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Brasilianischer Aktivist im künstlichen Koma, nachdem er von der Polizei bei landesweiten Demonstrationen zusammengeschlagen wurde

Kategorien: Lateinamerika, Brasilien, Bürgermedien, Internetaktivismus, Medien & Journalismus, Meinungsfreiheit, Menschenrechte, Politik, Protest

Links: Der Angriff gegen Mateus Ferreira da Silva. Foto: Luiz da Luz. Veröffentlichung mit Genehmigung.  Rechts: Mateus Ferreira da Silva auf einem weit verbreiteten Foto.

Ein brasilianischer Student im Alter von 33 Jahren wurde diese Woche in die Intensivstation eingeliefert: Vergangenen Freitag hatte ihn ein Polizeibeamter während einer Demonstration in Goiânia mit einem Schlagstock gegen den Kopf geschlagen. Landesweit nahmen Millionen von Demonstranten an einem Protestmarsch [1] gegen Sparmaßen teil.

Mateus Ferreira da Silva, der Sozialwissenschaften an der Bundesuniversität Goiás studiert, hat ein Schädel-Hirn-Trauma und mehrere Frakturen erlitten. Ärzte operierten ihn diesen Samstag und haben ihn nun in ein künstliches Koma versetzt. Sein Zustand gilt als kritisch [2]. [Update 3. Mai: Mateus’ Zustand hat sich verbessert [3] und ist nicht mehr lebensbedrohlich.]

Der lokale Bildjournalist Luiz da Luz [4] machte Fotos von dem Angriff auf Mateus, die sich innerhalb von ein paar Tagen rasend schnell in Brasilien verbreiteten. Auf den Bildern ist auch das Gesicht des Polizeibeamten zu erkennen, der mit einem Schlagstock angriff. Der Mann wurde als Augusto Sampaio identifiziert.

Nach dem Vorfall gab die Militärpolizei im brasilianischen Bundesstaat Goiás bekannt, dass Sampaio bis zum Abschluss der Untersuchung des Vorfalls vom aktiven Dienst suspendiert [5] worden sei.

Die Bilder zeigen den Polizeibeamten, wie er in Goiânia mit seinem Schlagstock auf das Gesicht des Studenten Mateus Ferreira einschlägt (Fotos: Luiz da Luz).

Würde ein Polizeibeamter von einem Demonstranten verprügelt und auf der Intensivstation landen, wäre sein Gesicht sechs Monate lang im Fernsehen zu sehen und die gesamte Unterdrückung würde damit gerechtfertigt.

Die Facebook-Seite “Desneuralizador”, ein Pressekanal von Medien-Aktivisten aus Goiânia, teilte das von Luiz da Luz aufgenommene Video im Netz, in dem man sieht, wie Mateus von dem Polizeibeamten angegriffen wird und mehrere Sanitäter kurz darauf zu ihm eilen.

Ein weiteres Video mit den gleichen Szenen, aber aus einer anderen Perspektive gefilmt, ist ebenfalls in den sozialen Netzwerken aufgetaucht. In dem unten gezeigten Clip sieht man den Angriff auf Mateus ab der 50. Sekunde.

Für die Familie von Mateus, die in einem anderen Bundesstaat lebt, haben Internetnutzer mittlerweile 10.000 Brasilianische Reais (ungefähr 2.700 Euro) gespendet [11], um einen Teil der Kosten für die medizinische Behandlung zu decken und seiner Familie zu ermöglichen, in Goiânia zu bleiben, während er im Krankenhaus liegt.

“Sei tapfer, Mateus. Gegen Polizeigewalt”. Die Zeichnung wurde mehrfach in den sozialen Netzwerken geteilt. Von: Heitor Vilela. Veröffentlichung mit Genehmigung.

Auf Facebook [12] ruft Professor Pablo Ortellado weitere Gewaltangriffe [13] gegen Aktivisten in Goiás ins Gedächtnis:

Goiás vive um surto de violência política: foi lá que o ativista Guilherme Irish foi assassinado pelo pai por apoiar a ocupação de escolas, foi lá que a PM integrava grupo de whatsapp para criminalizar professores, foi lá que uma escola ocupada foi sabotada com um cano de gás cortado para explodir — e agora, tivemos lá também o tristíssimo caso do Mateus Ferreira da Silva, internado em situação grave depois que foi agredido na cabeça com um cacetete por um policial militar.

Goiás erlebt eine Welle der politischen Gewalt: Hier wurde der Aktivist Guilherme Irish von seinem Vater ermordet, weil er die Occupy-Bewegung in Sekundarschulen unterstützte. Hier war die Militärpolizei einer WhatsApp-Gruppe beigetreten, nur um Lehrer zu kriminalisieren, und hier wurde eine besetzte Schule mit einem Gasleck sabotiert. Und jetzt haben wir den sehr traurigen Fall von Mateus Ferreira da Silva, der auf der Intensivstation liegt, nachdem er von einem Polizisten angegriffen worden ist, der ihn mit einem Schlagstock ins Gesicht geschlagen hat.

