- Global Voices auf Deutsch - https://de.globalvoices.org -

Online-Repressionen gegen Amazigh-Demonstrierende der Hirak-Bewegung in Algerien

Kategorien: Nahost & Nordafrika, Algerien, Bürgermedien, Kriege & Konflikte, Menschenrechte, GV Advocacy

Demonstrierende in der algerischen Stadt Tizi Ouzou halten die algerische Flagge und die Amazigh-Flagge in die Höhe. Aufgenommen von Kader Haouali, verwendet mit Genehmigung.

An einem Freitagmorgen im Spätsommer 2019 ging eine Frau auf das Stadtzentrum von Algier zu und lief direkt vor einer Reihe Polizisten entlang. Mit lauter Stimme forderte sie die Entlassung des mittlerweile verstorbenen Generals Ahmed Gaid Salah – Stunden bevor am Nachmittag desselben Tages die Anti-Regierungsdemonstration durch die Stadt zog.

Die Amazigh-Flagge wurde im Juli 2019 verboten.

Früher in jenem Sommer, im Juni 2019, hatte Gaid die Amazigh-Flagge verboten [1], die von dem Berbervolk der Kabylen, auch Amazigh genannt, verwendet wird. Kurz darauf wurden Dutzende Personen bei Demonstrationen verhaftet, weil sie die Flagge zusammen mit der algerischen Nationalflagge im Zuge der sogenannten „Hirak-Proteste“ geschwenkt hatten. So wird der Volksaufstand bezeichnet, der im Februar gegen die Kandidatur von Präsident Abdelaziz Bouteflika für eine fünfte Amtszeit ausbrach.

Meziane Abane, der Journalist, der die Frau gefilmt hat, sagte dazu: „Diese Frau hat sich in zweierlei Hinsicht weit vorgewagt: Zum einen werden in den Morgenstunden mehr Menschen festgenommen und zum anderen ist es unvorstellbar, über Gaid zu sprechen.“

Meziane postete das Video [2] auf dem Facebook-Auftritt seiner Nachrichtenseite L'avangarde Algérie [3] (die algerischen Behörden haben die Seite vor Kurzem gesperrt). Nur wenige Augenblicke später hagelte es Beschimpfungen und die Kommentarspalte füllte sich mit Einträgen wie: „Du bist ein Anhänger der Franzosenherrschaft.“ „Deine Mutter ist Frankreich.“ oder „Sohn Frankreichs“. Innerhalb eines Tages wurde das Video eine Million Mal angesehen und vier Millionen Mal kommentiert.

Die Bevölkerung der Region Kabylei wird oft mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich in Verbindung gebracht. Internettrolle hetzen gegen die Menschen aus der Kabylei, indem sie sie beschuldigen, Separatist*innen zu sein und die „nationale Einheit“ zu bedrohen.

In einem Telefoninterview mit Global Voices sagt Abane: „Ich habe angefangen, die Macht [der Internettrolle] zu begreifen. Ich habe mich gefragt: Wann hören sie auf? Werden sie überhaupt aufhören? Um sechs Uhr morgens haben sie dann aufgehört.“

Abane stammt aus der Gemeinde Bouira in der Kabylei, einer bergigen Gegend am Mittelmeer und Heimat des Volks der Amazigh. Die Kommentare – die Teil eines politischen Konflikts sind – richten sich in rassistischer Weise gegen Aktivistinnen und Aktivisten aus der Kabylei.

Die Kabylei war die Hochburg der Hirak-Bewegung. Die Proteste gingen dort auch nach der Abdankung Bouteflikas im April noch jeden Dienstag und Freitag weiter, mit der Forderung nach einer Reform des gesamten Staatswesens (und dauerten an, bis sie im März infolge der Auswirkungen von COVID-19 im Interesse der allgemeinen Gesundheit zum Stillstand kamen).

Die Aktivistinnen und Aktivisten der Hirak-Bewegung boykottierten die landesweiten Wahlen im Dezember. Bei diesen gaben etwa 40 % der Gesamtbevölkerung ihre Stimme ab [4], während in Teilen der Kabylei fast 100 % der Wahl fernblieben.

Der Rassismus gegenüber den Aktivistinnen und Aktivisten und Bürgerinnen und Bürger aus der Kabylei ist nicht neu, hat sich aber Abane zufolge 2019 verschärft.

Historische Verleumdung durch die Bezeichnung „Zouave“

Algerischer Zouave der französischen Armee 1886, aus der Militärserie der Zigarettenfirma Kinney Tobacco Sweet Caporal (N224) via Wikipedia via Kinney Brothers Tobacco Company [5] / C.C.0 [6].

