Hongkong enthüllt seine Absicht, eine “orwellianische Wahrheit” zu schaffen

Hintergrundbild bei der Pressekonferenz der Regierung Hongkongs über den IPCC-Bericht. Bild vom Twitter-Konto der RTHK-Reporterin Yvonne Tong.

Hongkongs Independent Police Complaints Council (Unabhängiger Ausschuss für Polizei-Beschwerden, kurz IPCC), eine von der Regierung eingesetzte Organisation ohne Ermittlungsbefugnis über Zeugenaussagen, veröffentlichte am 15. Mai seinen Bericht über öffentliche Beschwerden gegen die Polizei während der stadtweiten Demonstrationen, die im vergangenen Juni begannen.

Clifford Stott, ein britischer Experte für die Erforschung von Aufständen, der im vergangenen Dezember aus dem ausländischen Expertengremium des IPCC austrat, war der Ansicht, das Hintergrundbild der Pressekonferenz, auf der dieser Bericht vorgestellt wurde, sei Teil eines breiteren Vorhabens, das darauf abzielt, eine bestimmte Botschaft zu übermitteln:

Übersetzung der Twitter-Mitteilung von Clifford Stott:
Es scheint, die Veröffentlichung des IPCC-Berichts ist Teil einer breiteren Reihe koordinierter Ankündigungen, die darauf ausgerichtet sind, die neue „Wahrheit” zu verbreiten, 

Übersetzung der Twitter-Mitteilung von Yvonne Tong:
Nach einer Reihe heutiger Nachrichten in Bezug auf das Bildungsbüro, das IPCC und den Legislativrat, ist hier der Hintergrund für die Pressekonferenz der Regierungschefin #CarrieLam Presse-Konf, die in 15 Min. stattfinden wird ….

Im Juni 2019 kam es zu massiven Protesten, welche die Regierung Hongkongs aufforderten, ein Auslieferungsgesetz zurückzuziehen, das die Auslieferung von Flüchtlingen auf das chinesische Festland erlaubt hätte. Die Regierung weigerte sich, das Gesetz zurückzunehmen, selbst nachdem am 09. Juni eine Million Demonstrant*innen auf die Straße gegangen waren. Drei Tage später blockierten Tausende von Demonstrant*innen die Straßen rund um den Legislativrat und die Bereitschaftspolizei feuerte mit Tränengas auf die friedlichen Demonstrant*innen.

Das harte Vorgehen der Polizei führte am 16. Juni zu massiven Protesten, bei denen zwei Millionen Menschen den Rücktritt von Regierungschefin Carrie Lam forderten. Sie verlangten außerdem, dass das „Aufstand”-Label, das den Protesten vom 12. Juni zugeschrieben worden war, entfernt werde.

Die Aufforderung, das Gesetz zurückzuziehen, führte zu mehreren Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstrant*innen. Neben dem Verlangen nach Demokratie stellte sich eine unabhängige Untersuchung der Gewaltanwendung durch die Polizei als die wichtigste Forderung heraus.

‚Eine schockierende Schönfärberei’

Die Regierung weigerte sich jedoch, einen unabhängigen Untersuchungsauschuss einzusetzen, und bestand stattdessen darauf, dass der zahnlose IPCC das Verhalten der Polizei prüfe.

Alle Informationen, die der IPCC erhält, werden von der Polizeibehörde zur Verfügung gestellt. Letzten Endes erklärte sich Carrie Lam widerwillig bereit, ein Team ausländischer Expert*innen zu ernennen, um die Überprüfung durch den IPCC zu unterstützen.

In ihrem Fortschrittsbericht vom vergangenen Dezember kamen diese Expert*innen zu dem Schluss, dass „ein entscheidender Mangel an Befugnissen, Kapazitäten und unabhängigen Untersuchungsmöglichkeiten des IPCCs offensichtlich ist”. Das Team wurde danach aufgelöst.

Der aktuelle Bericht thematisierte keine Einzelfälle von Polizeigewalt. Vielmehr überprüfte man die Reaktion der Polizei bei sechs großen Protestvorfällen, darunter den Mob-Anschlag in Yuen Long vom 21. Juli, bei dem Demonstrant*innen und U-Bahn-Passagiere von einem pro-Peking-Mob zusammengeschlagen wurden. Es gab keine Polizeipräsenz an den Stellen, wo sich der Mob mit Stöcken bewaffnet vor der U-Bahn-Station versammelte, was die Öffentlichkeit glauben ließ, dass es hier Absprachen gab.

Der IPCC-Bericht räumt ein, es habe „Unzulänglichkeiten bei Polizeieinsätzen und anderen polizeilichen Maßnahmen als Reaktion auf die Ereignisse” gegeben, betonte aber, es gäbe „trotz unserer besten Bemühungen bei der Sichtung öffentlich zugänglicher Quellen” keine Hinweise auf Absprachen mit Kriminellen. Hinzugefügt wurde noch, dass die öffentliche Wahrnehmung über die Polizei auf „Missverständnissen” beruhe.

Die Polizei Hongkongs beschuldigte die Medien, falsche Vorstellungen über die Polizeibehörde zu verbreiten. Im März reichte Polizeikommissar Chris Tang eine Beschwerde bei der Kommunikationsbehörde gegen die Satiresendung “Headliner” von Radio Television Hongkong ein, in der er behauptete, dies untergrabe die Polizeiarbeit und erodiere Recht und Ordnung.

