Warum die Menschen wirklich aus Honduras fliehen

Eine Mutter namens Doris mit dem Foto ihres Sohns Wilfredo Moncada, der 2018 zu den Anführer*innen der Demonstrationen gegen die Regierung gehörte. Choluteca (Honduras) am 29. Mai 2019. Bildquelle: Martín Cálix für Contraccoriente. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

Nach Angaben der Regierung von Guatemala haben zwischen dem 15. und 16. Januar 2020 mehr als 3.500 Menschen zu Fuß die Grenze nach Guatemala überquert in der Hoffnung, sich in den Vereinigten Staaten oder Mexiko ein neues Leben aufzubauen. Die Mehrheit kam aus Honduras. Nach Angaben internationaler Medien wie dem Zusammenschluss amerikanischer Hörfunksender NPR, der Tageszeitung Wall Street Journal und der Nachrichtenagentur Reuters sind diese Menschen, die mehrere Länder Zentralamerikas durchqueren, auf der Flucht vor „Armut und Gewalt“. Tatsächlich erklären aber Formulierungen wie diese nicht einmal ansatzweise, warum Menschen tausende Kilometer trampen und eine ungewisse Zukunft an der Grenze zwischen den USA und Mexiko in Kauf nehmen.

Eine neue Karawane

Menschen aus Honduras fliehen schon seit Jahren aus ihrem Heimatland. Der Begriff „Karawane“ erlangte aber erst 2018 weltweit Bekanntheit, als sich mehr als 10.000 Menschen aus Mittelamerika auf der Reise zusammenschlossen, um sich auf dem Weg durch Guatemala und Mexiko gegenseitig zu unterstützen.

Die Menschen in Honduras leben nicht nur in „Armut und Gewalt“, sondern auch in einem sogenannten Narco-Staat, einer Bezeichnung für Länder, deren politische Institutionen in illegalen Drogenhandel verstrickt sind, und dessen Führung von den USA unterstützt wird. Korruption, geschlechterspezifische Gewalt, Herrschaft von Banden, Landnahmen und eine durch den Klimawandel noch verschärfte Dürre sind in Honduras allgegenwärtig.

Und obwohl der Weg, der 2020 vor den Migrantinnen und Migranten liegt aus den Rahmen dieses Artikels überschreitenden Gründen, schwieriger ist als zuvor, haben dennoch Tausende beschlossen, dass sie außerhalb von Honduras ein besseres Schicksal erwartet als in ihrem Heimatland.

Der Flüchtlingsmarsch in Ayutla (Guatemala) am 17. Januar 2019. Bildquelle: Martín Cálix für Contraccoriente. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

Was passiert in Honduras?

Wir alle wissen, dass Korruption und Drogengeld schlecht sind.

Wenn wir aber daran denken, was schlechte Politikerinnen und Politiker tun, stellen wir uns in der Regel nicht vor, dass sie für schuldig befunden wurden, tonnenweise Kokain in die USA geschleust zu haben. Doch genau wegen dieser Anklage wurde Tony Hernández, selbst ehemaliger Politiker und Bruder des amtierenden Präsidenten Juan Orlando Hernández, im vergangenen Oktober verurteilt.

Gegenwärtig steht auch Präsident Hernández, der von der Drug Enforcement Admininstration, der US-amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde, für seinen Kampf gegen den Drogenhandel gelobt wurde, selbst im Zentrum von Untersuchungen zu seiner Rolle im Kokainhandel.

Während des Prozesses gegen Tony Hernández erklärten Zeug*innen nach Berichten der amerikanischen Tageszeitung The New York Times und der Nachrichtenagentur Reuters, der Präsident habe versucht, seinen Bruder vor der Auslieferung zu schützen und habe Bestechungsgelder in Millionenhöhe erhalten, mit denen er die politischen Kampagnen seiner Partei finanziert habe. Präsident Hernández wies die Vorwürfe zurück.