Im April wurde der algerische Journalist Khaled Drareni, der über die Hirak-Proteste berichtet hatte, wegen Aufwiegelung und Angriffs auf die nationale Einheit zu einer achtmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt [7]. In einem Interview mit Global Voices im vergangenen Jahr sagte Khaled, dass seine Berichterstattung über die Bewegung etliche Kommentare provoziert habe, die immer wieder neu kopiert und eingefügt wurden. Darin sei er beschuldigt worden, für Frankreich zu arbeiten oder von Frankreich bezahlt zu werden und als „Zouave“ beschimpft worden.

Der Audruck “Zouave” bezeichnete ursprünglich eine Gruppe Algerier aus der Kabylei, die während der französischen Besatzung seit 1830 als Teil einer kleinen Infanterieeinheit innerhalb der französischen Armee eingesetzt wurden, erklärt Ouissal Harize, Doktorandin an der Universität Durham. Sie untersucht Gewalt in Algerien als Erbe des Kolonialismus.

Über den Ursprung der Bezeichnung gibt es verschiedene Überlieferungen. Harize führt sie auf das kabylische Wort „izouf“ zurück, das „werfen“ bedeutet. Der Ausdruck könne jedoch auch durch die fehlerhafte arabische Aussprache des Wortes „agawaw“ – eines regionalen Zusammenschlusses kabylischer Stämme – entstanden sein.

Anfang der 1860er Jahre bezeichneten dann weitere Armeen ihre Infanterieregimenter als „Zouaves“. Außerdem wählten europäische Maler wie Vincent van Gogh die Zouaves gern als Motiv für ihre Bilder.

Während sich Kabylen in der französischen Armee tatsächlich nachweisen lassen, werde die Bezeichnung heute, so Harize „von einigen verwendet, um sämtliche Kabylen anzugreifen und zu verleumden“ und diene daher als Mittel rassistischer Diskriminierung.

Nacer Djabi, Professor für Soziologie an der Universität Algier erklärt, es sei „ein ideologischer Kampf zwischen arabischen Nationalisten und den Amazigh-Bewegungen“.

The Arab nationalists call people from Kabylie zouaves to say that they were with colonisation at the start, [in order] to create a complex for the Kabyle people who present themselves as great revolutionaries during the war for independence. It is a manipulation of national history for contemporary politics.

Die arabischen Nationalisten bezeichnen die Menschen aus der Kabylei als Zouaves, um damit auszudrücken, diese seien von Beginn an für die Kolonisierung gewesen, [in der Absicht] die kabylische Bevölkerung über einen Kamm zu scheren, während diese sich selbst als besonders revolutionär während des Unabhängigkeitskrieges darstellt. Die Nationalgeschichte wird für aktuelle politische Zwecke manipuliert.

‘Boshafte Hassrede’

Laut Redouane Boudjema, Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaften an der Universität Algier, benutzen die Trolle die historische Anrede Zouave, um eine Verschwörung zu konstruieren, bei der die Hirak-Bewegung „von der säkularen, französisch-berberischen Elite gesteuert wird, die auf den Zug der Proteste aufzuspringen versucht.“

Boudjema zufolge wurden Falschinformationen über bedeutende historische Persönlichkeiten wie Hocine Ait Ahmed verbreitet, den ersten Anführer im Kampf gegen die Kolonialherrschaft und Angehörigen der provisorischen Regierung nach der Unabhängigkeit, bevor er zurücktrat und die erste Oppositionspartei Algeriens gründete.

Boudjema erläutert:

Fake news about Algerian history is used to feed a hateful, toxic discourse against a region [Kabylie], which was always at the vanguard of the struggle for democratic transition.

Fake News über die algerische Geschichte werden benutzt, um einen hasserfüllten, vergifteten Diskurs gegen eine Region [die Kabylei] zu schüren, die immer an der Spitze des Kampfes für einen demokratischen Machtübergang stand.

Während des vergangenen Jahres hatte das herrschende Regime diesen feindseligen Diskurs gegen die Kabylei genutzt, um die Hirak-Bewegung zu schwächen.

Die „Amazigh“ gelten laut Verfassung als Grundbestandteil der algerischen Identität. In den letzten Jahren haben die Behörden außerdem Schritte zur Integration der Amazigh-Kultur unternommen. So wurde die Sprache der Amazigh im Jahr 2016 zur Amtssprache erklärt [8] und im Jahr 2018 wurde der erste Monat des Amazigh-Kalenders – Yannayer – als offizielle Ferienzeit festgelegt.

