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Guatemala trauert um Dutzende Mädchen, die bei einem Brand in einem Kinderheim ums Leben kamen

Kategorien: Lateinamerika, Guatemala, Bürgermedien, Frauen & Gender, Jugend, Katastrophe, Menschenrechte, Protest
Familiares lloran afuera del Hogar Seguro el 8 de marzo de 2017. Foto de Carlos Sebastián para Nómada. Usada bajo licencia Creative Commons.

Weinende Angehörige versammeln sich am 8. März 2017 vor dem Kinderheim. Foto von Carlos Sebastián für Nómada. Verwendung unter einer Creative-Commons-Lizenz.

Am 8. März starben Dutzende Mädchen unter tragischen Umständen bei einem Brand in einem Kinderheim am Stadtrand von Guatemala-Stadt. In der Nacht davor waren die Mädchen nach einem gescheiterten Fluchtversuch in ihrem Schlafsaal eingeschlossen worden. Am nächsten Morgen zündeten sie aus Protest dagegen die Matratzen an, das Feuer breitete sich jedoch auf den gesamten Gebäudetrakt aus. Mindestens 41 Kinder und Jugendliche [1]starben in den Flammen.

Die mexikanische Online-Nachrichtenagentur Sin Embargo [2] berichtete: „Seit Jahren behaupten Minderjährige immer wieder, während ihrer Zeit in dem Kinderheim Opfer körperlicher und psychischer Gewalt sowie sexueller Misshandlung geworden zu sein.“

Ironischerweise ereignete sich die Brandkatastrophe ausgerechnet am Internationalen Frauentag – als Feministinnen auf der ganzen Welt gegen Gewalt gegen Frauen demonstrierten – und zu einer Zeit, in der die Bewegung Ni Una Menos [3] (Nicht eine weniger) sich in ganz Lateinamerika ausbreitet.

Augenzeugen erklärten gegenüber Sin Embargo, dass der vereitelte Fluchtversuch der Heimbewohnerinnen am 7. März bei weitem nicht der erste war. Dieses Mal wurde dadurch jedoch eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, die letztendlich zu der Tragödie führte.

In einem Beitrag von Community Press KM169 [4] auf der Internetplattform Medium wurden die Bedingungen in dem Heim als entsetzlich beschrieben. Fluchtversuche von minderjährigen Heimbewohnern seien an der Tagesordnung:

Al menos unas cincuenta niñas y niños intentaron huir el 7 de marzo del infierno mal llamado Hogar seguro Virgen de la Asunción. Estaban desesperadas de los golpes, del encierro, de las violaciones sexuales, abortos forzados, administración de fármacos y de las torturas permanentes, de todo tipo. Muchas de ellas estaban embarazadas. Esto no es nuevo pues había denuncias desde el 2016.

Huyeron pero pronto atraparon a la mayoría y el presidente mismo Jimmy Morales ordenó que se enviaran más de 250 policías incluyendo antimotines, que se quedaron ahí toda la noche para tener todo “bajo control“.

Mindestens 50 Jungen und Mädchen versuchten am 7. März aus dem unpassenderweise „Mariä-Himmelfahrt-Heim“ genannten Kinderheim wegzulaufen. Aufgrund der Schläge, des Eingesperrtseins, der sexuellen Gewalt, der Zwangsabtreibungen und der Zwangsmedikation und weiterer Qualen sahen sie keinen anderen Ausweg. Viele der Mädchen waren schwanger. All dies ist jedoch nicht neu – entsprechende Berichte gibt es bereits seit 2016.

Die Heimbewohner liefen weg, aber die meisten wurden schnell gefunden und wieder in das Heim zurückgebracht. Jimmy Morales, der Präsident von Guatemala, ordnete den Einsatz von mehr als 250 Polizeibeamten an, darunter auch Mitglieder der Bereitschaftspolizei, um die Lage im Heim „unter Kontrolle“ zu bringen.

Am 8. März „rebellierten die Mädchen und steckten ihre Matratzen in Brand, damit man sie aus den Zimmern lassen würde. Man ließ sie jedoch nicht aus den Zimmern, und sie verbrannten qualvoll“, wie die lokale Nachrichtenagentur Nómada [5] berichtete.

Community Press KM169 beschreibt die tragischen Ereignisse wie folgt:

El fuego empezó a arder en la madrugada, los monitores o encargados y los cientos de policías no hicieron nada más que amedrentar y amenazar a los jóvenes albergados en otros módulos que querían ayudar. A los cuerpos de socorro se les negó el acceso como lo denunció un oficial bomberos, y los familiares en las afueras pedían desesperadamente entrar y los antimotines impidieron el paso. Nadie pudo hacer nada

Das Feuer brach in den frühen Morgenstunden aus, und die Aufsichtspersonen, die Leiter und die vielen hundert Polizisten taten nichts anderes, als die Jugendlichen, die aus anderen Bereichen des Heims zur Hilfe geeilt kamen, einzuschüchtern und zu bedrohen. Sie verweigerten den Rettungskräften den Zugang zum Gebäude, so ein Feuerwehrmann. Die Angehörigen, die versuchten, von außen in das Gebäude zu kommen, wurden von der Bereitschaftspolizei aufgehalten. Niemand konnte etwas tun.