Nun könnte man sagen, dass die Menschen in Honduras solche Politikerinnen und Politiker in freien Wahlen gewählt und damit der Regierung von Hernández ihr Vertrauen geschenkt haben. Bei dieser Argumentation wird jedoch nicht berücksichtigt, dass die Bevölkerung Honduras’ diese Regierung überhaupt nicht wollte. Die Menschen in Honduras protestierten – und wurden während der Demonstrationen durch staatliche Einheiten getötet – und forderten Neuwahlen nach dem offensichtlichen Wahlbetrug bei den Wahlen im Dezember 2017, durch die Hernández an die Macht kam. Gleichzeitig wurde in den USA entschieden, die Wahl von Hernández trotzdem zu unterstützen.

Angesichts des schwerwiegenden Verdachts, dass ihr Präsident in Drogenhandel verstrickt ist, forderten die Menschen in Honduras 2019 erneut den Rücktritt des Präsidenten. Die Polizei setzte daraufhin Tränengas gegen die Demonstrierenden ein.

Ein honduranischer Polizist wirft Tränengas auf Demonstrierende, die den Rücktritt von Präsident Hernández forderten, nachdem sein Bruder Tony Hernández, selbst ehemaliger Politiker, vor Gericht wegen Drogenhandels verurteilt worden war. Tegucigalpa (Honduras) am 24. Oktober 2019. Bildquelle: Martín Cálix für Contraccoriente. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

Die nächste Option für Honduras wäre dann gewesen, auf Anti-Korruptionssysteme zu zählen, um hochrangige Kriminelle zu verfolgen, richtig? Nun, an denselben Tagen im Januar 2020, an denen Tausende Honduranerinnen und Honduraner Richtung Norden zogen, haben Präsident Hernández und die Gesetzgebenden diese Hoffnung zunichte gemacht.

Die Behörden in Honduras entschieden, das Mandat der internationalen Unterstützungsmission zur Bekämpfung von Korruption und Straflosigkeit in Honduras (Misión de Apoyo contra la Corrupción y la Impunidad en Honduras, kurz: MACCIH) zu beenden. Nach Angaben der gemeinnützigen Journalist*innen- und Ermittlungsorganisation Insight Crime, die auf organisierte Kriminalität in Lateinamerika und der Karibik spezialisiert ist, hat MACCIH hochkarätige Korruptionsfälle untersucht. „Die Auflösung von MACCIH ist kein gutes Zeichen für den Kampf gegen Korruption in einer Region, die so stark von Bestechung betroffen ist“, so Insight Crime.

Weitverbreitete Korruption ist aber nicht nur illegal und unmoralisch, sie beeinträchtigt vor allem auch die Gesellschaft.

Wenn zum Beispiel „Korrupte dem Gesundheitsministerium 49 Lempira [etwa 1,66 €] von 100 Lempira [etwa 3,39 €] stehlen“, wie der Nationale Antikorruptionsrat berichtete, führt dies das Gesundheitssystem in Honduras an den Rand des Zusammenbruchs.

Im vergangenen Jahr erlebte Honduras die schlimmste Dengue-Epidemie der letzten 50 Jahre. Mehr als 400 Menschen starben, so die amerikanische Tageszeitung New York Times, die auch berichtete, dass die Gesundheitskrise durch die Auswirkungen des Klimawandels und eine nicht funktionierende Regierung noch zusätzlich verschärft werde.

Ein an Dengue-Fieber erkranktes Kind im Universitäts-Schulkrankenhaus von Tegucigalpa. Zur Zeit der Aufnahme des Fotos war der Raum mit Patient*innen überfüllt. Tegucigalpa (Honduras) am 24. Juli 2019. Bildquelle: Martín Cálix für Contraccoriente. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

Die Zukunft des Landes steht aber auch deshalb auf dem Spiel, weil das Bildungssystem nicht effektiv ist. Am Tag, als der Flüchtlingsmarsch in der honduranischen Stadt San Pedro Sula aufbrach, veröffentlichten honduranische Medien eine weitere symbolische Statistik über den Zustand des Landes, die besagte, dass eine Million honduranische Kinder nicht zur Schule gehen. Sie sind entweder zu arm dafür oder glauben, dass sich die Schule nicht lohnt, weil sie danach sowieso keine Arbeit finden würden.

