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Die Rentierhirtinnen der finnischen Samen kämpfen gegen den Klimawandel

Kategorien: Westeuropa, Finnland, Bürgermedien, Indigene, Umwelt

Inka Saara Arttijeff ist die Beraterin der Präsidentin des Samenparlaments und stammt aus einer Familie von Samen-Rentierhirten. Sie repräsentiert Finnland bei internationalen Klimagipfeln. © Sonia Narang/PRI

Diese Geschichte von Sonia Narang [1] für GlobalPost erschien ursprünglich auf Englisch auf PRI.org [2] am 7. März 2018 und wurde hier im Rahmen einer Partnerschaft zwischen PRI und Global Voices erneut veröffentlicht.

Inka Saara Arttijeff und ihre Familie versammeln sich in der behaglichen Küche ihres roten Holzhauses, während ein Topf Suppe auf dem Herd köchelt. Sie leben am Rande eines zugefrorenen Sees in dem Bilderbuchdorf Nellim, oben in den Ausläufern Nordfinnlands. Es ist Anfang Februar und die Sonne beginnt, gegen 15 Uhr zu sinken. Arttijeff ist Teil einer Familie von indigenen samischen Rentierhirten, die die kurzen Tage und Minusgrade unbeeindruckt lassen.

Die Samen sind ein indigenes Volk im Norden Finnlands, ebenso wie in Schweden, Norwegen und Russland, bekannt für ihre Jahrhunderte alte Tradition des Hütens von Rentieren. (Rentiere werden in Finnland als „halbdomestiziert“ [3] betrachtet und von den Hirten durch ihre jahreszeitlichen Wanderungen geführt.) Allerdings bedroht das wärmer werdende Klima die Tradition der Samen [4], Rentiere zu hüten. Da die Temperaturen in der Arktis mehr als doppelt so schnell ansteigen wie der weltweite Durchschnitt [5], haben die Rentierhirten immer mehr mit zunehmend unvorhersehbaren und extremen Wetterbedingungen zu kämpfen.

Vor Arttijeffs Haus füllen ausgedehnte Flächen schneebedeckter Bäume die Waldlandschaft. Allerdings hat die Holzwirtschaft begonnen, in die Wälder vorzudringen, in denen die Samen ihre Herden hüten. Die Kombination aus Wetteränderungen und zunehmender Abholzung erschwert es den Rentieren, Futter zu finden und hat so ihre natürlichen Wanderungsbewegungen geändert.

„Das Hüten von Rentieren ist eine Lebensart“, sagte Arttijeff.

„Wir sind dazu geboren, Rentierhirten zu sein, es ist Teil unserer Identität“, fügt sie hinzu. „Es ist schwierig, sich sein Leben ohne vorzustellen.“

Sie hat ihre Kindheit mit Rentieren verbracht und ihre Herde hat gelernt, sie zu erkennen. „Als Kind habe ich mir immer ein Kalb genommen und es gezähmt, damit es mir hinterherlief. So war es mein Haustier“, erzählt sie mit einem Lachen.

Steigende Temperaturen in der Arktis haben das Wetterschema im Norden Finnlands geändert, sodass es für die Rentiere schwierig ist, unter dem harten Schnee auf dem Boden Futter zu finden. © Sonia Narang/PRI

Die Kultur der Samen hat in ihrem Leben immer eine große Rolle gespielt: Arttijeff durchmischt ihren Kleidungsstil mit traditionellen samischen Accessoires wie der von Hand gefertigten Mütze, die sie im Freien trägt und dem gemusterten Schal mit einer runden, goldenen Brosche, den sie sich im Haus umlegt.

Arttijeff gehört zu der zunehmenden Anzahl unverblümter samischer Frauen, die ihre Stimmen weit außerhalb der Mauern ihrer kleinen Dörfer erheben. Die 33-Jährige ist die Beraterin der Präsidentin des Samenparlaments, Tiina Sanila-Aikio, und repräsentiert Finnland auf der Weltbühne. Jedes Jahr ist Arttijeff Teil einer Abordnung von indigenen Repräsentanten bei den Klimawandelgesprächen der Vereinten Nationen. Nebenher ist sie außerdem Diplomstudentin in der Fachrichtung internationale Beziehungen und Recht.

