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Neues Gesetz in Ungarn drängt Transmenschen vermehrt zur Auswanderung

Kategorien: Ost- und Zentraleuropa, Ungarn, Bürgermedien, Frauen & Gender, Internationale Beziehungen, Menschenrechte, Migration & Immigration, Politik, Recht, Rechte der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transsexuellen (LGBT)

Transmenschen protestieren gegen Artikel 33. Bildnachweis: Bankó Gábor/Prizma

Die Regierung in Ungarn hat ein Gesetz verabschiedet, welches das Leben für Transmenschen im Land zukünftig weiter erschwert. Gemäß dieses Gesetzes muss bei allen Bürger*innen im Personalausweis das „Geschlecht bei Geburt“ vermerkt sein. Diese Angabe kann später nicht mehr geändert werden.

„Jetzt gibt es für mich keine Hoffnung mehr, dass mein Geschlecht anerkannt wird“, meint Ivett Ördög bitter. Die dunkelhaarige Frau mit dunklen Augen trägt ein farbenfrohes Blumenshirt und große Ohrringe und sitzt an ihrem Schreibtisch, der nun zu ihrem Home-Office wurde.

Sie ist eine erfolgreiche Software-Entwicklerin, erlebte jedoch große Schwierigkeiten am Arbeitsplatz. Der Grund? Ihr biologisches Geburtsgeschlecht ist männlich.

Halb lächelnd und mit viel Sorge und Verzweiflung darüber, was in ihrem Land passiert, erzählte sie ihre Geschichte.

Ivett Ördög. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

Ivett ist eine Transfrau und sagt, ihre Rechte „werden von einem Land in der Europäischen Union (EU) verletzt.“

Am 19. Mai verabschiedete das Parlament in Ungarn das Omnibus-Gesetz [1] mit 134 Für- und 56 Gegenstimmen.

Der Artikel 33 dieses Gesetzes sieht für alle Bürger*innen zwingend vor, das „Geschlecht bei Geburt“ im Personalausweis zu vermerken.

Dies führt dazu, dass keine Person in Ungarn eine rechtliche Änderung des Geschlechts veranlassen kann und jene, die bereits geschlechtsangleichende Maßnahmen eingeleitet haben, potenziell mit Diskriminierung im Zuge von Ausweiskontrollen konfrontiert sind.

Ausweiskontrollen sind in Ungarn keine Seltenheit. Ein Ausweis ist beispielsweise beim Abholen von Paketen, beim Bezahlen mit Kreditkarte und beim Benutzen eines Busses notwendig.

„Es könnte gefährlich werden“, so Ivett und sie erklärt, warum sie keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzt oder zum Arzt geht.

Ihr Geschlecht ist nicht rechtlich anerkannt, demnach ist bei jeder Ausweiskontrolle sofort ersichtlich, dass sie biologisch als Mann geboren wurde – ein Umstand, der ihr Angst macht.

Just  imagine […inaudible…] being pulled by policemen, and you show your ID and they don't believe you it's your ID. What do you do then? Policemen can get quite brutal at times, and then I can't even call the police! Because – they are already there. […] Especially in a country that is so homophobic, and, obviously also trans-phobic, it's not safe. Definitely not safe.

Stellt euch vor […unverständlich…], ihr werdet von der Polizei aufgehalten, zeigt euren Ausweis und sie glauben euch nicht, dass es wirklich euer Ausweis ist. Was soll man dann machen? Polizist*innen können mitunter sehr brutal werden und dann kann ich nicht einmal die Polizei verständigen! Sie sind ja bereits vor Ort. […] Vor allem in einem Land, das dermaßen homophob und offensichtlich transphob ist, ist das nicht sicher. Auf keinen Fall sicher.

Bei der ILGA-Europa Rainbow Map 2020 [2] (soviel wie: Europäische Regenbogenkarte) verlor Ungarn 8,46 Prozentpunkte – der stärkste Rückgang in Europa. Dieser Onlineindex stuft die 49 europäischen Länder ein, um sichtbar zu machen, wie Gesetze und Maßnahmen das Leben von LGBTQ+-Personen beeinflussen.

[3]

Hier klicken, um die Infografik [3] über LGBTQ+-Diskriminierung in Ungarn anzusehen.

Dorián Palai, ein Transmann, erklärte, dass es zwar sein kann, dass bei Ausweiskontrollen tolerant reagiert wird. Aber es kann auch vorkommen, dass die Kontrolleure anfangen, sich lustig zu machen, die Menschen „outen“ oder sogar angreifen.

„Dein gesamtes Leben hängt dann von der Freundlichkeit anderer Menschen ab“, meinte Palai.

Palai konnte sein Geschlecht rechtlich anerkennen lassen, sah sich aber dennoch mit Diskriminierung durch medizinisches Personal konfrontiert. Ihre Unfreundlichkeit, vor allem, als er sich entkleidete, entmutigte ihn.