Im vergangenen Jahr beschloss der Nationalkongress von Honduras eine Reform des Bildungs- und Gesundheitssystems. Für viele Honduranerinnen und Honduraner ebnet dieser Schritt den Weg für noch mehr Korruption und zur Privatisierung dieser beiden Sektoren. Im Mai und Juni 2019 trugen die Menschen Honduras’ ihren Unmut auf die Straßen und wurden wieder mit Tränengas und Kugeln konfrontiert. Die Gesetzgeber setzten die Reformen aus.

Röntgenaufnahme des Arms eines Studenten mit einem Kugelsplitter nach der Razzia am 24. Juni 2019, bei der die Militärpolizei in eine Universität eindrang und mit Tränengas und scharfer Munition auf Studierende schoss. Tegucigalpa (Honduras) am 27. Juni 2019. Bildquelle: Martín Cálix für Contraccoriente. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

Zusätzlich zur Unterdrückung durch die Kräfte des eigenen Staates müssen sich die Menschen in Honduras aber darüber hinaus noch innerhalb der Regeln bewegen, die von Banden aufgestellt werden. In vielen Vierteln üben Banden, oft bestehend aus verarmten Jugendlichen, die in die Kriminalität abrutschen, de facto die Kontrolle aus und erpressen und bedrohen die Anwohnenden. Der Tod ist an der Tagesordnung in einem Land, in dem es 2019 mehr als 42 Tötungsdelikte pro 100.000 Einwohner*innen gab. Die Antwort der honduranischen Regierung auf die Banden sind, wie könnte es anders sein, noch mehr Soldaten.

Aber nicht nur die Gewalt durch Banden stellt eine große Bedrohung dar, auch geschlechterspezifische Gewalt ist in allen Schichten der Gesellschaft vertreten. Honduras hat nach Angaben der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (United Nations Economic Commission for Latin America and the Caribbean, kurz: ECLAC) die zweithöchste Rate an Femiziden auf dem amerikanischen Kontinent. Allein während der ersten beiden Januarwochen 2020 wurden dort fünfzehn Frauen getötet.

Doña Blanca sitzt vor einer Vitrine, die Fleisch warmhält an ihrem Essensstand und schneidet Zwiebeln und Karotten. Tegucigalpa (Honduras) am 01. März 2019. Foto: Martín Cálix.

In ländlichen Gebieten riskieren Indigene und Bauern ihr Leben, um ihr Zuhause gegen Landraub zu verteidigen. Der Mord an der bekannten indigenen Umweltaktivistin Berta Cáceres, die 2016 von Bewaffneten in ihrem Haus getötet wurde, ist bekannt und hat zumindest teilweise Gerechtigkeit erfahren.

Über den Fall von Berta Cáceres wurde von den Medien vielfach berichtet, viele andere Morde an Umweltaktivistinnen und -aktivisten bleiben jedoch im Dunkeln.

Die internationale Nichtregierungsorganisation Global Witness (etwa: gloable*r Zeug*in) bezeichnete Honduras 2017 als „das tödlichste Land der Welt für Umweltaktivist*innen“. Anfang Januar 2020 wurde der indigene Anführer Vicente Saavedra tot aufgefunden. Auch die Angehörigen der Volksgruppe der Garifuna, die ebenfalls mit der Bedrohung durch die Vertreibung vom Land ihrer Vorfahr*innen durch den Tourismus oder internationale Wirtschaftsprojekte konfrontiert sind, verteidigen ihr Land und sehen sich ebenfalls Gewalt ausgesetzt.

Zu diesen wirtschaftsbezogenen Bedrohungen kommen noch die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels, die die Landwirtinnen und Landwirte zwingen, ihre vertrocknenden, sterbenden Mais- und Bohnenkulturen aufzugeben.

Und es gibt noch viel mehr. Diese Geschichte zeigt nur ganz oberflächlich, warum Honduranerinnen und Honduraner aller Altersgruppen, Geschlechter, sexueller Orientierungen und ethnischer Zughörigkeiten den gefährlichen Weg der Migration hoffnungsvoller finden, als in Honduras zu bleiben.

Die Honduranerinnen und Honduraner fliehen vor mehr als nur „Gewalt und Armut“. Sie fliehen vor einem mörderischen, ausbeuterischen, rassistischen, frauenfeindlichen und von Drogengeld gestützten System, das sich trotz ihrer ganzen Bemühungen nicht ändert.

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