein Sohn verschwand 2009 während der letzten Phase des Krieges. Bis heute haben wir keine Informationen über seinen Verbleib erhalten. Er war erst 17 Jahre alt und saß an seiner zentralen Oberstufenprüfung. Wir haben überall Beschwerde eingelegt – beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz [13] (ICRC), zahlreichen Kommissionen, der Polizei und der Kriminalpolizei CID [14]. Ich will wissen, ob er lebt oder tot ist. Wir verwahren all seine Besitztümer, seine Kleider in einem Karton. Wenn wir sie anschauen, erinnern wir uns an ihn.

‘Nur Gott weiß, ob die Regierung jemals mit Informationen rausrückt.’

During the last stage of the war, I was injured when we were crossing to the army side. They took the injured people separately, so I got separated from my son. I begged them to let me travel to the hospital with my son. Since that day, I don’t know where he is. Someone said he was in the detention camps. I went to eight camps and looked for him, but he wasn’t at any of them. He was sitting for his Advanced Level examinations at that time. My son isn’t a member of the LTTE, so he has to be alive, I believe that. Only God knows whether the government would give any information.

Während der letzten Phase des Krieges wurde ich verletzt, als wir auf die Seite der Armee überquerten. Sie separierten die Verletzten und so wurde ich von meinem Sohn getrennt. Ich flehte sie an, mich mit meinem Sohn zum Krankenhaus gehen zu lassen. Seitdem weiß ich nicht, wo er sich befindet. Jemand sagte, er sei in den Internierungslagern. Ich ging zu acht Lagern und suchte nach ihm, aber er war in keinem von ihnen. Er saß damals an den zentralen Oberstufenprüfungen. Mein Sohn ist kein Mitglied der LTTE, daher muss er noch am Leben sein, daran glaube ich. Nur Gott weiß, ob die Regierung Informationen herausgeben wird.

[15]

Bild von Maatram. Verwendung genehmigt.

‘Er ging mit einem Freund zum Strand. Er kam nie zurück nach Hause.’

My son sat for his Advanced Level examinations in 2006. In 2008, he was forcibly recruited by the LTTE. That same year, in Manalaru, the LTTE sent him to dig for an underground bunker. That area was shelled and he lost a leg. After that, the LTTE released him, and he was with us. Our son went missing during the battle of Mullivaikkal. On that day, he went with a friend to the beach. He never came home after that.

Two of my granddaughters were in the Sencholai Children’s Home, which is in Puthukudiyiruppu. When the army surrounded the area, they were displaced. One of them went missing in the chaos. We have yet to find her as well.

Mein Sohn saß 2006 an seinen zentralen Oberstufenprüfungen. 2008 wurde er gewaltsam von der LTTE rekrutiert. Im selben Jahr schickte ihn die LTTE in Manalaru einen unterirdischen Bunker zu graben. Das Gebiet wurde bombardiert und er verlor ein Bein. Danach entließ ihn die LTTE und er war wieder bei uns. Unser Sohn ging verloren während der Schlacht von Mullivaikkal. Er war an diesem Tag mit einem Freund zum Strand gegangen. Er kehrte danach nie wieder nach Hause zurück.

Zwei meiner Enkelinnen waren im Sencholai  Kinderheim, das befindet sich in Puthukudiyiruppu. Als die Armee das Gebiet umstellte, wurden sie vertrieben. Eine von ihnen ging im Chaos verloren. Auch sie müssen wir noch finden.

‘Mein Ehemann ist Mitglied der LTTE. Ich übergab ihn der Armee.’

My husband is a member of the LTTE. I handed him over to the army. My husband said, ‘If I go, I won’t return.’ I told him, ‘If everyone is surrendering to the army, why do you think only you won’t come back?’ I have guilt because I am the one who convinced him to surrender although he didn’t want to. Virakesari published a photo, and I recognized my husband, who was fourth in a row of people. I took the photo and lodged complaints everywhere, including the ICRC. I too am an LTTE member but was released from the camp because I have two young children. After being released, the CID continuously harassed me. I told them, ‘I have registered everywhere as a member of the LTTE. If you want to arrest me, then please find my husband and bring him so that he can look after the children. Then you can arrest me.’

Once you hand over someone to the army, they should give details about what happened to them. Though I am a member of the LTTE, I didn’t hide anywhere. I stayed in my house because my husband would know to find me there. If I leave, he wouldn’t be able to find me. So until the government releases him, I will stay here. When my daughter thinks of him, she uses his bedsheet to cover herself.

Mein Ehemann ist Mitglied der LTTE. Ich übergab ihn der Armee. Mein Mann sagte: „Wenn ich gehe, kehre ich nicht zurück.“ Ich sagte ihm: „Wenn alle an die Armee ausgeliefert werden, warum glaubst du, dass nur du nicht zurückkommen wirst?“ Ich trage Schuld, denn ich bin diejenige, die ihn davon überzeugt hat, sich auszuliefern, obwohl er das nicht wollte. Virakesari (eine Zeitung) veröffentlichte eine Fotografie, auf der ich meinen Ehemann erkannte, der vierte in einer Schlange von Menschen. Ich nahm das Foto und legte überall Beschwerde ein, einschließlich des ICRC. Ich selbst bin ebenfalls Mitglied der LTTE, aber ich wurde aus dem Lager entlassen, da ich zwei kleine Kinder habe. Nach meiner Freilassung hat mich der CID unaufhörlich belästigt. Ich sagte ihnen: „Ich bin überall als Mitglied der LTTE registriert. Wenn ihr mich verhaften wollt, dann findet bitte meinen Mann und bringt ihn her, damit er auf die Kinder aufpassen kann. Dann könnt ihr mich verhaften.“