Arttijeff sagt, dass es für sie eine Ehre ist, das Volk der Samen und ihr Land bei internationalen Gipfeltreffen zu vertreten. „Es klingt komisch, aber früher haben Nicht-Samen und Nicht-Indigene Entscheidungen für uns getroffen. Jetzt können wir selbst Teil der Entscheidungsfindung sein und sie schenken uns tatsächlich Beachtung“, erklärt sie.

Eine alte Tradition im Wandel

Für indigene Rentierhirten kann schon ein leichter Temperaturanstieg drastische Auswirkungen haben. Rentiere waren es gewohnt, ihr Lieblingsfutter, Flechten [6], eine Kombination aus Pilz und Algen, im Winter problemlos unter dem Schnee zu finden. Allerdings haben mildere Winter dazu geführt, dass der Niederschlag auf dem Boden schmilzt und dann erneut gefriert, was es den Rentieren unmöglich macht, die Mahlzeiten unter dem harten Eis zu erschnüffeln und danach zu graben.

Arttijeff beschreibt die Wetteränderungen, die sie im Laufe der Jahre erfahren hat – ein Wechselspiel zwischen dem üblichen Schneefall und Regen. „Es kann schneien und dann kann es regnen, und dann friert es wieder … das bedeutet, dass der Schnee hart wird“, erzählt sie. „Rentiere können im Wald kein Futter finden … und das schwächt sie. Deine Herde wird kleiner und kleiner.“

Inka Saara Arttijeff und ihre Familie leben in diesem Haus in einem der ersten Dörfer der Samen. Das Dorf enstand am Ufer eines Sees während des Übergangs vom nomadischen Leben der Samen zu einer sesshaften Lebensweise. © Sonia Narang/PRI

Finnische Wissenschaftler haben diese Auswirkungen ebenfalls untersucht. „Die Gebiete des arktischen Meeres sind am Anfang des Winters sehr warm und bilden feuchte Luft“, erklärt Jouko Kumpula, ein Wissenschaftler am Natural Resources Institute Finland [7] (Institut für natürliche Rohstoffe). „Diese [Luft] trifft auf das Land, es regnet auf den Schnee und das ist schlecht für die Rentiere.“

Zusätzlich bietet das sich erwärmende Klima günstige Bedingungen für schädliche Insekten. „Neue Parasiten und Krankheiten weiten sich durch den Klimawandel nach Norden hin aus und können auch Rentiere befallen“, sagt Kumpula.

In ihrem Haus im Sámi-Dorf diskutieren Arttijeff und ihr Onkel über die Holzfällungen in ihrer Region. Der 68-jährige Stammesälteste der Samen, Kalle Paadar, hat sein Leben lang Rentiere gehütet und beschreibt, wie die Holzwirtschaft ein mehr als wahrnehmbares Problem ist. In dem Ausmaß, in dem Bäume gefällt werden, verändert sich die Bodenvegetation und die Rentiere ändern ihre Migrationsbewegungen. Das Fällen hinterlässt außerdem Holzabfall, der den Boden übersät und die Futterquellen der Rentiere verdeckt. „Als Rentierhirten brauchen wir einen gesunden Wald“, sagt Arttijeff.

Rentierhüten und Mutterschaft

Saara Tervaniemi verweist ebenfalls auf die Holzwirtschaft als eine der größten Bedrohungen in der Gegend. Sie ist Rentierhirtin und Mutter von drei kleinen Kindern. „Wir verlieren unsere Winterweideplätze wegen der Holzwirtschaft“, erzählt sie, während sie sich im Hauptsitz des Samenparlaments aufhält.

Finnlands staatliche Holzwirtschaftsagentur, Metsähallitus, verwaltet ungefähr ein Drittel der Wälder des Landes und ist auch verantwortlich für den Ertrag und den Verkauf von Holz. Kirsi-Marja Korhonen, eine Regionaldirektorin und Umweltexpertin bei Metsähallitus, betont in einer englischsprachigen Pressemitteilung, dass sie in den Gebieten, in denen Rentiere gehalten werden, eng mit den Gemeinschaften der Samen zusammenarbeiten, um das Fällen von Bäumen zu verhandeln [8]. Korhonen weist darauf hin, dass 60 Prozent der Bäume auf samischem Gebiet in geschützten Arealen stehen. Damit bleiben noch immer weite Teile der samischen Wälder, die ungeschützt und zu haben sind, sagen die Rentierhirten, und verweisen auf den Kahlschlag kommerziell genutzter Waldflächen.

