Menschenrechtsgruppen in Tunesien gehen gegen geplantes Polizeischutzgesetz auf die Straße

Ein Polizist tritt einen Demonstranten, der am 6. Oktober gegen das geplante Polizeischutzgesetz protestierte. Aufgenommen von Nawaat. Verwendet mit Genehmigung.

In der Stadt Bardo brachen Proteste gegen das tunesische Parlament aus, während dieses einen umstrittenen Gesetzentwurf zum Schutz von Polizeibeamten prüfte. Menschenrechtsaktivisten und die Jugendbewegung Hasebhom („Zieh sie zur Verantwortung“) demonstrierten am 6. und 8. Oktober vor dem Parlament gegen das Gesetz, das, sollte es angenommen werden, Sicherheitskräfte vor einer Strafverfolgung schützt, wenn sie unangemessene tödliche Gewalt anwenden.

Die Entscheidung des Parlaments nur wenige Wochen vor dem zehnten Jahrestag der Revolution, die die Herrschaft des Diktators Ben Ali beendet hatte, eine Plenarsitzung abzuhalten, um über den Gesetzentwurf zu verhandeln, erntete Kritik von Menschenrechtsgruppen und Aktivist*innen. Diese kämpfen bereits gegen den Gesetzesvorschlag, seit er 2015 ins Parlament eingebracht wurde.

Als Resultat sind die Aktivist*innen online sowie offline zur Zielscheibe der Polizei geworden. Diese Angriffe auf die Demonstrations- und Meinungsfreiheit sind beunruhigend. Außerdem bestätigen sie die Sorge der Menschenrechtsorganisationen, dass schwerwiegende Rechtsbrüche und anhaltende Lücken im Rechtsschutz den Fortschritt bedrohen könnten, den Tunesien beim Schutz der Menschenrechte seit der Revolution von 2011 gemacht hat.

Das Parlament kündigte am 8. Oktober an, die Verhandlung über den Gesetzentwurf aufzuschieben, während Aktivist*innen weiterhin fordern, ihn komplett zu kippen.

„Eine Bedrohung“ für Rechte und Freiheiten

Die letzte Fassung der Gesetzesvorlage Nr. 25 des Jahres 2015 über die gerichtliche Verfolgung von Übergriffen gegen Streitkräfte enthält einige Verbesserungen gegenüber der ursprünglichen Fassung, die dem Parlament am 13. April 2015 vorgelegt worden war. So sah die vorherige Fassung beispielsweise Strafen für sogenannte „verunglimpfende“ Äußerungen gegenüber der Polizei vor.

Die in der neueren Fassung vorgenommenen Nachbesserungen zerstreuen jedoch keineswegs die Befürchtungen der Menschenrechtsorganisationen.

Am 6. Oktober unterzeichneten mehr als 20 zivilgesellschaftliche Organisationen eine gemeinsame Erklärung und riefen eine Initiative mit dem Titel „Ein beunruhigender Start ins parlamentarische Sitzungsjahr“ ins Leben. Darin fordern sie das Parlament auf, den Entwurf für das Polizeischutzgesetz sowie weitere menschenrechtlich bedenkliche Gesetzentwürfe abzulehnen, darunter den Entwurf für ein Notstandsgesetz und Gesetzentwürfe zur Abänderung des Erlasses, der die Medienausstrahlung regelt. Laut der Erklärung stellt der Entwurf für das Polizeischutzgesetz „trotz der darin vorgenommenen Änderungen nach wie vor eine Gefahr für die Rechte und Freiheiten aller Bürgerinnen und Bürger dar“.

Das Gesetz verstößt gegen Artikel 21 der tunesischen Verfassung von 2014, demzufolge „alle Bürgerinnen und Bürger ohne Unterschied vor dem Gesetz gleich sind.“ Artikel 7 des Gesetzes, der Sicherheitskräfte vor einer Strafverfolgung schützt, wenn sie unverhältnismäßige und unnötige tödliche Gewalt gegen Bürger*innen in Situationen anwenden, die als „gefährlich“ beurteilt werden, verstößt zudem gegen die von Tunesien ratifizierten internationalen Abkommen, insbesondere im Hinblick auf die Wahrung des Rechts auf Leben und die Bekämpfung der Straflosigkeit.

In einer Verlautbarung von Amnesty International erklärte Emna Guellali, stellvertretende Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika:

Time and time again, Tunisian and international civil society organizations have fought against this bill, warning of the detrimental impact it would have on the rule of law. If adopted, this draft law would reinforce the culture of impunity and send an alarming message to the security forces that they have the green light to use force as they see fit without worrying about being held accountable.

Zivilgesellschaftliche Organisationen in Tunesien haben immer wieder gegen dieses Gesetz angekämpft und vor den schädlichen Auswirkungen gewarnt, die es auf den Rechtsstaat haben würde. Sollte es beschlossen werden, würde dieses Gesetz die Kultur des ungestraften Davonkommens weiter verfestigen und den Sicherheitskräften ein gefährliches Signal senden, dass sie Gewalt anwenden können, wann immer sie es für richtig halten, ohne Angst haben zu müssen, dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.

Die Polizeiverbände berufen sich auf die erhöhte Terrorgefahr in Tunesien nach der Revolution und üben so Druck auf das Parlament aus, damit dieses den Gesetzentwurf annimmt. Allerdings gibt es bereits zahlreiche Gesetze und Verordnungen, die die Arbeit der Sicherheitskräfte regeln und schützen sollen und die kriminelle Handlungen gegen die Sicherheitskräfte hart bestrafen.

