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‚Sie schlugen mich jeden Tag mit einem Stromkabel. Sie schlugen meinen Kopf gegen die Wand.’

Kategorien: Nahost & Nordafrika, Libanon, Arbeitskräfte, Bürgermedien, Internetaktivismus, Menschenrechte, Protest, Recht

Lensa (links) mit ihrer Tante Ganneth (rechts). Von Lensas Freunden in den sozialen Medien geteiltes Foto. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

Als die 21-jährige Lensa Lelisa Tufa und eine weitere (bisher noch unbekannte) äthiopische Hausangestellte am 11. März 2018 aus dem Haus ihrer Arbeitgeber in Beirut fliehen wollten, sahen sie keine andere Möglichkeit, als vom Balkon im zweiten Stock zu springen.

Am Ende sprang nur Lensa. Nachdem sie gesehen hatte, wie es Lensa erging, sprang die andere Frau aus Angst vor Verletzungen nicht.

Als Lensa mit zwei gebrochenen Beinen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, nahm sie mit Hilfe ihrer Tante ein fünfminütiges Video [1] auf, in dem sie ihre Lage schilderte.

Das in amharischer Sprache aufgenommene Video mit englischen Untertiteln wurde am 26. März auf der Internetseite „This is Lebanon [2]“ hochgeladen, auf der vor allem Fälle von Misshandlungen gegenüber Hausangestellten im Libanon aufgedeckt werden. Beim Erscheinen des Artikels haben bereits fast 100.000 Menschen das Video gesehen.

Im Video sagt Lensa:

[…] From the very beginning they were abusing me […] They tortured me and I couldn't do anything to save myself. They beat me everyday with an electric cable and wrapped my hair around their hands and dragged me around the room. They smashed my head into the walls. […] There were four of them abusing us. […] They took turns abusing us. […] He was pushing his fingers into my eyes. […] I said to myself, ‘How long can I carry on?’ […] There was another Ethiopian girl with me and the same things were happening to her. She decided to jump from the balcony with me.

[…] Von Anfang an misshandelten sie mich […] Sie folterten mich, und ich konnte mich nicht wehren. Sie schlugen mich jeden Tag mit einem Stromkabel, wickelten meine Haare um ihre Hände und schleiften mich durch das Zimmer. Sie schlugen meinen Kopf gegen die Wände. […] Es waren vier von ihnen, die uns misshandelt haben. […] Sie wechselten sich damit ab. […] Er rammte mir seine Finger in die Augen. […] Ich fragte mich: ‚Wie lange kann ich das aushalten?‘ […] Da war auch noch ein anderes Mädchen aus Äthiopien bei mir, und ihr passierte genau dasselbe. Sie entschloss sich, zusammen mit mir vom Balkon zu springen.

Bald kam heraus [3], dass ihre Arbeitgeber ein Haute-Couture-Modeunternehmen namens Eleanore Couture leiten.

Als Reaktion darauf organisierte „This is Lebanon“ eine Protestaktion [4] vor dem Sitz des Unternehmens in Jdeideh, im Norden des Großraums Beirut, an der sich etwa 40 Aktivisten beteiligten.

Großes Lob an die etwa 40 Menschen, die heute trotz Regen und starkem Verkehr vor Eleanore Couture demonstriert haben. Ihr inspiriert uns. Ihr gebt uns Hoffnung. #IAmLensa

Die libanesische Journalistin Anne-Marie El Hage, die für die französischsprachige Tageszeitung L'Orient Le Jour schreibt, berichtet [3], dass Lensas Tante Ganneth zuerst ein Besuch im Krankenhaus verweigert wurde. Aufgrund des zunehmenden Drucks in den sozialen Medien wurde sie aber letztendlich doch zu ihrer Nichte vorgelassen.

Lensa ist nur eine von vielen Hausangestellten, die im Rahmen der berüchtigten „Kafala“, eines speziellen Systems der Bürgschaft, im Libanon unter schwierigen Bedingungen leben und arbeiten müssen.

Eine von vielen Leserinnen und Lesern, die ein Foto von sich mit dem Hashtag #IAmLensa als Zeichen der Unterstützung für die äthiopische Hausangestellte Lensa Lelisa im Libanon hochgeladen haben. Quelle: This is Lebanon [5]. Verwendung mit freundlicher Genehmigung.

Die in den Golfstaaten ansässige Beratungsorganisation Migrant-Rights.org erklärt [6], dass das Konzept der Kafala diese Arbeitnehmer zu leichten Opfern für Misshandlung macht:

Kafala is a system of control. In the migration context, it is a way for governments to delegate oversight and responsibility for migrants to private citizens or companies. The system gives sponsors a set of legal abilities to control workers: without the employer’s permission, workers cannot change jobs, quit jobs, or leave the country. If a worker leaves a job without permission, the employer has the power to cancel his or her residence visa, automatically turning the worker into an illegal resident in the country. Workers whose employers cancel their residency visas often have to leave the country through deportation proceedings, and many have to spend time behind bars.

