In Sri Lanka bewahren die Familien der Verschwundenen deren hinterlassene Alltagsgegenstände

„Ja, Bruder. Ich habe die Kamera eines meiner Brüder und die Bürste eines anderen. Ich habe auch das Hemd meines Ehemanns.“ Bild von Maatram. Verwendung genehmigt.

Dieser Beitrag von Selvaraja Rajasegar ist im Original auf Groundviews erschienen, einer preisgekrönten Webseite für Bürgerjournalismus in Sri Lanka. Eine übersetzte und editierte Version wird hiermit im Rahmen einer Vereinbarung mit Global Voices zum Content-Sharing veröffentlicht.

Vor über 300 Tagen (Anfang 2017) begann eine Gruppe sri-lankischer Personen im Norden (an Orten wie Vavuniya, Kilinochchi, Mullaitivu) zu protestieren und verlangte die Freigabe der Listen geheimer Internierungslager, Listen inhaftierter Personen oder schlicht Information darüber, was mit ihren Liebsten geschehen ist. Obwohl der sri-lankische Präsident Maithripala Sirisena die Freigabe dieser Informationen im Juni (2017) versprochen hatte, kam er dem nicht nach.

Sri Lanka trat im Mai 2009 aus einem 30 Jahre währenden Bürgerkrieg hervor, nachdem das sri-lankische Militär die LTTE besiegt hatte, auch bekannt als die Tamil Tigers. Sie hatten fast drei Jahrzehnte dafür gekämpft, im Norden und im Osten Sri Lankas einen unabhängigen tamilischen Staat names Tamil Eelam zu schaffen. Während des Konflikts verschwanden viele Menschen, nicht nur im Norden und Osten, in dem die letzten Phasen des Krieges geführt wurden, sondern auch im mehrheitlich singhalesischen Süden, zu Zeiten der Aufstände, die bis in die 1980er Jahre zurückreichen.

Beunruhigend ist aber, dass viele Menschen auch noch nach Ende des Krieges verschwanden, als Familienmitglieder dem Militär übergeben wurden. In einigen Fällen handelte es sich bei diesen Personen um mutmaßliche Mitglieder der LTTE.

Es folgt die Übersetzung einer Reihe von Geschichten von Selvaraja Rajasegar, Herausgeber von Maatram, einer sri-lankischen Seite für Bürgerjournalismus, die ihre Beiträge auf Tamil veröffentlicht (hier und hier können die Interviewreihen auf Tamil gelesen werden). In einigen Gebieten im Norden und Osten gehen die Proteste seit über 300 Tagen weiter. Noch steht eine Antwort auf ihre Bitten aus, detaillierte Information darüber bereitzustellen, was mit ihren Familien geschehen ist. Seit Beginn der Demonstrationen sind fünf Demonstranten ums Leben gekommen.

„Ich habe es, Sohn. Ich verwahre es sicher. Ich habe das blutbefleckte Hemd meines Sohnes gewaschen und halte es bei mir.“ Bild von Maatram. Verwendung genehmigt.

Die Verwandten derer, die gewaltsam verschwanden, leben weiter. Sie leben umgeben von den Habseligkeiten, die sie verwahren und von denen jedes Stück eine Erinnerung daran ist, dass ein geliebter Mensch fehlt. Sie kommen an den Plätzen vorbei, an denen sie zuvor unterwegs waren und treffen Menschen, die ihre Liebsten einst geliebt haben.

Kürzlich suchte Maatram diese Familien auf, um ihnen eine schwierige Frage zu stellen – ob sie es zulassen könnten, dass die Habseligkeiten ihrer Liebsten fotografiert werden. Bei dieser Frage weinten sie bitterlich. Ihr Schmerz ist schwer in Worte zu fassen.

Und doch brachten sie diese verwahrten Besitztümer hervor, feucht von Tränen. Sie glauben daran, dass ihre Liebsten zurückkehren werden. Es war eine große Erleichterung, dass ihre Liebsten Kugeln und Bombardierung überlebt hatten, so dass sie sie der Armee übergeben hatten. Jetzt aber, da sie nicht zurückgekehrt waren, leiden sie.

Ihre Trauer ist unermesslich. Es folgt der erste Teil ihrer Geschichten.

(Um die Privatsphäre der interviewten Personen zu schützen, veröffentlichen wir keine Namen.)

„Ich habe den Blazer, den wir ihm für die Hochzeit seines älteren Bruders angefertigt haben. Da dies alles ist, was ich in meiner Tasche dabei hatte, ist das das einzige, was mich an ihn erinnert.“ Bild von Maatram. Verwendung genehmigt.

‘Ich trage noch mein… Hochzeits-Thali und denke, dass ich meinen Ehemann wiedersehen werde’

During the last stages of the war, we handed our family over to the Army ourselves – my two younger brothers, aged 27 and 29 years, and my 30-year-old husband. Believing that they would question them and then release them shortly, we got into the bus and went to the IDP camp. At that time, I was seven months’ pregnant with my second child (a daughter).

My father said, “We can’t wait here without food or drink, let’s go back. They’ll return soon.”

They still haven’t come back. We have had to submit their documents to so many Commissions of Inquiry, and each time it costs us Rs. 300 (US$ 2) or Rs. 400 (US$ 2.66). They ask us who we handed our family over to, if we remember any names, and if we can remember any medals or symbols they were wearing. At that time we didn’t even have clothes to change into. We were going through such hardship, so how can we be expected to remember all these details?

Instead of making us search all this time, they should tell us whether our loved ones are alive or not. My children are always asking for their father. My daughter is now 8, and she still hasn’t seen her father. My son is 11. Whenever there is an event at school, he always sings about his father. They ask me if I have his phone number. If I die without finding my husband, I can manage. But at least if they can find one of my brothers, my mother and father can die at peace.

People who remember those who were lost in Mullivaikkal will remember in a month, six months, or a year. For us, we remember our family every day with sadness, and we will do so until we die. I still wear my pottu and wedding thali, thinking that I will see my husband again. My mother and father give me the courage to keep going. If not for them I don’t know what I would do.

In den letzten Zügen des Krieges haben wir unsere Familie selbst der Armee übergeben – meine beiden jüngeren Brüder, 27 und 29 Jahre alt und meinen 30 Jahre alten Ehemann. In dem Glauben, dass sie sie befragen und kurz darauf freilassen werden bestiegen wir den Bus und fuhren zum Camp für Binnenvertriebene. Zu der Zeit war ich im siebten Monat schwanger mit unserem zweiten Kind (einer Tochter).

Mein Vater sagte: „Wir können hier nicht warten ohne etwas zu essen und zu trinken, gehen wir zurück. Sie werden bald zurückkehren.“

Sie sind immer noch nicht zurück. Wir mussten ihre Papiere bei so vielen Untersuchungsausschüssen einreichen, was uns jedes Mal 300 Sri-Lanka-Rupien (Rs.) (circa 2 US-Dollar) oder 400 Rs. (circa 2,66 US-Dollar) kostet. Sie fragen uns, an wen wir unsere Familie übergeben haben, ob wir uns irgendwelche Namen gemerkt haben und ob wir uns an Abzeichen oder Symbole erinnern, die sie getragen haben. Zu der Zeit hatten wir nicht einmal Kleidung zum Wechseln. Wir durchlebten damals eine solche Not, wie kann man von uns erwarten, dass wir uns an all diese Details erinnern?

Anstatt uns all diese Zeit suchen zu lassen, hätten sie uns sagen sollen, ob unsere Liebsten noch am Leben sind oder nicht. Meine Kinder fragen ständig nach ihrem Vater. Meine Tochter ist jetzt acht und sie hat nie ihren Vater gesehen. Mein Sohn ist elf. Immer wenn es eine Schulveranstaltung gibt, singt er von seinem Vater. Sie fragen mich, ob ich seine Telefonnummer habe. Wenn ich sterbe ohne meinen Ehemann zu finden, dann komme ich damit zurecht. Aber wenn sie wenigstens einen meiner Brüder finden können, dann können meine Mutter und mein Vater in Frieden sterben.

Die Menschen, die sich an diejenigen erinnern, die in Mullivaikkal verloren gingen, werden sich in einem Monat an sie erinnern, in sechs Monaten oder in einem Jahr. Wir, die wir uns jeden Tag mit Trauer an unsere Familie erinnern, werden dies so lange tun bis wir sterben. Ich trage immer noch meinen Pottu und meinen Hochzeits-Thali und denke, dass ich meinen Ehemann wiedersehen werde. Meine Mutter und mein Vater geben mir den Mut weiterzumachen. Wenn es nicht für sie wäre, dann wüsste ich nicht, was ich täte.

Bild von Maatram. Verwendung genehmigt.