Polizeiübergriffe

Goiás war nicht der einzige Staat in Brasilien, in dem es am vergangenen Freitag zu brutalen Polizeieinsätzen gegen Demonstranten kam.

Polizisten setzten bei Protesten im Zentrum von Rio de Janeiro, wo Demonstranten eine Bühne für Redner errichtet hatten, Gummigeschosse und Tränengas ein. Der Abgeordnete Flavio Serafini, Sozial- und Friedenspartei (PSOL), bat die Polizei via Lautsprecherdurchsagen auf Gewalt gegen Demonstranten zu verzichten. Während Serafinis Rede schoss die Polizei einen Tränengaskanister auf die Bühne und traf dabei die Person, die das untenstehende Video filmte:

Bei Protesten gegen Arbeits- und Sozialreformen beschießt die Polizei die Bühne, auf der der Abgeordnete Flávio Serafini (PSOL) spricht, mit Tränengas.

Dieses 25-minütige Video, aufgenommen von einer unbekannten Person, zeigt verschiedene Szenen des Polizeiübergriffs in Rio, bei dem Demonstranten von einer riesigen Tränengaswolke auseinandergetrieben werden und Mühe haben, wieder zusammenzufinden.

Weiterhin löste die Polizei einen Protestmarsch zur Residenz von Präsident Micel Temer auf, die sich im gehobenen Stadtteil von Alto de Pinheiros in São Paulo [16] befindet und von der Polizei seit seiner Amtsübernahme im Mai letzten Jahres streng bewacht [17] wird.

Die Polizei nahm des Weiteren Aktivisten aus der “Bewegung der obdachlosen Arbeiter Brasiliens” fest und beschuldigte sie später, Feuer gelegt und Explosionen ausgelöst zu haben. Laut einem Statement der Arbeiterbewegung auf Facebook [18], befinden sich die Aktivisten immer noch im Gefängnis.

Aktivisten kritisierten ebenfalls die von Medienmogulen geführten Pressekanäle, die ihrer Meinung nach die Proteste vertuschen. Dazu gehört auch ein Bericht in Folha de S. Paulo, einer der ältesten Zeitungen im ganzen Land.

Polizisten vor einer Barrikade in Rio de Janeiro. Foto: Erick Dau/The Intercept. Veröffentlichung mit Genehmigung des Rechteinhabers.

Laut der Geschichte über Mateus Ferreira, die in Folha de S. Paulo am Sonntag veröffentlicht wurde, war der Angreifer angeblich ein Mann, der sich als Militärpolizist verkleidet [19] hatte. Diese Version wurde später redigiert.

Auf Facebook äußerte [20] sich Professor Idelber Avelar über die typische Berichterstattung über Proteste in den Mainstream-Medien: Lieber würde über Störungen im Verkehr und zerbrochene Fensterscheiben als über Polizeirepression oder die Forderungen der Demonstranten berichtet:

Mais uma vez, a imprensa brasileira escolheu cobrir protestos de rua dando destaque a esse insólito protagonista, a vidraça. Folha de São Paulo e Estado de São Paulo escolheram a imagem de uma vidraça sendo quebrada para ilustrar suas primeiras páginas. Já O Globo preferiu a imagem de um ônibus incendiado.

Não há razão jornalisticamente plausível para que uma vidraça quebrada receba mais destaque que a reunião de milhares de pessoas em uma praça para defender uma pauta. Você pode continuar sendo radicalmente contra qualquer arranhão em qualquer patrimônio material e, mesmo assim, reconhecer esse fato. De novo, o termo “vandalismo” recebe um destaque absurdamente desproporcional e os já tradicionais atos de violência da Polícia Militar são noticiados como “manifestantes entram em confronto com PM”.

Wieder einmal haben die brasilianischen Medien Straßenproteste vertuscht, indem sie den Fokus auf einen anderen, unerwarteten Protagonisten lenkten: eine Fensterscheibe. Die Folha de S. Paulo und Estado de S. Paulo berichteten gezielt über ein zerbrochenes Glasfenster, um mit einem Foto ihre Titelseiten illustrativ auszugestalten. Dagegen bevorzugte die O Globo eine Titelstory mit einem in Brand gesetzten Bus.

Es gibt keinen plausiblen journalistischen Grund, mehr über eine zerbrochene Fensterscheibe als über die Proteste tausender Menschen, die der Verteidigung einer speziellen Sache dienen, zu berichten. Dies muss man auch anerkennen, wenn man strikt gegen jede Form von Sachbeschädigung ist. Auch hier erhält der Begriff “Vandalismus” eine absurde, unverhältnismäßige Bedeutung, und die typischen Gewalttaten der Militärpolizei werden durch Schlagzeilen mit dem Titel “Demonstranten auf Konfrontationskurs mit der Polizei” vertuscht.