Demonstrierende und Aktivisten im Visier

Bei der Protestaktion am 6. Oktober hielten die Demonstrierenden Transparente und Schilder in die Höhe, mit denen sie gegen Gewalt durch Polizeiangehörige und deren ungestraftes Davonkommen protestierten. An der Demonstration beteiligten sich außerdem Angehörige der LGBTQI+-Community, um Polizeigewalt gegen LGBTQI+-Personen anzuprangern.

Bürgerjournalisten und das lokale Medium Nawaat veröffentlichten Aufnahmen und Augenzeugenberichte, die die Polizei schwer belasten und sie dabei zeigen, wie sie mit körperlicher Gewalt gegen Demonstrierende vorgeht. Außerdem wurden vier Demonstrierende drei Stunden lang in der Polizeidienststelle von Bardo festgehalten, ohne Kontakt zu einem Anwalt aufnehmen zu können, was laut der tunesischen Verfassung eine schwerwiegende Verletzung ihrer Rechte darstellt. Auch einige Abgeordnete, die sich den Demonstrierenden angeschlossen hatten, wurden angegriffen, unter ihnen Yassine Ayari, der in einer lokalen Radiosendung von der Attacke berichtete.

Global Voices hat mit einer Aktivistin, Asrar Ben Jouira, gesprochen. Sie koordiniert die Initiative Hasebhom und ist Mitglied des Tunesischen Bündnisses für Menschenrechte. Ben Jouira berichtet, sie sei Übergriffen ausgesetzt gewesen und habe verbale und körperliche Gewalt durch Polizisten, sowohl uniformiert als auch in Zivilkleidung getarnt, beobachtet. Ein Polizist habe sie überdies sexuell belästigt und an der Brust berührt. Anderen Demonstrantinnen habe er an den Hintern gefasst und sie verbal belästigt. Weiter berichtet sie, dass Polizisten ihre privaten Handys benutzt hätten, um sie und die anderen zu filmen, obwohl Polizeitechniker mit professionellen Kameras vor Ort waren.

Als sie erfahren habe, dass zwei Aktivistinnen festgenommen worden waren, sei sie zum Polizeirevier von Bardo gegangen, um sicherzustellen, dass es ihnen gut ging und sie anwaltlichen Beistand hatten. Ein Polizist habe sie ins Innere des Reviers geführt und ihr suggeriert, sie könne die beiden sehen. Doch dann habe er die Tür hinter ihr abgeschlossen und ihr mitgeteilt, sie sei ebenfalls festgenommen, man werfe ihr „aufrührerische Handlungen“ vor. Sie sei auf einem der während der Proteste aufgezeichneten Videos zu sehen.

Ein anderer Polizist habe ihr einen Post auf der Facebook-Seite von Hasebhom gezeigt, in dem der Gesetzentwurf vom Hocharabischen in den tunesischen Dialekt übersetzt worden war, und zu ihr gesagt: „Wir wissen, dass du das warst.“

Asrar und die anderen Aktivistinnen kamen erst frei, als sich mehrere Abgeordnete einschalteten.

Angriffe auf Aktivisten wegen ihrer Meinungen im Internet

Am sechsten Oktober organisierten Al Bawsala und andere zivilgesellschaftliche Gruppen einen Livestream auf Facebook, um die Gesetzentwürfe anzuprangern, die eine Bedrohung für die Menschenrechte darstellen. Yosra Frawes, Vorsitzende des Tunesischen Vereins demokratischer Frauen (ATFD), kritisierte die Polizeiverbände wegen „illegaler Praktiken“ wie der „Organisation systematischer Kampagnen zum Schikanieren von Bürgerinnen und Bürgern in den sozialen Netzwerken sowie Hassrede gegen Gender-Identität.“

Die Aktivistin Myriam Bribri erhielt am 7. Oktober eine polizeiliche Vorladung aufgrund ihrer Posts, in denen sie den Gesetzentwurf kritisiert hatte. Später warf die Staatsanwaltschaft ihr „Beleidigung anderer über soziale Medien“ vor. Sie wurde vorläufig freigelassen und wartet nun auf ihren Prozess am 14. Dezember. Zusätzlich wurde sie in den sozialen Medien attackiert. Das tunesische Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte (FTDES) bekundete seine Solidarität mit der Aktivistin in einer Erklärung, in der es heißt:

This summons comes after she was systematically harassed whether through her page on social media or threatening phone calls coming from personal and administrative phone numbers of police union members.

Diese Vorladung erreicht sie nach anhaltenden Schikanen über ihre Seite in den sozialen Medien und durch Drohanrufe von privaten und dienstlichen Telefonnummern von Mitgliedern des Polizeiverbands.

Amtsmissbrauch durch Polizei und Sicherheitskräfte ist noch immer ein ernstes Problem in Tunesien, da das Land sich seit November 2015 dauerhaft im Ausnahmezustand befindet. Die Zeit war seither geprägt von der strafrechtlichen Verfolgung friedlicher Äußerungen sowohl online als auch offline, von Angriffen auf Journalistinnen und Journalisten, von willkürlichen polizeilichen Festnahmen und von zahlreichen Fällen von Polizeibrutalität und Folter.

Als Hasebhom am 8. Oktober die zweite Protestaktion durchführte, brach das Parlament seine Sitzung ab, ohne über den Gesetzentwurf zu verhandeln, und verschob die Entscheidung, wie schon im Jahr 2017, auf unbestimmte Zeit.

Die Aktivistinnen und Aktivisten feierten diesen kleinen Triumph. Doch zur Ruhe werden sie erst kommen, wenn das Gesetz gänzlich zurückgezogen oder abgelehnt worden ist. Die tunesische Zivilgesellschaft wird ihren Kampf gegen das geplante Polizeischutzgesetz fortführen. Die tunesischen Behörden sollten das Recht auf friedlichen Protest respektieren und von willkürlichen Festnahmen absehen, auch und gerade angesichts des anhaltenden Ausnahmezustands.

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