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Frauen tragen den schlimmsten Teil der venezolanischen Krise

Kategorien: Lateinamerika, Venezuela, Bürgermedien, Entwicklung, Frauen & Gender, Gesundheit, Menschenrechte, Migration & Immigration
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“Ich stelle Euch Patricia vor, meine Schwester, die wahre Wonder Woman. Alleinerziehende Mutter, zwei Kinder, sie kümmert sich um ihr Geschäft, trotz kaputtem Knöchel, über neun Monate hinweg. Inmitten der Proteste und dem Chaos in Venezuela, stirbt unser Vater und sie kann nicht arbeiten. Trotzdem hat sie einen größeren Torsegen, als alle die ich kenne. Wahnsinniger Respekt für diese Dame. Im Vergleich zu ihr bin ich ein Kätzchen.” Illustration und Legende des venezolanischen Künstlers und Illustratoren Leonardo Gonzalez. Mit Erlaubnis verwendet.

Es existiert ein Aspekt der Wirtschaftskrise in Venezuela, über den nicht gesprochen wird: welchen Einfluss sie auf Frauen und Kinder hat.

Mit 44 % [2] der Familien im Land, deren Familienoberhaupt eine Frau ist, sind jene Frauen diejenigen, die unter den langen Schlangen vorm Supermarkt leiden, die das sich verschlechternde Gesundheitssystem [3] aushalten, wenn ihre Angehörigen krank werden und die um den Tod ihrer Kinder durch Polizeigewalt weinen – all das, während sie versuchen, die dunklen Statistiken zu überleben, die ihr Geschlecht betreffen.

Obwohl die Regierung Venezuelas mit politischen Maßnahmen versucht hat, die Armut von Frauen einzudämmen, wurden viele andere Aspekte der weiblichen Unabhängigkeit von der bolivarianischen Regierung nicht beachtet, obwohl sie oft als “feministisch” bezeichnet wurde.

Programme für Transferzahlungen des Einkommens wie Madres del Barrio [4] (dt. Mütter des Slums), bestehend seit 2006, und Hijas e Hijos de Venezuela [5] (dt. Töchter und Söhne Venezuelas), bestehend seit 2011, haben ein entscheidendes Sicherheitsnetz für in extremer Armut lebende Familien etabliert. Zusammen händigen beide Programme zwischen 150 und 350 Dollar aus, abhängig von der Anzahl der Kinder.

Auf der anderen Seite wurden Abtreibungen in der bolivarianischen Verfassung von Venezuela als illegal deklariert; ein Erbe der vorherigen politischen Ordnung des Landes, die die Bolivarianer ansonsten radikal veränderten. Weder Chávez noch Maduro haben sich die Mühe gemacht, das in den 20 Jahren ihres Mandats abzuändern. Abtreibungen sind nur erlaubt, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist.

Aglaia Berlutti, bekannte feministische Stimme im Internet und Mitarbeiterin von Global Voices, hebt [6] die Gegensätze der chavinistischen Rhetorik in Bezug auf die Gleichberechtigung der Geschlechter hervor:

…en Venezuela el término feminismo fue consumido, abusado y sobre todo tergiversado por el poder. […] Al mismo tiempo que se habla de la representatividad política, el Presidente Nicolás Maduro usa términos machistas para insultar a minorías […] Al mismo tiempo que se insiste en que el número de Ministras del tren ejecutivo supera al de cualquier otro del continente [las mujeres continúan]  padeciendo de una situación donde su identidad sigue siendo aplastada por una interpretación histórica que la desvaloriza.

…in Venezuela wurde der Terminus ‘Feminismus’ von der Macht verbraucht, ausgenutzt und vor allem verfälscht. […] Während man von dem repräsentativen Charakter der Politik sprach, benutzte Präsident Nicolás Maduro sexistische Termini, um Minderheiten zu beleidigen […] Während man auf der Anzahl der Ministerinnen in der Exekutive beharrt, die die aller anderen auf dem Kontinent übersteigt [die Frauen machen weiter], leiden sie unter einer Situation, in der ihre Identität weiterhin zertreten wird, aufgrund einer historischen Interpretation, die sie entwertet.

Es wurden nicht nur die bereits existierenden Probleme nicht gelöst: mit der akuten wirtschaftlichen Krise haben sie sich zudem gefährlich verschlimmert.

