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Tut mir leid, ich spreche kein Englisch. Ich spreche Fotografie.

Kategorien: Lateinamerika, Nordamerika, USA, Venezuela, Bürgermedien, Fotografie, Kunst und Kultur, Migration & Immigration, The Bridge

Schlagzeuger auf den Straßen Detroits, Michigan, USA (Foto von der Autorin, mit Erlaubnis verwendet).

Über Migration zu reden kann schwer sein, aber Zeit und räumliche Distanz können dabei helfen, den Auswanderungsprozess klarer als ein großes Ganzes zu sehen, das aus vielen einzelnen Teilen besteht. Jede Migrationsgeschichte ist einzigartig, allerdings sind diese Geschichten mit Dingen verbunden, die über ihre jeweilige Einzigartigkeit hinausgehen und sie zu einer kollektiven Lebensgeschichte verbinden. Kann diese Weisheit Menschen helfen, die sich gerade im Prozess der Auswanderung befinden oder bereits ihre Heimat verlassen haben? Keine Worte sind stark genug, um Trost zu spenden oder Rat zu bieten. Niemand ist je vollkommen bereit seine Heimat zu verlassen.

In dem Venezuela, das ich hinter mir ließ, war ich Teil einer Gruppe von Menschen, der ich mich nicht erklären musste. Alles war einfach zu verstehen: die Gestiken, die Gewohnheiten, die Gefahren, die Vergangenheit und Zukunftsaussichten – auch wenn ein Schleier eines instabilen politischen Systems über uns hing. Persönliche Identität sowie Gruppenidentität waren in unserem alltäglichen Leben impliziert, so existierten für mich Fragen wie „Wer bin ich?“ und „Wer sind die anderen?“ nicht. Zu der Zeit waren die Emigrationszahlen nicht so schrecklich hoch, wie sie heutzutage sind [1]. Das Auswandern hatte noch eine romantische Vorstellung: Wegzugehen bedeutete automatisch, dass es dir in dem neuen Land wohl ergeht.

Das Venezuela, das sich damals im Jahr 1999 im Exil entwickelte, wurde so ziemlich vom Venezuela, das zurückgelassen wurde, missverstanden. Die Beschwerden der Auswanderer wurden wegen ihres neuen Lebens von den Landsleuten nicht akzeptiert. Zur selben Zeit litten die Menschen in Venezuela aus heutiger Sicht unter der schlimmsten politischen, wirtschaftlichen und humanitären Krise in der jüngsten Geschichte des Landes. Aufgrund dessen verloren viele Emigranten ihr Mitspracherecht. Ihre politische Haltung zu ihrem Land wurde wegen der räumlichen Distanz geringgeschätzt. Die Schwierigkeiten, die sich in ihren neuen Leben ergaben, wurden nicht als tatsächliche Probleme anerkannt. Der Glaube, dass ein neues Land ein unbeschwertes Leben anbot, zumindest im Vergleich zu den schwierigen Umständen, unter denen die Menschen in Venezuela leben mussten, erfüllte die Köpfe derer, die den Auswanderern von Zuhause aus zuschauten. Gleichzeitig erachtete das Land, das diese Immigranten aufnahm, die Kritik der Neuankömmlinge als unberechtigt, geschweige denn als tatsächliche politische Teilhaber.

Die Anderen, fremde Wirklichkeiten und undurchdringliche Welten

I Ich wusste nichts von all den Dingen, als ich im Sommer 2011 in den USA ankam. Zu dem Zeitpunkt konnte ich nicht viel sagen, außer ein paar Begrüßungsfloskeln und die notwendige Entschuldigung dafür, dass ich kein Englisch sprach. Die Möglichkeit Freunde anzurufen, die noch in Venezuela lebten, um sich auszusprechen, blieb mir verwehrt. Damit eine Konversation zustande kam, brauchte ich meinen Ehemann, der mir dabei half, zu schreiben, zu lesen und zu übersetzen, was ich anderen Menschen erzählte. Dann musste er mir übersetzen, was sie mir sagten.

Das Foto wurde während des Detroit Jazz Festivals geschossen. Hinter der jungen Frau, die ohne einen Hauch von Schüchternheit direkt in die Kamera schaut, ist ein Straßenprediger, der über Vergebung und Buße spricht. Ein starker Kontrast zu der jungen Frau, die vor meiner Kamera stehen blieb und posierte, ohne dass ich sie dazu auffordern musste. (Foto von der Autorin, mit Erlaubnis verwendet).

Zusammengefasst wurde ich mit 26 Jahren zu einer Analphabetin, die vollkommen auf ihren Mann angewiesen war, wenn sie kommunizieren wollte. Aus meiner Angst heraus, schloss ich mich Zuhause ein und verbrachte endlose Stunden in totaler Isolation. Wenn jemand sein Heimatland verlässt, kann schon der kleinste Zwischenfall, der durch den Kontakt zu dieser anderen Außenwelt entsteht, eine enorme demoralisierende Auswirkung haben, die jeden in die tiefste Unsicherheit stürzen kann.