Sobald man jemanden der Armee aushändigt sollten sie Details nennen dazu, was mit ihnen geschieht. Auch wenn ich ein Mitglied der LTTE bin, verstecke ich mich nicht irgendwo. Ich bin in meinem Haus geblieben, damit mein Mann weiß, dass er mich dort finden kann. Wenn ich gehe, wäre er nicht in der Lage, mich zu finden. Bis die Regierung ihn also freilässt, bleibe ich hier. Wenn meine Tochter an ihn denkt, dann verwendet sie ein Bettlacken, um sich zu bedecken.

[16]

Bild von Maatram. Verwendung genehmigt.

‘Ich habe nach dem Krieg in vielen Lagern nach ihr gesucht.’

I have one son. The LTTE continually asked us to give him to them. The last time, instead of taking my son, they took my daughter. She was in Grade 9. During the final stages of the war, I saw her but once the fighting intensified, I lost track of her. I searched for her in many camps after the war, including the Ambepussa camp. I went to Colombo as well but did not find her there. I don’t know what happened to her.

Ich habe einen Sohn. Die LTTE sprach uns ständig an, ihn ihnen zu geben. Das letzte Mal nahmen sie anstelle meines Sohnes meine Tochter. Sie war in der neunten Klasse. Während der letzten Phasen des Krieges sah ich sie noch, aber als sich die Kämpfe verschärften, verlor ich ihre Spur. Ich suchte nach dem Krieg in vielen Lagern nach ihr, einschließlich des Ambepussa Camps. Ich ging auch nach Colombo, konnte sie dort aber nicht finden. Ich weiß nicht, was ihr zugestoßen ist.

‘Ich glaube immer noch, dass sie am Leben und irgendwo in einem Internierungslager ist.’

I have four daughters. It was the eldest who disappeared. She used to support the family with her income. She went missing during one of the more intense battles near the end of the war when shellfire was heavy. Many people said that they saw her near Vattuvaagal. Since it was a border area between the LTTE and the army, I still believe she is alive and in a detention camp somewhere. My husband is now paralyzed, suffering from depression because of the loss of our daughter.

Ich habe vier Töchter. Es war die Älteste, die verschwand. Sie hatte die Familie mit ihrem Einkommen unterstützt. Sie ging verloren während einer der intensiveren Kämpfe gegen Ende des Krieges, als die Bombardierungen heftig waren. Viele Leute sagen, dass sie sie in der Nähe von Vattuvaagal gesehen haben. Da dies eine Grenzregion von LTTE und der Armee war, glaube ich immer noch, dass sie am Leben und irgendwo in einem der Internierungslager ist. Mein Ehemann ist nun gelähmt, er leidet unter Depressionen wegen des Verlusts unserer Tochter.

[17]

Bild von Maatram. Verwendung genehmigt.

‘Wir haben unseren Sohn der Armee übergeben.’

My son worked as a tailor for 15 years. This is a shirt he made himself. He used to make clothes for me and even my daughter’s children. May 17, 2009, we crossed to the army-controlled area and handed our son over to the army. We did so, believing that they would release my son. After that, we never saw him.

Mein Sohn hat 15 Jahre lang als Schneider gearbeitet. Dieses Hemd hat er selbst genäht. Er fertigte für mich und selbst den Kindern meiner Tochter Kleidung. Am 17. Mai 2009 passierten wir das von der Armee kontrollierte Gebiet und händigten unseren Sohn der Armee aus. Wir haben das gemacht, da wir geglaubt haben, dass sie meinen Sohn freilassen. Danach haben wir ihn nie wiedergesehen.

Die Furcht davor, dass ihre Geschichten in Vergessenheit geraten könnten, hat diese Familien dazu gebracht, ihren Protest fortzusetzen. Für viele dieser Familien ist der Schmerz weiterhin so heftig [18] wie an dem Tag, an dem sie feststellten, dass ihre Liebsten nicht nach Hause zurückkehren werden. Sie sind bereit, alles Mögliche zu tun.

Der Menschenrechtsaktivist Ruki Fernando [19] kommentierte [20]:

It’s the lack of progress on the part of the government that has led to a series of protests highlighting, among other issues, the plight of families of the disappeared [18], political prisoners [21], militarisation and land occupation [22].

Das fehlende Vorankommen auf Seiten der Regierung hat zu einer Reihe von Protesten geführt, die unter anderem auf das Leid der Familien der Vermissten [18], auf politische Gefangene [21] und auf die Militarisierung und Landbesetzung [22] aufmerksam machen.

Die Regierung Sirisena hat versprochen, das Sri Lanka’s Office of Missing Persons (Amt für vermisste Personen, kurz OMP) einzurichten, das seine Arbeit [23] im September 2017 hätte aufnehmen sollen, um das Verschwinden tausender Menschen während des Bürgerkriegs zu untersuchen. Die Einrichtung dieses Amts wurde aber auf 2018 verschoben [24], während die Familien derer, die gewaltsam verschwunden sind, weiterhin auf Antworten warten.

Dieses Video wurde von dem Center For Policy Alternatives (CPA) [25] – wo Maatram untergebracht ist – hochgeladen und präsentiert die oben genannten Aussagen auf Tamil: