Ein neues Hilfssystem für Gaza: Humanitäre Fassade, militärischer Kern

Aid trucks arrive at Egypt-Gaza border as ceasefire comes into effect.

Screenshot aus dem Video “Aid trucks arrive at Egypt-Gaza border as ceasefire comes into effect”. Der Screenshot zeigt LKWs mit Hilfsgütern, die zu Beginn des Waffenstillstands die Grenze zwischen Ägypten und Gaza erreicht haben. Video bei YouTube hochgeladen von Associated Press. Fair use.

Eine neue kontroverse US-amerikanische Initiative, die Gaza Humanitarian Foundation (GHF) [etwa: Humanitäre Stiftung für Gaza], wurde ins Leben gerufen, um den Fluss der Hilfsgüter nach Gaza zu kontrollieren und gibt Anlass zur Sorge, sie könnte als Instrument zur weiteren Verfestigung der israelischen Besatzung dienen.

Diese Entwicklung folgt auf eine mehr als 70 Tage andauernde schwere Belagerung, die das Gebiet in eine katastrophale Lage brachte. Mahmoud Alsaqqa, Oxfams Koordinator für Ernährungssicherheit und Existenzsicherung in Gaza, sagt, die Menschen vor Ort verhungern.

Die GHF wird dargestellt als sichere und effiziente Alternative zu den herkömmlichen Bereitstellungswegen von Hilfsgütern durch die UN und andere NGOs, welche Israel systemtischem angreift und versucht, zu demontieren. Die GHF, deren Mitarbeitende US-Militärveteran*innen, ehemalige Beamt*innen und Finanziers aus der Wirtschaft sind, setzt sich zum Ziel, 1,2 Millionen Palästinenser*innen über privat gesicherte Verteilungszentren mit Hilfsgütern zu versorgen, wobei eine Ausweitung auf Hilfe für über 2 Millionen Menschen geplant ist.

Ein genauerer Blick auf die Präsentationsunterlagen der Stiftung lässt jedoch eine andere Agenda vermuten. Eine Stellungnahme des Humanitarian Country Team of the Occupied Palestinian Territory [Humanitäres Länderteam des besetzten palästinensischen Gebietes], veröffentlicht auf der Webseite des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten warnt in Hinblick auf die Gaza Humanitarian Foundation:

[It] contravenes fundamental humanitarian principles and appears designed to reinforce control over life-sustaining items as a pressure tactic — as part of a military strategy

Sie verstößt gegen grundlegende humanitäre Prinzipien und dient offenbar dazu, die Kontrolle von (über)lebenswichtigen Gütern als Druckmittel zu verstärken — als Teil einer militärischen Strategie.

Das Humanitäre Länderteam für die besetzten palästinensischen Gebiete besteht aus einer Vielzahl von Organisationen, die jeweils in bestimmten Fachgebieten tätig sind und zu ihnen zählen unter anderem lokale Behörden, NGOs und UN-Einrichtungen.

Darüber hinaus verdeutlichte das Humanitäre Länderteam seinen Standpunkt, sich nicht an Plänen jedweder Art zu beteiligen, die gegen die universellen humanitären Grundsätze der Menschlichkeit, Unbefangenheit, Unabhängigkeit und Neutralität verstoßen.

Bewaffnete logistische Hilfszentren und biometrische Kontrollen

Das Vorhaben der GHF sieht die Einrichtung von vier festen Hilfsknotenpunkten im Gazastreifen vor, die jeweils rund 300.000 Menschen versorgen und von privaten Sicherheitsunternehmen überwacht werden sollen.

Laut des Plans sollen Konvois mit Hilfsgütern durch streng kontrollierte und engmaschig überwachte Korridore fahren, um vorgepackte Mahlzeiten, Wasser und weitere Hilfsgüter an ausgewiesene „sichere Verteilungszentren“ zu liefern. An diesen Zentren sollen hunderttausende Menschen im Gazastreifen anstehen, um unter der Aufsicht von bewaffneten Sicherheitsleuten Hilfsgüter zu erhalten.