Sich zu verstecken, ist eine Art, mit der Situation umzugehen und genau das tat ich eine ganze Weile lang.

Während dieser Zeit der Abschottung wurden die Fenster meines Hauses zu meinem Lieblingsobjektiv. Diese große Öffnung in der Wand bot mir die Möglichkeit, den gesellschaftlichen Dynamiken näher zu kommen, die ich für undurchdringlich hielt. Ein Teil der Faszination, die im Beobachten der Anderen liegt, sind die Fragen, die sich aus dieser Begegnung mit einer fremden Wirklichkeit ergeben. Ebenso liegt es in der Natur der Antworten auf solche Fragen, neue unbeantwortete Fragen aufzuwerfen.

Durch Beobachten, Fragen und Antworten lernte ich, dass die Menschen, die ich sah, alle sehr unterschiedlich waren. Während die Welt, die so reich an Unterschieden war, aufblühte, verwelkte meine persönliche Identität. Ich wurde nicht als die wahrgenommen, die ich bin, Ich war nicht mehr aus Barquismeto, sondern aus Venezuela. Ich wurde sogar in eine Kategorie gesteckt, die sowohl neu als auch unverständlich für mich war: Latina. Ein mutmaßlich aufgedrückter Stempel, der keinen Unterschied zwischen einer Dorfbewohnerin aus dem südlichsten Tierra del Fuego und einer Einwohnerin der Stadt Juaréz, Mexiko, im Norden machte.

Aber eine Sache habe ich aus all dem gelernt: Ich realisierte, dass fast niemand, weder Venezolaner von hier oder dort noch die US-Amerikaner, egal aus welchem Bundestaat, die Geschichten oder die Resultate, die durch eine Begegnung mit einem Foto oder Fotografen entstehen, ablehnten. Das lernte ich, als ich den Entschluss fasste, damit aufzuhören, aus dem Fenster zu schauen und in Begleitung meiner Kamera einen Schritt hinauszuwagen.

Jetzt begleitet mich die Kamera jedes Mal, wenn ich hinausgehe.

Ausschnitte der Welt

Ein Foto zu machen, hat etwas Grenzüberschreitendes.

Das Foto ist die kleine Trophäe eines kleinen gerissenen Taschendiebs, der in den Besitz eines Ausschnitts der Welt gelangt, die stillsteht. Der Raum auf den Straßen zieht sich zusammen und alle Gesten werden bedeutungsvoll, aber ich habe das Ziel, diejenigen zu erkennen, die mich dazu bringen würden, mich zu verstecken und versuche stattdessen, sie einzufangen, zu sammeln und alle zu verstehen, wenn ich in der Stille der Nacht die Fotos vom Tag betrachte.

Ich, die sich seit Jahren isoliert hat, fand plötzlich den Mut, nach draußen zu gehen und den Menschen mit meiner Kamera zu begegnen. Als ich begann, das Lesen zu erlernen, wurden die kurzen Texte, die in den Bildern aufkamen, in die Szenerie der Menschen auf den Straßen eingebettet. Die Worte dienten als Grundlage und Unterstützung zur Verstärkung der Bilder.

Ann Arbor, Michigan (Foto von der Autorin, mit Erlaubnis verwendet).

Auch wenn meine Kommunikationsfähigkeiten sehr begrenzt waren, kamen Leute auf mich zu und wollten, dass ich Bilder von ihnen mache. Solch eine Kontrolle in einer Situation zu haben, in der ein Individuum, das zu dieser gleichgültigen Welt gehört, jemand, der in einer anderen Zeit an meinem Fenster vorbeigegangen wäre, ohne mich zu bemerken, mir direkt in die Augen schaut, war für mich eine neue Art das Thema Immigration zu erleben. Es war auch ein kleiner Triumph hinsichtlich der Unsicherheiten mit denen Einwanderer zu leben haben.

Als Venezolanerin, und durch meine Linse, schuf ich mir mein eigenes Bild von den USA – auch für mein eigenes Überleben. Meine Bilder zu teilen, ermöglichte es mir, wieder zu kommunizieren, indem ich mehr durch eine Sprache ausdrückte, die auf Gesten basierte als durch meine Stimme.

Indem ich eine Kamera nutzte, lernte ich sie zu lesen, meine neue Welt. Ich lernte zu sprechen, nicht nur Englisch oder Spanisch, sondern Fotografie. Viel wichtiger war, ich lernte, wie mir wieder in die Augen gesehen werden konnte. Fotografie war die Brücke, durch die ich verstand, dass ich die “Andere” in diesem Land war, aber die Andersartigkeit ist gut. So gut, dass es nichts gibt, das nicht fotografiert werden kann, nichts, was einem nicht das Erzählen einer neuen Geschichte zusichert.

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Dieser Artikel wurde von Studierenden des FTSK in Germersheim im Rahmen einer Lehrveranstaltung von Dr. Anastasia Kalpakidou übersetzt.