Laut [7] drei lokaler Organisationen für die Verfolgung von Menschenrechten ist die Rate der Frauenmorde in Venezuela eine der 15 höchsten weltweit. Außerdem wurden diverse Fälle von sexuellem Missbrauch gegen Frauen vonseiten der Staatsgewalt während der Proteste 2017 zur Anzeige [8] gebracht.

Im Jahr 2016 erreichte die Mordrate in Venezuela 56 von 100.000 Menschen – die höchste in Südamerika. Nach der jährlichen Erhebung des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNDOC), das die Mordraten weltweit veröffentlichte. Die venezolanische Beobachtungsstelle von Gewalt (Observatorio Venezolano de Violencia, kurz OVV), die eine andere Methode verwendet, zählte 2017 eine Rate von 89, was Venezuela zu dem Land mit den meisten Morden auf der Welt macht.

Ebenfalls gemäß der OVV wurden im Juli 2018 40% der Straftaten in Caracas von Polizeibeamten verübt [9].

Die polizeiliche Kriminalität und Gewalt hat in den letzten Jahren zugenommen und viele Frauen müssen nun den Tod ihrer Kinder beklagen. Im La vida de nos [10] (Das Leben von uns), ein Projekt von Medien im Internet, das persönliche Schilderungen der Krise sammelt, erinnert sich Elibeth Pulido [11] an den Mord ihrer beiden Kinder:

Como a la media hora me llamaron para decirme que fuera a buscar a los niños. El corazón se me iba a salir del pecho cuando los vi y ellos me vieron. Fueron tan increíbles nuestras miradas. ¡Jamás nos miramos de esa manera! No tenían camisa ni zapatos […Entonces] me dieron la noticia más espantosa de mi vida. Se repitió la historia: me volvieron a quitar otro hijo.

Nach ungefähr einer halben Stunden riefen sie mich, um mir zu sagen, dass ich meine Kinder abholen solle. Mein Herz wollte mir aus der Brust springen, als ich sie sah und sie mich. Unsere Blicke waren so unglaublich. Nie haben wir uns auf diese Art angesehen! Sie hatten kein Hemd und keine Schuhe [… Und dann] gaben sie mir die schrecklichste Nachricht meines Lebens. Die Geschichte hat sich wiederholt: Sie haben mir wieder ein Kind genommen.

Des Weiteren spiegelt sich die dauerhafte Abwesenheit von sexueller Aufklärung [12] in der Schule, zusammen mit dem fehlenden Zugang zu Verhütungsmitteln [13] aufgrund der Knappheit von Medikamenten [14] im Land, in den hohen Zahlen ungeplanter Schwangerschaften [15] wider. Adícea Castillo, Wissenschaftlerin am Zentrum der Frauenstudien der Universidad Central de Venezuela, erklärt [2]:

…hay una cifra, pequeña pero importante, de madres pre adolescentes […] Es un círculo vicioso. Muchas no se controlan, se practican abortos. Se mueren luego de ocho meses hospitalizadas por una infección y, las que se salvan, regresan al barrio a mantener un muchacho sin el apoyo de los padres.

…es gibt eine Ziffer, klein aber wichtig, von Müttern im Kindesalter […] Es ist ein Teufelskreis. Viele der jungen verhüten nicht, es werden Abbrüche durchgeführt. Danach sterben sie nach acht Monaten im Krankenhaus an einer Infektion und die, die überleben, kommen ins Stadtviertel zurück, um ein Kind ohne die Unterstützung der Eltern durchzubringen.

Letztendlich sind auch die Frauen, die das Land verlassen, mit Schwierigkeiten konfrontiert. Die Zahl der Venezolanerinnen die Opfer von Menschenhandel [16] in Lateinamerika und Europa wurden, hat sich zwischen 2014 und 2018 vervierfacht [17].

Im Nachbarland Kolumbien, das im letzten Jahr mehr als eine Million Venezolaner aufnahm [18], erleben die Frauen Vorurteile und Missbrauch. Viele beschuldigen die venezolanischen Migranten, ihnen die Arbeit zu “stehlen” und an Straftaten beteiligt zu sein. Die Frauen werden als gewöhnlich als Sexarbeiterinnen angesehen.

Um sich mit diesen falschen Ideen auseinanderzusetzen, hat der feministische Kanal Las Igualadas (Die Gleichgestellten) auf YouTube eine Spezialepisode [19] in der kolumbianischen Grenzstadt Cúcuta über die Venezolaner produziert.