Mike Huckabee, US-Botschafter in Israel, erklärte, die israelischen Truppen wären lediglich für die Sicherung des Geländes dieser Verteilungsstellen zuständig, während private Unternehmen für die Sicherheit der Arbeiter*innen und deren Weg in die Verteilungszentren sowie für die Verteilung der Lebensmittel verantwortlich wären. In dem GHF-Päsentationsdokument selbst heißt es jedoch, dass alle Bewegungen mit der israelischen Armee und der offiziellen israelische Einheit, die mit der Koordinierung und Erleichterung humanitärer Initiativen [Coordination of Government Activities in the Territories, kurz COGAT] beauftragt ist, koordiniert werden, „um den Zugang und die Konfliktlösung zu gewährleisten“.

Trotz der Aussagen der GHF in ihrem vorgelegten Dokument, dass die Verteilung der Hilfsgüter innerhalb der Hilsfzentren „keine Anspruchsvoraussetzungen“ haben wird und „ausschließlich auf Grundlage des Bedarfs basiert“, gibt es Berichte, dass der Zugang zu diesen Zentren von den Hilfsempfänger*innen verlange, sich einer biometrischen Überprüfung und einer Gesichtserkennungstechnologie zu unterziehen, die von israelischen Soldat*innen durchgeführt wird, um festzustellen, wer passieren darf.

Weitere Berichte deuten auf Israels weitreichenderen Plan hin, welcher lediglich 60 LKWs mit Hilfsgütern pro Tag nach Gaza zulassen will, was eine drastische Reduzierung gegenüber den 600 LKWs darstellt, die während des kurzen Waffenstillstands zu Beginn des Jahres jeden Tag in den Gazastreifen kamen. Jens Laerke, Sprecher des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), betont, dass dieses Vorhaben Israels “nicht den Mindestanforderungen einer prinzipienfeste humanitären Hilfe entsprechen”.

Eine fremde Architektur

Die GHF wird ausschließlich von US- sowie internationalen Akteuren geführt, darunter auch mehrere US-amerikanische Militär- und diplomatisch Vertreter*innen. Es gibt keinerlei palästinensische Beteiligung in der Leitung oder Aufsicht des Vorhabens, was im Wesentlichen dazu führt, dass allen lokalen Behörden und der Zivilgesellschaft jegliche Handlungsmöglichkeit entzogen wird.

Kürzlichst wurde die GHF offiziell in Genf registriert und in ihrem Vorstand sitzen unter anderem ein Schweizer Anwalt, ein in den USA ansässiger Rechtsberater sowie ein armenischer Finanzier  — keiner der Genannten scheint über öffentlich nacchweisbare Erfahrungen oder einen Hintergrund in humanitärer Arbeit zu verfügen.

Logistik, Sicherheit und humanitäre Prinzipien

Die GHF gibt an, ihr Vorhaben seie darauf ausgelegt, unabhängig, überprüfbar und frei von Einflussnahme durch bewaffnete Akteure oder Regierungen zu sein. Sie unterstreichen die strikte Wahrung der vier Säulen humanitärer Arbeit — Menschlichkeit, Unbefangenheit, Unabhängigkeit und Neutralität — als Kern des Vorgehens der Stiftung und ihrer Tätigkeit. Ihre einzige Loyalität gelte den “notleidenden und bedürftigen Menschen, ungeachtet ihrer Identität oder der Umstände, in denen sie sich befinden”.

Hilfsgüter würden sich durch “sichere humanitäre Korridore” bewegen unter Verwendung von bewaffneten Fahrzeugen und der Sicherung des Umkreises, die durch Fachleute gewährleistet werden soll, die bereits während des kurzen Waffenstillstands im Januar diesen Jahres den Netzarim-Korridor sicherstellten.