Der öffentlich-rechtliche Sender geriet unter enormem Druck, nachdem seine Nachrichtenermittlungen zum Anschlag durch den Yuen Long Mob Beweise dafür gefunden hatten, dass die Polizei von Yuen Long von dem gewalttätigen Vorfall wusste, aber nicht eingriff. In dem Bericht gab die IPCC 52 Empfehlungen für jeden einzelnen Vorfall, von denen sich die meisten auf die Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit, der Einrichtungen und der Personalausstattung der Polizei bezogen.

Benedict Rogers von der in London ansässigen Hong Kong Watch kritisierte den Bericht als „Schönfärberei” und forderte mehr internationales Eingreifen:

The Independent Police Complaints Council’s report is a shocking whitewash which shows that there is no viable mechanism in Hong Kong to ensure accountability either for police brutality or police complicity with violence by criminal thugs. With rights groups reporting incidents of torture in detention and routine excessive use of force, it is now time for the international community to establish an independent inquiry, to hold the perpetrators of violations of human rights in Hong Kong to account. The introduction of targeted Magnitsky sanctions on those responsible for such violations should then be considered.

Der Bericht des Independent Police Complaints Council [Unabhängiger Ausschuss für Polizei-Beschwerden] ist eine schockierende Schönfärberei, die zeigt, dass es in Hongkong keinen praktikablen Mechanismus gibt, um die Rechenschaftspflicht entweder für Polizeibrutalität oder polizeiliche Komplizenschaft bei Gewalt durch kriminelle Schläger zu gewährleisten. Da auch die Menschenrechtsgruppen über Folter in der Haft und routinemäßige exzessive Gewaltanwendung berichten, ist es nun an der Zeit, dass die internationale Gemeinschaft eine unabhängige Untersuchung einleitet, um die Täter von Menschenrechtsverletzungen in Hongkong zur Rechenschaft zu ziehen. Die Einführung gezielter Magnitsky-Sanktionen gegen die Verantwortlichen für solche Verstöße sollte dann in Betracht gezogen werden.

Der Magnitsky-Act (dt. Magnitsky-Gesetz) erlaubt Sanktionen gegen Menschenrechtsverletzer.

Der Bericht wurde auch von Hongkongs demokratischer Abgeordneten Claudia Mo scharf kritisiert:

The report is not just superficial. It’s hollow. It has recollected some government information services handout. It’s all part of the establishment speak. It’s [the] Ministry of Truth à la George Orwell’s 1984.

Der Bericht ist nicht nur oberflächlich. Er ist hohl. Das erinnert an Handzettel einiger Informationsdienste der Regierung. Alles nur ein Gerede des Establishments [regierungstreue Elemente]. Hier spricht das Ministerium der Wahrheit à la George Orwells 1984.

Tatsächlich ist die Frage der „Wahrheit” politisch bedeutsam: Der Bericht macht Online-Informationen dafür verantwortlich, dass das Image der Polizei zerstört und dadurch der Weg für das harte Vorgehen gegen die Meinungsfreiheit geebnet wurde:

[Many complaints are] blatant propaganda with little or no factual basis, aimed at smearing the Police Force and impeding police officers from performing their duty to maintain law and order.

[Viele Beschwerden sind] unverhohlene Propaganda mit wenig oder gar keiner sachlichen Grundlage, die darauf abzielt, die Polizei zu beschmieren und Polizeibeamte daran zu hindern, ihrer Pflicht zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung nachzugehen.

Die Wahrheit über Hong Kong 

Bei der Pressekonferenz mit dem Titel „The Truth About Hong Kong” (Die Wahrheit über Hongkong) kündigte Carrie Lam an, dass die Polizei mehr Befugnisse erhalten könnte, um soziale Medien zu überwachen und um gegen falsche und bösartige Informationen und Gerüchte vorzugehen.

Zu diesem Vorschlag rief Clifford Stott aus:

Sprachlos! https://t.co/4QZ8aQeFIv

Im Vorfeld der Veröffentlichung des IPCC-Berichts starteten pekingfreundliche politische Gruppen zwei Lobbykampagnen, um die Pressefreiheit und die Informationsfreiheit der Stadt einzuschränken.

Am 13. Mai veröffentlichte die Democratic Alliance for the Betterment and Progress of Hong Kong (die Demokratische Allianz zur Verbesserung und des Fortschritts Hongkongs), die größte politische Partei Hongkongs, Untersuchungen, wonach 70,9 Prozent bzw. 61,6 Prozent der Befragten der Ansicht waren, Jugendliche würden von „Fake News” und Meinungsführer*innen zu Verbrechen, einschließlich gewalttätiger Proteste, aufgefordert, und drängten daher auf eine Gesetzgebung gegen die Verbreitung von Online-Desinformation.

Am 14. Mai protestierte die pro-Establishment-Bürgergruppe Civic Force (etwa: Bürgerliche Gewalt) vor der Journalisten-Vereinigung Hongkongs (香港記者協會) und forderte die Einführung eines von der Regierung kontrolliertem Lizenssystems für Journalist*innen.

Sowohl das Online-Gerüchtegesetz als auch das Lizenzsystem für Journalistinnen sind auf dem chinesischen Festland gültig. Die neue „Wahrheit” in Hongkong wird mit dem “einen-Land” verbunden.

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