‘Da wir es nicht wissen, ist in unserem Kopf alles durcheinander’

My son’s name is Nalinikanth. At home, we call him Vijay. He is well-known in our village by that name. In 2007, the LTTE forcibly recruited him. He was just 19 years old. I never saw him again, but someone met him after I last saw him. He told them that he would be surrendering to the Army, and asked them to let me know. I never saw him again. Some people from the fourth floor (Editor’s Note: referring to the infamous fourth floor of the Criminal Investigation Department-CID of Sri Lankan Police) came and said they had details about someone in their custody. The area was right, the Grama Sevaka Division was correct, even my name and my husband’s were correct, but the name of the person concerned was Vinothkanth, not Nalinikanth. They said they would clear up the confusion and let us know, but they never came back. We will only find peace when we know if our children are alive or dead. Since we don’t know, our minds are in tumult.

Der Name meines Sohnes lautet Nalinikanth. Zuhause nennen wir ihn Vijay. Er ist in unter diesem Namen in unserem Dorf gut bekannt. 2007 hat die LTTE ihn gewaltsam rekrutiert. Er war erst 19 Jahre alt. Ich habe ihn niemals wiedergesehen, aber jemand traf ihn, nachdem ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er berichtete mir, dass er der Armee ausgeliefert werden sollte und hatte sie gebeten, mich das wissen zu lassen. Ich sah ihn nie wieder. Einige Personen vom vierten Stock (Redaktionelle Anmerkung: Bezugnehmend auf den berüchtigten vierten Stock der Kriminalpolizei CID der sri-lankischen Polizei) kamen zu mir und sagten, sie wüssten etwas genaueres über jemanden in ihrem Gewahrsam. Das Gebiet stimmte, die Grama Sevaka Division stimmte, selbst mein Name und der Name meines Ehemanns waren korrekt, but der Name der betroffenen Person lautete Vinothkanth, nicht Nalinikanth. Sie sagten, sie würden diese Verwechslung klären und uns benachrichtigen, aber sie kamen nie zurück. Wir werden nur dann Frieden finden, wenn wir wissen, ob unsere Kinder am Leben oder tot sind. Da wir das nicht wissen, herrscht in unseren Köpfen Durcheinander.

Bild von Maatram. Verwendung genehmigt.

‘Ich bin immer noch auf der Suche nach meiner Tochter’

My daughter was forcibly recruited by the LTTE, after finishing technical college. In 2008, she came for a relative’s funeral. We saw her for the last time around the end of 2008. When I went to the Internally displaced persons (IDP) camp, I heard she was at the Mannar hospital. I went and looked for her. She wasn’t there, but her name was registered by some police stationed at the hospital. Someone had come and taken her. A number of people from Ottuchutan were at the hospital. I showed them my daughter’s picture and asked if they had seen her. They said they recognised her and said that her hand was injured. I heard from others that she had been shifted to the Pambaimadu detention camp. When I went there, I met a girl with the same name as my daughter, but it wasn’t her. This girl was from Trincomalee. I am still searching for my daughter.

Meine Tochter wurde gewaltsam für die LTTE rekrutiert nachdem sie die Fachhochschule beendet hatte. 2008 kam sie zu der Beerdigung eines Verwandten. Wir sahen sie das letzte Mal gegen Ende 2008. Als ich das Camp der Binnenvertriebenen aufsuchte, hörte ich, sie sei im Mannar Krankenhaus. Ich ging dorthin und suchte nach ihr. Sie war nicht dort, aber ihr Name war von der in dem Krankenhaus stationierten Polizei eingetragen worden. Jemand war gekommen und hatte sie geholt. In dem Krankenhaus hielten sich einige Personen aus Ottuchutan auf. Ich zeigte ihnen das Bild meiner Tochter fragte, ob sie sie gesehen hatten. Sie sagten, sie würden sie erkennen und dass ihre Hand verletzt sei. Von anderen hörte ich, dass sie in das Pambaimadu Internierungslager verlegt worden sei. Als ich dort ankam traf ich ein Mädchen mit demselben Namen wie meine Tochter, aber sie war es nicht. Das Mädchen kam aus Trincomalee. Ich suche immer noch nach meiner Tochter.

„Dies ist ein Hemd, das mein Sohn selbst für sich genäht hat. Er stellte auch für mich Kleidung her.“ Bild von Maatram. Verwendung genehmigt.