Eine Überlebende erzählte [6] Journalisten:

Pedimos auxilio y una de las agentes dijo: que sufran esas desgraciadas, que así como habíamos sido buenas para fugarnos, que fuéramos buenas para aguantar el dolor.

Wir riefen um Hilfe und einer der Beamten sagte nur: „Lass die Gören leiden. Wenn sie ausreißen wollen, sollen sie auch die Schmerzen aushalten.“

Auf einer Pressekonferenz [5] am Tag nach dem Großbrand stellten die Behörden ihre Version der Geschehnisse vor. Präsident Morales fiel dabei aufgrund „wichtiger Staatsangelegenheiten“ durch Abwesenheit auf. Ein Regierungssprecher gab an, die Mädchen seien als Strafe für Erpressung und das Verstecken von Waffen eingesperrt worden. „Wir hatten alle Möglichkeiten zu einem Dialog mit den Mädchen ausgeschöpft“, erklärte der Sprecher. Weiterhin deutete er an, dass der wahre Grund für ihre Beschwerden nicht Folter, sondern vielmehr das schlechte Essen gewesen sei. „Es lag keine Fahrlässigkeit vor.“

Trotzdem gab Präsident Morales später zu [2], dass der Staat der Situation im Mariä-Himmelfahrt-Heim „nicht genug Beachtung“ geschenkt habe. Er warnte davor, dass eine Tragödie wie diese sich wiederholen könne, wenn die Behörden nicht aus ihren Fehlern in diesem Fall lernen würden.

‘Hölle’ ist hier keine Metapher

Die Kinder waren aufgrund von Gerichtsbeschlüssen im Mariä-Himmelfahrt-Heim untergebracht. Die Webseite Nómada gibt an, dass viele von ihnen Mitglieder in Banden gewesen waren und Straftaten begangen hatten, während andere schlicht und einfach auf der Straße ausgesetzt worden waren. Diese Minderjährigen wurden für Raubüberfälle und sogar Mordanschläge ausgenutzt und zur Prostitution gezwungen. Einige Kinder mit Behinderungen waren von ihren Eltern in staatliche Obhut gegeben worden, da sie mit den besonderen Bedürfnissen der Kinder überfordert gewesen waren.

„In dem für 500 Personen ausgelegten Heim waren mehr als 800 Babies, Kinder und Jugendliche untergebracht“, berichtete Nómada.

In einem Beitrag für das Online-Magazin La Barra Espaciadora [7] schrieb Cristina Burneo Salazar:

[…] la narrativa construida para este caso es una narrativa de reclusos, no de niños en estado de indefensión. “Se escaparon, los recapturaron”. Si están en un centro de reclusión no se pueden escapar, pero se habla como si se tratara de cárceles.

[…] die Schilderung dieses Falls lässt eher an Gefangene als an wehrlose Kinder denken. „Sie rissen aus, sie wurden wieder eingefangen.“ Wenn sie in einem geschlossenen Heim sind, können sie nicht ausreißen. Aber es klingt, als ob es sich um ein Gefängnis handelt.

Wir möchten leben

Zwölf Stunden nach dem Brand kamen Trauernde auf dem Plaza de la Constitución, dem zentralen Platz in Guatemala-Stadt, zusammen. Dort zündeten sie 770 Kerzen an – als Symbol für die Zahl der Frauen, die jedes Jahr im Land getötet werden. Allein während dieser Zeremonie erlagen drei weitere Mädchen ihren schweren Verbrennungen.

Die Tragödie im Kinderheim hat Guatemala erschüttert. Mit Mahnwachen, Kunst, Protesten und Kommentaren in den sozialen Medien versucht das Land die Wut und Trauer über eine Katastrophe, deren Verantwortliche noch nicht gefunden wurden, zu verarbeiten.

Mujeres prenden velas el 8 de marzo de 2017 en la Ciudad de Guatemala. Foto de Carlos Sebastián para Nómada. Usada bajo licencia Creative Commons.

Frauen zünden am 8. März 2017 Kerzen in Guatemala-Stadt an. Foto von Carlos Sebastián für Nómada. Verwendung unter einer Creative-Commons-Lizenz.

Hier eine Auswahl einiger von den Protesten inspirierter Twitter-Beiträge:

Gerechtigkeit. Guatemala trauert. Es war der Staat.

Guatemala. Guatemala trauert.

Die Mädchen von Guatemala. Guatemala trauert. Gerechtigkeit.
Im Bild: Guatemala, Gerechtigkeit jetzt! Dieses Land tötet uns, bringt uns zum Schweigen, vergewaltigt uns, beschuldigt uns.

Die Wissenschaftlerin Coral Herrera Gómez schrieb [20] auf Facebook:

La monstruosa indiferencia: Lo de las niñas de Guatemala no se me quita de la cabeza, sigue doliéndome en el corazón. Las violan, las maltratan y cuando protestan las queman vivas. Las asesinó el machismo, el clasismo y el racismo, y cada día que pasa las mata la indiferencia. […]

Diese riesige Gleichgültigkeit: Die Mädchen von Guatemala gehen mir nicht aus dem Kopf. Mir blutet das Herz. Sie werden vergewaltigt, sie werden misshandelt, und wenn sie dagegen protestieren, lässt man sie lebendig verbrennen. Sie wurden durch Machismus, Klassendenken und Rassismus getötet, und sie sterben jeden Tag durch Gleichgültigkeit. […]