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Zeit, das Thema ‘psychische Gesundheit nach der COVID-19 Pandemie’ anzugehen

Kategorien: Nicaragua, Bürgermedien, Gesundheit, COVID-19, The Bridge

Bildnachweis: Oscar Navarrete [1], Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

Wir Menschen neigen dazu, die geistige und emotionale Gesundheit unseres Körpers herunterzuspielen. Wir machen Witze wie “Ich muss verrückt geworden sein” oder “Ich habe ein Gedächtnis wie ein Sieb”. Dies können Schutzmechanismen gegen tatsächliche unterschwellige Sorgen sein; ein Weg, um der Verschlechterung unserer kognitiven Leistung zu entgehen oder vielleicht auch einfach Unwissenheit. Jede dieser Möglichkeiten ist berechtigt, da wir alle unterschiedlich und individuell auf Dinge und Situationen mit Gefühlen reagieren, sie verarbeiten und interpretieren. Deshalb lassen Sie uns über die Auswirkungen, die COVID-19 auf unsere psychische Gesundheit hat, reden und darüber, wie dieses Erkrankung möglicherweise zur Verschlechterung der kognitiven Funktionen bei Überlebenden des Virus führen kann. Diese Schäden könnten irreversibel sein, wenn wir die Situation falsch angehen.

Stellen wir uns vor, wir wären in Nicaragua, meinem Herkunftsland. Ein Land, in dem es weder Maßnahmen zur Unterstützung der psychischen Gesundheit noch eine spezifische Gesetzgebung [2] dazu gibt. Als Medizinstudent hatte ich die Möglichkeit, das Gesundheitssystem meines Landes aus interner Sicht zu erleben und musste feststellen, dass es viele Schwächen aufweist. Aufgrund anhaltender politischer Krisen und Naturkatastrophen zählte die Gewährleistung der psychischen Gesundheit des Volkes bisher nicht zu den Prioritäten des Landes. Der Staat vernachlässigt und investiert nicht genug in diesen so wichtigen Bereich der Gesundheit. Daher ist die Zukunft, was die Bevölkerung Nicaraguas im Bezug auf die vollständige Genesung derer, die eine COVID-19-Erkrankung überlebt haben, äußerst unsicher.

Nachdem ich mit jemandem gesprochen habe, der ein Trauma aufgrund von Atemnot erlitten hatte, und ich einen Artikel im Magazin The Atlantic über das delirante Syndrom [3] und dessen Zusammenhang mit dem Coronavirus gelesen habe, bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass wir über die psychische Gesundheit und mögliche Verschlechterungen von psychischen Störungen derer sprechen müssen, die eine COVID-19-Erkrankung überlebt haben.

Delirium oder Verwirrtheitszustände

Es ist unmöglich, über COVID-19 zu sprechen, ohne dabei das Acute Respiratory Distress Syndrome (ARDS), auch akutes Atemnotsyndrom genannt, zu erwähnen. Dabei handelt es sich um einen massiven Abfall des arteriellen Sauerstoffpartikeldrucks (Hypoxämie), der mit einer schweren Lungenschädigung einhergeht. Das Syndrom erfordert normalerweise eine aggressive Behandlungsweise, wie zum Beispiel künstliche Beatmung. Zudem müssen die Patient*innen auf der Intensivstation behandelt werden, um sie zu stabilisieren. Laut Forscher*innen [4], kann Hypoxämie [5], die typisch für ARDS ist, bei Intensivpatien*innen möglicherweise ein Delirium, auch “Verwirrtheitszustand” genannt, auslösen.

Laut des psychiatrischen Handbuchs [4], das von den Forschern Juan Lopez-Ibor Aliño und Manuel Valdés Miyar verfasst wurde, erleben Patient*innen in diesem Zustand möglicherweise eine veränderte Wahrnehmung sowie sich über einen längeren Zeitraum entwickelnde Veränderungen ihrer kognitiven Funktionen.