Trotzdem unterdrückte Gaid im Juni 2019 Ausdrücke der Amazigh-Identität während der Hirak-Proteste, indem er ihre Flagge verbot und jene, die sie geschwenkt hatten, verhaften ließ.

Menschen demonstrieren mit der Amazigh-Fahne auf den Straßen in Tizi Ouzou, Algerien. Aufgenommen von Kader Houali. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

Kader Houali, Menschenrechtsanwalt aus Tizi Ouzou in der Kabylei sagt: „Diskriminierung gab es in der Kabylei schon lange vor dem 22. Februar. Sie fand auf institutioneller Ebene statt.“ Er verweist auf die lange Zeit, die es nach der Unabhängigkeit bis zur Anerkennung der Sprache gedauert habe. Diese Form der Diskrimierung gebe es aber sowohl in der Gesellschaft als auch im System und sie werde von einigen Personen des öffentlichen Lebens und der Presse angeheizt.

Zusammen mit zwei anderen Anwälten hat Houali Anzeige gegen Naima Salhi, die Vorsitzende der „Partei der Gleichheit und der Verkündung“ (PEP) erstattet [9], wegen „Anstachelung zu Hass und Rassismus und wegen des Aufrufs zur Tötung kabylischer Bürgerinnen und Bürger“. Sie sei nur eine von mehreren Personen in Politik und Presse, die „alles bekämpfen, was anders [nicht arabisch und nicht islamisch] ist“, erklärt er.

Laut Houali nutzt Salhi die Facebook-Seite ihrer Partei, um Videos zu teilen, in denen die Bevölkerung dazu aufgerufen wird, „die Kabylen auszugrenzen und die sogenannten Zouaves und die „Satanistengemeinde“ hinzurichten. Das ist ein Aufruf  zu Mord und Gewalt.“ Und junge Bloggerinnen und Blogger verbreiteten ähnliche Aufrufe, sagt Houali.

In einem Video [10], das Ende 2019 veröffentlicht wurde, erklärt Salhi, die Kabylen seien keine Algerier, sondern „Eindrinlinge, die von den Vandalen [11] abstammten“. Weiter erklärt sie, es sei eine Schande, dass „die Algerier diesen Hunden erlauben, zu tun und zu lassen, was sie wollen.“

In einem anderen Video [12], das nach dem Tod von Salah am 23. Dezember 2019 [13] aufgezeichnet wurde, warnt Salhi: „Hütet euch vor dieser Bande und vor dieser Fahne.“

In einer Reihe diffamierender Kommentare wirft Salhi den Kabylen vor, sie seien Juden und „deshalb werden wir nicht weiter mit euch reden.“ Außerdem bezeichnet sie die verbotene Amazigh-Flagge als „Zouave-Flagge“.

Da es kein offizielles Gesetz gegen rassistische oder herkunftsbezogene Diskriminierung gibt, hofft Houali, dass man das Strafrecht anwenden könnte, das „die Bedrohung der nationalen Einheit“ unter Strafe stellt. Allerdings wird dasselbe Gesetz paradoxerweise dazu gebraucht, die Demonstrierenden, die die Amazigh-Flagge schwenken, zu verhaften.

Abane glaubt, dass die Anti-Zouaves-Kampagne einige Demonstrierende zum Aufgeben veranlasst hat und fügt hinzu: „Die Ablehnung des als anders Empfundenen ist reinster Rassismus. Die Menschen aus der Kabylei werden angegriffen und weder Facebook noch die algerische Justiz tun etwas dagegen.“

Im Moment kann er nichts tun, außer die ständigen Beschimpfungen auf seiner Facebook-Seite herauszufiltern. Das stoppt die Trolle jedoch nicht. Sie umgehen den Filter, indem sie lediglich einen Buchstaben hinzufügen und ihn „Azouave“ nennen.

Dieser Artikel ist Teil der Reihe „Identitätsmatrix: Eine Plattform für Bedrohungen der Meinungsfreiheit in Afrika“. Die Beiträge befassen sich mit Hassrede im Internet, die gegen Identität hetzt und Diskriminierung aufgrund von Sprache und Herkunft, Verleumdung und Mobbing (insbesondere gegen Aktivistinnen und Journalistinnen) auf digitalen Plattformen in sieben afrikanischen Staaten: Algerien, Kamerun, Äthiopien, Nigeria, Sudan, Tunesien und Uganda. Das Projekt wird finanziert vom Fonds für digitale Rechte Afrikas [14], einem Teil der Kooperationsgemeinschaft internationale IT- und Kommunikationspolitik für Ost- und Südafrika (CIPESA [15]).