Kafala ist ein Kontrollsystem. Im Zusammenhang mit Migration bedeutet das, dass Regierungen die Aufsicht über Migranten und die Verantwortung für sie an Privatpersonen oder Unternehmen übertragen. Das System gibt den Bürgen die juristische Möglichkeit, die Arbeiter zu kontrollieren. So dürfen die Arbeiter zum Beispiel ohne die Zustimmung ihres Arbeitgebers nicht den Job wechseln, kündigen oder das Land verlassen. Gibt ein Arbeiter ohne Zustimmung des Arbeitgebers seinen Job auf, kann der Arbeitgeber sein Aufenthaltsvisum aufheben. So wird der Arbeiter automatisch zu einer illegal aufhältigen Person im Land. Arbeiter, deren Aufenthaltsvisum durch die Arbeitgeber aufgehoben wurde, müssen das Land oft im Rahmen von Abschiebeverfahren verlassen. Viele werden auch für einige Zeit in Haft genommen.

Ein Demonstrant vor dem Sitz von “Eleanore Couture”. Auf dem Schild steht: “Schafft das Kafala-System ab!”. Das Foto wurde vom Autor aufgenommen.

Migranten, die im Libanon als Hausangestellte arbeiten, fordern immer wieder die Abschaffung des Kafala-Systems [7] und die Ratifizierung der Konvention 189 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte.

Laut einer Statistik des libanesischen Nachrichtendienstes, die dem Integrierten regionalen Informationsnetz IRIN, einer Nachrichtenagentur der UN in Genf, vorliegt [8] sterben im Libanon zwei Hausangestellte pro Woche.

Lesen Sie dazu auch den Artikel (auf Englisch): ‚Wir sind keine Sklaven. Wir wollen Rechte‘: Hausangestellte im Libanon demonstrieren am Tag der Arbeit [7]

Wenig überraschend sagte Lensa, dass sie sich eine neue Arbeitsstelle suchen wollte. Die Tochter ihres Arbeitgebers drohte jedoch, sie in diesem Fall nach Äthiopien zurückzuschicken. El Hage zitierte [3] das Gespräch so:

Si je peux marcher de nouveau, une fois guérie, je veux changer d’employeur et travailler au Liban. » Réponse à laquelle la fille de son employeuse a rétorqué : « Je suis prête à la renvoyer chez elle, alors. »

„Wenn ich wieder laufen kann und wieder gesund bin, möchte ich den Arbeitgeber wechseln und im Libanon arbeiten.“ Darauf erwiderte die Tocher des Arbeitgebers: „Dann werde ich sie zurück nach Hause schicken.“

El Hage erklärt weiter, dass es viele Versuche gab, diese Geschichte zu vertuschen:

Pour ce faire, il aura fallu le laisser-faire de tous, celui de l’hôpital, de la gendarmerie, du médecin légiste, du bureau de recrutement dont nous avons uniquement le nom et les coordonnées d’une employée éthiopienne, de l’ambassade d’Éthiopie aussi, qui ont lâché la jeune femme aux mains d’employeurs abusifs, et fermé les yeux sur les dangers qu’elle encourt aujourd’hui.

Damit all das passieren konnte, mussten viele Menschen wegsehen. Angefangen beim Krankenhaus über die Polizei, Rechtsmediziner, die Einstellungsagentur, von der wir nur den Namen und die Kontaktdaten durch eine äthiopische Angestellte kennen, bis hin zur äthiopischen Botschaft, die eine junge Frau den Arbeitgebern überließ, die sie misshandelten, und die nicht sehen will, welche Gefahr noch immer für sie besteht.

Lensa musste sogar in Gegenwart ihrer Arbeitgeber den Sprung vom Balkon leugnen:

Ils se sont contentés de prendre acte de sa déposition, donnée en présence de ses employeurs et visiblement dictée par ces derniers : « J’ai glissé, en étendant du linge » et « Non, je n’ai pas besoin d’aide ». Même le médecin légiste a certifié qu’il n’y avait pas de contusions, alors que les photos montrent une jeune femme sévèrement blessée, couverte d’ecchymoses.

Sie nahmen einfach ihre Aussage in Gegenwart ihrer Arbeitgeber auf, die ihr erkennbar gesagt hatten, was sie sagen sollte: „Ich bin beim Wäscheaufhängen ausgerutscht“ und „Ich brauche keine Hilfe“. Die Rechtsmedizin bescheinigte sogar, dass es keine Prellungen gab, obwohl Fotos vorliegen, die eine schwer verletzte und mit Prellungen übersäte junge Frau zeigen.

Lensa wurde aus dem Krankenhaus in den Haushalt ihrer Arbeitgeber entlassen, muss sich jedoch laut Empfehlung der Ärzte noch eineinhalb Monate erholen.