Der Artikel [6] im Magazin The Atlantic enthält Berichte von Personen, die eine COVID-19-Erkrankung überlebt haben. Diese erzählen, das entsetzlichen Gefühl gehabt zu haben, dass ihre Arme und Beine amputiert worden oder sie auf ihrer eigenen Beerdigung seien. Über viele Jahre haben Wissenschaftler*innen die direkte Verbindung zwischen ARDS und der Entstehung eines Deliriumzustandes bei Intensivpatient*innen untersucht und dabei noch schockierendere Ergebnisse entdeckt. Wie Hopkins et al. [7] mit ihrer Studie belegen, entwicklen Patient*innen, die diese Deliriumepisoden überstehen, mit der Zeit kognitive Störungen in manchen Hirnfunktionen wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Konzentration, Geschwindigkeitswahrnehmung oder andere exekutive Funktionen des Gehirns. Jedoch bleiben diese Störungen unentdeckt.

Angst und Depressionen

Nun möchte ich den Fokus auf zwei Erkrankungen lenken, an denen zwar viele Menschen leiden, über die aber trotzdem nur wenige etwas wissen: Angst und Depressionen. Laut des nicaraguanischen Psychologen Junieth Cruz [8] ist es sehr wahrscheinlich, dass die meisten Menschen mindestens einmal im Leben eine Angstepisode erleiden, wir allerdings gesundheitlich nicht genug aufgeklärt sind, um die Symptome zu erkennen.

Studien im Bezug auf ehemalige Intensivpatient*innen [9] haben gezeigt, dass viele Patient*innen nach ihrer Entlassung psychologische Probleme, wie zum Beispiel Albträume, Panikattacken, Agoraphobie (Platzangst), Angst oder Depressionen entwickeln. Darüberhinaus liegt häufig eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) vor, bei der die Betroffenen eine Hypervigilanz (extreme Wachsamkeit) erfahren, ein Vermeidungsverhalten an den Tag legen oder traumatische Erfahrungen erneut durchleben.

Die Symptome der Depression scheinen sich im Laufe des ersten Jahres nach der Entlassung zu bessern, während die Angst länger als ein Jahr anhält. Bei PTBS handelt es sich allerdings laut einer Studie von Myhren et al. [10] um eine langfristige Störung. Inzwischen haben H. Rothenhäusler et al. [11] mit ihrer Studie belegt, dass kognitive Störungen und deren Auswirkungen auch sechs Jahre nach der Entlassung aus dem Krankenhaus noch festgestellt werden können und nur 46 % der Patient*innen in der Lage sind, frühere Aktivitäten wieder aufzunehmen.

Ganz realistisch gesehen, wie viele COVID-19-Überlebende werden tatsächlich eine Behandlung für ihre psychische Gesundheit erhalten? Werden die Gesundheitsbehörden etwas dafür tun, um die auf die Pandemie folgende psychische Gesundheitskrise abzuschwächen? Das sind nur zwei der Fragen, über die wir diskutieren sollten, nicht nur in Nicaragua, sondern in vielen Ländern auf der Welt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir gewöhnlich den Fehler machen, Gesundheit als das Fehlen von physischen Beschwerden zu betrachten, ohne dabei zu berücksichtigen, dass wir, um gesund zu sein, eine Balance zwischen physischer und psychischer Gesundheit wahren müssen. Die Verteufelung der Selbstfürsorge und das Tabu über psychische Probleme zu sprechen, sind Dinge, die wir angehen müssen, um zu verhindern, dass die Anzahl an psychischen und psychiatrischen Patienten in die Höhe schießt. Dabei müssen wir auch bedenken, dass die psychischen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auch noch mittelfristig und langfristig spürbar sein werden und wir in der Lage sein müssen, unseren Stolz herunterzuschlucken und anfangen, Hilfe für unsere psychische Gesundheit zu beanspruchen.

Mehr denn je müssen wir jetzt diese Diskussionen über die physische und psychische Gesundheit eines jeden Menschen führen und uns von überholten und veralteten Aussagen, wie “Ich brauche keine Therapie, ich bin nicht verrückt”, lösen.