Diese drei privaten Sicherheitsfirmen, die zuvor den besagten Netzarim-Korridor sicherten, sind UG Solutions, Safe Reach Solutions und Sentinel Foundation. Jameson Govoni ist geschäftsführender Gesellschafter bei UG Solutions, Mitbegründer der Sentinel Foundation und darüber hinaus ehemaliger Offizier für Sondereinsätze der US Army. Glenn Devitt ist Sentinels anderer Mitbegründer. Auch er diente in der US Army, jedoch als Militärgeheimdienstler mit Einsätzen im Irak sowie in Afghanistan. Die Firma Safe for Reach Solutions würde von Philip Reilly gegründet, ebenfalls ein ehemaliger US Militärgeheimdienstler, der im verschiedenen Positionen für die CIA arbeitete, unter anderem als hochrangiger paramilitärischer Offizier in Afghanistan.

Das Vorhaben der GHF gibt an, jedes sichere Verteilungszentrum könne perspektivisch außerdem möglicherweise als Ort für weitere NGO-Tätigkeiten genutzt werden. Die GHF zieht hierfür in Betracht, “die Möglichkeiten zu überprüfen, sichere Unterkünfte, Duschen, WCs und Räumlichkeiten für Arbeitsmöglichkeiten” für Hilfsorganisationen bereitzustellen, die sich für eine Ansiedlung in der direkten Umgebung der Zentren entschließen. Auf lange Sicht stellen sie sich vor, “vertrauen genießende Gemeindesprechende” für die Arbeit in diesem System zu schulen.

Kontrolle und Ausschluss

Auch wenn sie sich selbst als “neutral” bezeichnen, so etabliert die Struktur der GHF ein paralleles Logistiksystem in Gaza. Alle Hilfsgüter, die durch ihr System laufen, müssen durch von Israel anerkannte und genehmigte Korridore führen — Ashdod oder Kerem Shalom — und GHFs interne Tracking-, Sicherheits- und Prüfprotokolle erfüllen. Dieses System umgeht das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), palästinensische NGOs und bereits lang etablierte Hilfsnetzwerke, die Gazas Bevölkerung bis zuletzt mit Hilfe unterstützten.

Das Vorhaben der GHF umfasst eine Kostenaufschlüsselung in Höhe von 1,31 US-Dollar pro Mahlzeit (ca. 1,17 Euro), die sich aus 0,58 US-Dollar (ca. 0,52 Euro) für die Beschaffung und 0,67 USD (ca. 0,60 Euro) für die Bereitstelltung der Logistik, den bewaffneten Transport, die Sicherheit und Verwaltung zusammensetzen.

Hinsichtlich Finanzierung und Aufsicht ist die GHF in ausgewählte westliche Finanzinfrastruktur eingebettet. Sie arbeiten mit den Banken Truist und JP Morgan Chase zusammen sowie mit einer Schweizer Tochtergesellschaft, die von Goldman Sachs unterstützt wird. Auch Deloitte wird in der Diskussion um Prüfungszwecke erwähnt. Auch Deloitte findet Erwähnung in der Diskussion rund um die Prüfungszwecke des Vorhabens.

Ein Schatten-Governance-Vorhaben?

Die GHF betont nachdrücklich ihren ausschließlichen Fokus darauf, Leben zu retten und sieht sich als pragmatische Lösung inmitten eines kollabierenden Hilfssystems. Allerdings stellt ihre Struktur  — von US-Beamt*innen personaltechnisch besetzt, überwacht von privaten Dienstleistern mit Verbindung zur US-Armee und finanziert durch westliche finanzielle Netzwerke — eine vollkommene Verschiebung in der Kontrolle über die Hilfsgüter für Gaza dar.

Es gibt keinerlei Aufsicht durch lokale oder UN-Behörden. Die Hilfsgüter fließen durch Systeme, welche von fremden Akteuren für fremde Akteure entworfen wurde — unter Belagerung, Überwachung und Besetzung.

Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident von Israel, sagte kürzlichst, das Ziel der verstärkten Offensive seie es, den gesamten Gazastreifen militärisch zu erobern und auf unbestimmte Zeit zu besetzen. Vor diesem Hintergrund besteht das Risiko, dass die geplanten Hilfszentren der GHF sowie ihr Sicherheitsapparat nicht zu Not-Infrastruktur zu werden sondern das Gerüst einer langfristigen fremden, ausländischen Präsenz gekleidet in humanitärer Sprache.

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