When I left the medical center I started to cry, because it was not just frustrating — it was very frightening. And also very disheartening.

Beim Verlassen der medizinischen Einrichtung habe ich angefangen zu weinen, weil die Situation nicht nur frustrierend, sondern auch beängstigend war. Und sehr entmutigend.

In Ungarn gibt es kein Gesetz, welches Geschlechtsanerkennungen regelt. In den letzten drei Jahren ist es niemandem gelungen, das Geschlecht rechtlich zu ändern [4].

Gefangen in Bürokratie

Ivett erzählte Global Voices, sie habe alle notwendigen Dokumente zur Anerkennung ihres Geschlechts eingereicht, jedoch wurde ihr mitgeteilt, dass die Regierung die Gesetzgebung bezüglich Geschlechtsanerkennungen „reorganisiert“.

Sie wusste nicht, dass mit dieser Reorganisierung der Artikel 33 des Omnibus-Gesetzes gemeint war.

Viele Transmenschen sind überzeugt, dass dieses Gesetz verabschiedet wurde, um die Diskussion rund um Geschlechtsanerkennungen zu beenden und jenen, die sich als Transgender identifizieren, die Möglichkeit zu nehmen, ihr Geschlecht rechtlich anerkennen zu lassen.

Einer dieser Menschen ist Zsófia Szabó. Sie hat Ungarn verlassen, da sie aufgrund ihrer Identität als Transfrau diskriminiert wurde. Derzeit lebt sie in Schweden und leitet die Organisation Prizma, um der Transgender-Gemeinschaft in Ungarn zu helfen.

Sie sagt, der Zweck hinter diesem Gesetz sei es, „Transmenschen gänzlich sich selbst zu überlassen.“

Zoltán Koskovics, ein Analyst für das Center for Fundamental Rights (Zentrum für Grundrechte), ein konservatives Forschungszentrum in Ungarn, erklärte jedoch in einem Interview mit Global Voices, dieses Gesetzgebungsverfahren sei transparent und notwendig, um „eine Lücke zu schließen“. Im ungarischen Gesetz gab es zuvor keine rechtliche Definition des Begriffs „Geschlecht“, was zu Unsicherheit führte.

Er meinte zudem, dass die ungarische Verfassung die Identität „Transgender“ nicht anerkenne, dass jedoch jede*r Bürger*in vor Diskriminierung geschützt sei.

Palai widerspricht dieser Meinung und sagt, er fühle sich nicht „wie ein echter Bürger“.

Doch was unternimmt die EU in dieser Sache? Ungarn ist immerhin seit dem 01. Mai 2004 Mitglied der Europäischen Union.

Die Menschenrechtsbeauftragte des Europarates Dunja Mijatovi twitterte, das neue Gesetz verstoße gegen die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Ich finde es bedauerlich, dass das Parlament in Ungarn heute ein Gesetz verabschiedet hat, das es für Transmenschen unmöglich macht, ihr Geschlecht rechtlich anerkennen zu lassen. Dies widerspricht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ist ein Schlag gegen die Menschenwürde von Transmenschen.

Trans* Rechte sind Menschenrechte.

Ein Sprecher der EU-Kommission meinte hingegen in einem Interview mit Global Voices, dass „die Verfahren zur rechtlichen Geschlechtsanerkennung in die nationalen Kompetenzen eines Landes und außerhalb des rechtlichen Rahmens der EU fallen.“

Ivett sagte dazu, die EU habe es nicht geschafft, in Ländern wie Ungarn Respekt vor den Menschenrechten einzufordern. Sie wünscht sich nun die Möglichkeit, Ungarn zu verlassen und in einem anderen Land die Staatsbürgerschaft zu erlangen, um ihr Geschlecht rechtsgültig anerkennen zu lassen.

Jedoch müsste sie für mindestens 10 Jahre durchgehend in einem neuen Land leben, bevor sie Anspruch auf die Staatsbürgerschaft hat.

„Die EU kann jetzt Transmenschen dabei helfen, Ungarn zu verlassen und so schnell wie möglich in einem anderen Land die Staatsbürgerschaft zu bekommen“, erklärte sie.

Ungarische Aktivist*innen versuchen in der Zwischenzeit, gegen dieses Gesetz anzukämpfen.

Der Advocacy und Media Manager (soviel wie: Leiter für Interessensvertretung und Medien) von Amnesty in Ungarn, Áron Demeter, gab an, Amnesty wird den ungarischen Grundrechtebeauftragten dazu auffordern, dieses Gesetz vor das Verfassungsgericht zu bringen. Dies ist die einzige Institution, die Artikel 33 aufheben könnte.

Bitte nehmt euch einen Moment Zeit und WERDET JETZT AKTIV, um die Rechte von Menschen mit Trans- und Intersexidentität in Ungarn zu verteidigen.

„Das ist unsere einzige Hoffnung“, schrieb Demeter via E-Mail an Global Voices.