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Was für eine Zukunft haben Hongkongs Protestbewegungen?

Kategorien: Ostasien, China, Hong Kong (China), Bürgermedien, Politik, Protest
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Nasse Demonstration in Hongkong. Bild von Stand News.

Hongkongs antichinesische Auslieferungsproteste sind inzwischen ein Jahr alt. Das Hongkonger Online-Medienunternehmen Stand News hat eine Reihe von Artikeln vorbereitet, um über die Oppositionsbewegung nachzudenken. Global Voices veröffentlicht im Rahmen eines Content-Partnerschaftsabkommens bearbeitete Versionen dieser Beiträge. Die chinesische Originalversion [1] des unten stehenden Beitrags wurde von Francis Lee, Professor an der Schule für Journalismus und Kommunikation der Chinesischen Universität Hongkong, verfasst.

Im Juni jährt sich der erste Jahrestag seit Beginn der Anti-China-Auslieferungsproteste Hongkongs.

Seit des Ausbruchs von COVID-19 Ende Januar hat die Hongkonger Polizei alle öffentlichen Versammlungen und Kundgebungen verboten und sich dabei auf Vorschriften zur Seuchenbekämpfung berufen, die als Verbot von Massenveranstaltungen [2] bekannt sind.

Diese Vorschriften haben es allen Organisationen unmöglich gemacht, zu massiven Protesten aufzurufen. Die Gefahr für einzelne Demonstrierende, die sich auf die Straße wagen, wächst unterdessen, da Peking sich darauf vorbereitet, Hongkong ein die Spielregeln veränderndes nationales Sicherheitsgesetz aufzuerlegen.

Dieser Tage sind die Proteste viel kleiner als im Juni 2019, als Hunderttausende bei den größten Anti-Regierungsdemonstrationen der Geschichte regelmäßig auf die Straße gingen.

Die Meinungsumfragen zeigen jedoch, dass der Ärger der Hongkonger Bevölkerung gegenüber der Polizei und den Regierungsbehörden unverändert geblieben ist.

Die Zahlen

Eine kürzlich vom Center for Communication and Public Opinion* [3] (etwa: Zentrum für Kommunikation und Öffentliche Meinung, kurz CCPOS) der Chinesischen Universität Hongkong Ende Mai durchgeführten Umfrage ergab, dass 45,8 Prozent der Befragten kein Vertrauen in die Regierung und 47,5 Prozent kein Vertrauen in die Polizei haben.

Vor dem Hintergrund der Kontroverse um das nationale Sicherheitsgesetz [4] äußerten 41,4 Prozent keinerlei Zufriedenheit mit der Umsetzung von One Country Two Systems [5] (Ein-Land-Zwei-Systeme) in Hongkong.

Über 60 Prozent der Befragten sprach sich gegen die Entscheidung Pekings aus, unter Umgehung der Hongkonger Legislative ein neues nationales Sicherheitsgesetz zu erlassen. Dieses Ergebnis unterscheidet sich deutlich von der Behauptung [6] der Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam vom 16. Juni, dass nur eine kleine Minderheit dieses Gesetz ablehne.

Alle an der Umfrage beteiligten Personen wurden auch gefragt, ob sie die kontinuierlichen antichinesischen Auslieferungsproteste unterstützen oder ablehnen, unabhängig von Form und Strategie. Die Umfrage ergab, dass 39,1 Prozent die Proteste unterstützen, während 39,2 Prozent dagegen waren. Anhänger des pro-chinesischen Establishments behaupteten, das Ergebnis zeige, dass die Bewegung an Unterstützung verliere. Diese Interpretation spiegelt jedoch möglicherweise nicht die Realität wider.

Historisch gesehen haben diese Umfragen gezeigt, dass rund 20-25 Prozent der Bürgerschaft Hongkongs die Anti-Auslieferungs-Proteste von vornherein nicht unterstützten. Die weltweite COVID-19-Pandemie hat inzwischen weiteren Druck auf die Wirtschaft der Stadt ausgeübt und die Attraktivität der Proteste weiter geschwächt.

In dieser Hinsicht ist die Tatsache, dass die Proteste, die die Stadt monatelang zum Erliegen brachten, die Unterstützung von soliden zwei Fünfteln der Befragten erhalten haben, sehr bemerkenswert.

Dieses Ergebnis ist vergleichbar mit einer Umfrage im November 2014, zwei Monate nach dem Auftakt der pro-demokratischen Umbrella [Regenschirm]-Proteste [7].

Bei dieser Umfrage sprachen sich 70 Prozent der Befragten für die Beendigung der massiven friedlichen Sitzstreiks aus.

Die Antworten in der CCPOS-Umfrage unterscheiden sich je nach Altersgruppe ganz erheblich.

Bei den 15- bis 24-Jährigen liegt die Unterstützung für die anhaltenden anti-chinesischen Auslieferungsproteste bei 71,9 Prozent. In der nächst höheren Altersgruppe, den 25- bis 39-Jährigen, sinkt die Unterstützung auf 51,9 Prozent. In der Altersgruppe der 40- bis 59-Jährigen haben die Proteste nur 35,6 Prozent Unterstützung, bei den über 60-Jährigen sind es sogar nur 20,3 Prozent.

Für einige, die gegen die Fortsetzung der anti-chinesischen Auslieferungsproteste sind, steht die Opposition diesen Protesten eher strategisch als feindselig gegenüber.