‘Diese Regierung muss etwas unternehmen’

My son’s name is Johnson Idaydaas, from Thazhayadi, Jaffna. My husband, son and I were one of the unfortunate few trapped in the middle during the last stages of the war. We escaped by boat. It was only when we alighted that we realised that our son wasn’t with us. First, we put a notice in Virakesari newspaper. We didn’t receive a reply. In 2011, we put a notice in the Uthayan newspaper, with my contact number. One night, at around 11 pm, he called me. First, I heard a voice speaking in Sinhala, then the line was cut. I redialled the number, and said, “Sir, sir” to the person on the other end. He replied, “Five minutes only, five minutes only,” and gave the phone to my son. I asked him where he was. He said, “Don’t search for me. I don’t know if they would allow you to see me even if you did search for me. In any case it will be difficult due to your age. I am alive.” He said he didn’t know where he was, but said he was with 53 others. “There is a shortage of food and clothes. If you can get in touch again, please bring some clothes,” he told me. I asked him, “Why do you sound different?” He said “They are giving me injections.” I wanted to check if it was him, so I asked if he could remember his younger sister. “Why? we lost her in the tsunami, why are you reminding me now?” he said and began crying. I started to cry as well, and the line was cut. From that day to this, I have not been able to contact him. I am surviving with the thought that he is still alive.

This government has to do something. Not just for my son, they should tell everyone whose family is missing whether they are alive or dead. I just want to know whether he is alive or dead, that is my only wish.

Recently my elder son wore Johnson’s blazer to go for a family wedding. Before that, when he was going to Colombo, I asked him to wear one of his younger brother’s shirts. I told him it would bring him good luck. We made this blazer for his elder brother’s wedding, in 2007. When we were displaced, this blazer and four sarees were all I had in a bag. This is all I have of his possessions.

Der Name meines Sohnes lautet Johnson Idaydaas, aus Thazhayadi, Jaffna. Mein Ehemann, mein Sohn und ich gehörten zu den Unglücklichen, die inmitten der letzten Phasen des Krieges gefangen wurden. Wir entkamen mit einem Boot. Erst als wir an Land kamen stellten wir fest, dass unser Sohn nicht bei uns war. Als erstes machten wir eine Anzeige in der Virakesari Zeitung. Wir erhielten keine Rückmeldung. 2011 machten wir eine Anzeige mit meinen Kontaktangaben in der Uthayan Zeitung. Eines nachts, um circa elf Uhr, rief er mich an. Ich hörte erst eine Stimme, die Singhalesisch sprach, dann brach die Verbindung an. Ich wählte die Wahlwiederholung und sagte „Sir, Sir“ zu der Person am anderen Ende. Er erwiderte: „Nur fünf Minuten, nur fünf Minuten.“ Und gab den Hörer meinem Sohn. Ich fragte ihn, wo er sei. Er sagte: „Such nicht nach mir. Ich weiß nicht, ob sie es dir erlauben würden, mich zu sehen, selbst wenn du nach mir suchst. Es wird in jedem Fall schwierig werden aufgrund deines Alters. Ich bin am Leben.“ Er sagte, er wisse nicht, wo er sich befinde, aber dass er mit 53 anderen zusammen sei. „Es gibt zu wenig zu essen und zu wenig Kleidung. Falls du wieder mit mir in Kontakt kommst, bitte bring Kleidung mit“, erzählte er mir. Ich fragte ihn: „Warum klingst du so anders?“ Er sagte: „Sie geben mir Spritzen.“ Ich wollte prüfen, ob er es sei und fragte, ob er sich an seine jüngere Schwester erinnere. „Warum? Wir haben sie im Tsunami verloren, warum erinnerst du mich jetzt daran?“ sagte er und begann zu weinen. Ich fing ebenfalls an zu weinen und die Verbindung wurde unterbrochen. Seit diesem Tag ist es mir nicht mehr gelungen, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Ich überlebe mit dem Gedanken daran, dass er noch am Leben ist.

Diese Regierung muss etwas unternehmen. Nicht nur für meinen Sohn, sondern sie sollten jedem sagen, dessen Familie vermisst wird, ob sie noch am Leben oder tot sind. Ich will nur wissen, ob er lebt oder tot ist. Das ist mein einziger Wunsch.

Kürzlich hat mein älterer Sohn Johnsons Blazer getragen, um zu einer Familienhochzeit zu gehen. Zuvor hatte ich ihn schon einmal gebeten, als er nach Colombo ging, dass er eines der Hemden seinen kleinen Bruder trug. Ich sagte ihm, es werde ihm Glück bringen. Wir haben diesen Blazer für die Hochzeit seines älteren Bruders angefertigt. Das war 2007. Als wir vertrieben wurden, waren dieser Blazer und vier Saris alles, was ich in meiner Tasche dabei hatte. Dies ist alles, was mir von seinen Sachen geblieben ist.

Dieses Video wurde von dem Center For Policy Alternatives (CPA) – wo Maatram untergebracht ist – hochgeladen und zeigt einige der Aussagen auf Tamil:

Der zweite Teil dieser Reihe ist hier veröffentlicht.

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