Tervaniemi sagt, es sei entscheidend, die Aktivitäten der Holzwirtschaft auf dem Gebiet ihres Volkes zu überwachen, da die Holzfällungen die Kultur untergraben, von der sie hofft, sie an ihre Kinder weiterzugeben. Tervaniemi hat das Hüten als Kind gelernt, während sie mit ihrem Vater die Rentiere zusammentrieb. Ihre Kinder träumen davon, in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten.

„Als Mutter ist es schwierig daran zu denken, dass sie davon träumen, Rentierhirten zu werden, wenn man weiß, dass es so viele ernste Bedrohungen für das Hüten von Rentieren in unserer Gegend gibt“, sagt sie. „Wenn die Holzfällungen so weitergehen wie geplant, wird es für unsere Kinder eine echte Herausforderung, als Rentierhirten weiterzumachen.“

Saara Tervaniemi, Mitglied des Samenrats, sagt, dass ihre drei kleinen Kinder davon träumen, Rentierhirten zu werden. © Sonia Narang/PRI

Diese Lebensweise liegt dem Volk der Samen, laut Tervaniemi, im Blut. „Wenn man meinem Mann oder anderen Rentierhirten in unserem Bezirk sagen würde, sie sollten einen anderen Job finden, glaube ich nicht, dass sie eine andere Wahl hätten. Sie sind als Rentierhirten aufgewachsen. Das ist unser Leben, und es ist eine bestimmte Art zu existieren“, erklärt sie.

Tervaniemi, 37, ist Mitglied des Samenrats [9], welcher die Repräsentaten der Samen aus vier Ländern zusammenbringt. „Man muss ein bisschen wie ein Aktivist sein, um unsere Lebensgrundlage und unsere Kultur zu unterstützen“, erzählt sie. Die Frauen der Samen waren den Männern immer gleichgestellt, und viele von ihnen spielen eine bedeutende Rolle in politischen Organisationen, so Tervaniemi, die zusätzlich an ihrer Doktorarbeit über die Belange der Samen arbeitet.

Diese Tatsache ist in Finnlands Samenparlament offensichtlich, das zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen besteht und von einer Präsidentin geführt wird. Ebenso bringen regionale Frauengruppen samische Frauen aus den nördlichen Ländern zusammen, wie zum Beispiel Sarahkka, benannt nach der mythischen Tochter der ursprünglichen Eltern der Samen, und das Samen NissonForum (Frauenforum). Sie konzentrieren sich auf die Gleichberechtigung der Geschlechter und auf indigene politische Fragen, unter anderem Land- und Wasserrechte.

Da die Frauen der Samen in erster Linie für die Kinderbetreuung verantwortlich sind und dafür, der nächsten Generation ihre Kultur zu vermitteln, ist das Hüten von Rentieren ein wichtiges Thema für sie geworden. Insbesondere seit sich die Holzfällung und der Klimawandel in den letzten Jahren intensiviert haben.

75 Prozent Finnlands sind von Wäldern bedeckt. Die Rentierhirten der Samen sind wegen der Holzwirtschaft auf ihren Weideflächen besorgt. Dieses Foto zeigt den Blick aus dem Gebäude des Samenparlaments im Norden Finnlands. © Sonia Narang/PRI

„Das Rentier selbst hat so eine große Bedeutung in der samischen Kultur“, sagt Tervaniemi, „und in der Natur zu sein, bei den Rentieren zu sein, ist so wunderschön.“

Arttijeff spricht ebenfalls wehmütig von der Verbindung des Samenvolks mit seinen Rentieren. „Wenn wir sie nicht sehen, vermissen wir sie. Wir vermissen ihren Geruch und wie sie aussehen und wie sie sich anhören. Sie erkennen unsere Stimme, wir rufen sie und sie kommen zu uns.“

Es ist nicht nur das Hüten der Rentiere, das gefährdet ist, es sind ebenso die anderen vier Existenzgrundlagen der Samen: das Fischen, das Sammeln, das Jagen und das Kunsthandwerk. „Für all das braucht man Materialien aus der Natur“, erläutert Arttijeff. „Wenn die Natur sich verändert, haben wir diese Existenzgrundlagen nicht mehr. Wenn sich das also ändert, ändert sich für uns alles.“

Sonia Narang berichtete aus Finnland mit der Unterstützung des von dem Europäischen Forstinstitut gegründeten Programms Lookout360° – Climate Change Immersive Story Accelerator [10] (Ausblick360° – Beschleuniger von eindringlichen Geschichten des Klimawandels).