Kommentare in verschiedenen sozialen Medien haben in den letzten Wochen Zweifel aufgezigt, ob die Proteste in der gegenwärtigen repressiven politischen Lage positive Auswirkungen haben können, da die Bereitschaftspolizei die Möglichkeit hat, so viel Gewalt wie notwendig anzuwenden, um Demonstrierende zu überwältigen und festzunehmen.

In diesen Kommentaren wird oft betont, dass angesichts der Entschlossenheit Pekings, Ein Land, zwei Systeme“ abzubauen, die Zukunft Hongkongs vom diplomatischen Zusammenspiel zwischen den USA und China abhängt und nicht von Straßenprotesten.

Diese Kalkulation von Kosten und Wirkung wird besonders deutlich in den Antworten auf die Verhängung eines nationalen Sicherheitsgesetzes über Hongkong durch Peking.

Obwohl 63,5 Prozent der Befragten befürchteten, das Gesetz könnte die Freiheit und Rechte der Bürgerschaft Hongkongs beeinträchtigen, unterstützten nur 59 Prozent derselben Befragten die Kontinuität der antichinesischen Auslieferungsproteste, während 15,1 Prozent weitere Proteste ablehnten.

Erweiterung des Repertoires der Auseinandersetzungen

Die während der COVID-19-Pandemie erzwungenen Beschränkungen haben zwar das Ausmaß der Proteste begrenzt, sie haben sie jedoch nicht vollständig unterbunden. Ab Ende April kam es in großen Einkaufszentren zu einer Reihe von Protestliedern“ in der Form von Flashmobs.

Darüber hinaus wurden kleine monatliche Proteste zum Gedenken an den Vorfall des Yuen Long Mob Angriffs [8] (21. Juli 2019) und den Vorfall des Edward Station Angriffs [9]  (31. August 2019) abgehalten – zwei Vorfälle, bei denen der übermäßige Einsatz von Polizeigewalt gegen Demonstrierende ins Rampenlicht gerückt wurden.

Am 24. Mai beteiligten sich Tausende an einer illegalen Kundgebung gegen die Entscheidung Pekings, der Stadt das nationale Sicherheitsgesetz aufzuzwingen – die ersten großen Proteste seit Inkrafttreten der COVID-19-Beschränkungen.

Am 04. Juni schlossen sich dann Zehntausende zur jährlichen Mahnwache bei Kerzenlicht [2] im Victoria Park und in einem Dutzend anderen Bezirken Hongkongs an. In diesem Jahr wurde die Mahnwache zum ersten Mal von den Behörden verboten, die sich dabei auf die Einschränkungen bei der Seuchenbekämpfung beriefen.

Und am 09. Juni versammelten sich Tausende Demonstrantrierende im Central District (Zentrum von Hongkong), um den Jahrestag der millionenstarke Kundgebung gegen das chinesische Auslieferungsgesetz zu begehen.

All diese Aktionen haben trotz der Wahrscheinlichkeit von Verhaftungen wegen Teilnahme an illegalen Versammlungen stattgefunden.

Es kamen Zweifel an der Nachhaltigkeit der anti-chinesischen Auslieferungsproteste auf, da die Proteste weniger als einen Monat alt waren.

Doch mit der Ausweitung des härteren Vorgehens gegen die Demonstrierenden hat sich auch das Repertoire der Auseinandersetzungen  [10] erweitert.

Schließlich verwandelten sich die massiven Mobilisierungen im Juni in Kundgebungen auf Bezirksebene  [11]und die Errichtung von Lennon Walls [12] rund um Hongkong im Juli, gefolgt von einem friedlichen Sitzstreik am internationalen Flughafen [13] der Stadt und der Bildung von Menschenketten in der ganzen Stadt im August 2019 [14].

Als die Schulen im September 2019 wieder geöffnet wurden, verwandelten sich Schulgelände [15] und Einkaufscenter [16] in Protestzentren.

Nach dem Sieg des pro-demokratischen Bündnisses bei den Bezirkswahlen im November haben Anhängerinnen und Anhänger der Bewegung begonnen, für die Idee eines gelben Wirtschaftszirkels [17] zu plädieren, in dem Unternehmen, die für das Establishment sind, von der Bevölkerung boykottiert werden, während gelbe“ oder die Bewegung fördernde Unternehmen die Unterstützung der Bevölkerung erhalten.

Die Anhängerinnen und Anhänger haben außerdem die Gründung von Berufsgruppen und Gewerkschaften zur Vorbereitung eines künftigen Generalstreiks gefordert.

Dies ist die wahrscheinliche zukünftige Richtung der Proteste, wobei der Widerstand in die alltäglichen Aktivitäten vordringen wird und das Establishment vor einem langen Zermürbungskrieg steht.

Andererseits können die Beschränkungen der Seuchenbekämpfung nicht ewig andauern, und die Möglichkeit, dass Hongkong erneut Zeuge massiver Mobilisierungen wird – ungeachtet der gestiegenen Kosten kollektiver Maßnahmen – ist nicht auszuschließen.

* Haftungsausschluss: Der Autor dieses Beitrags, Dr. Francis Lee, ist der Hauptkoordinator der CCPOS-Umfrage, die 800-1200 Teilnehmer befragt und seit Juni letzten Jahres monatlich veröffentlicht wird.