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Die “Urabá-Tagebücher” zeigen die Probleme und Hoffnungen junger Menschen im Norden Kolumbiens

Kategorien: Lateinamerika, Kolumbien, Bildung, Bürgermedien, Jugend, Kriege & Konflikte
Foto: Carretera hacia Urabá, fotografía de Wikimedia Commons, del dominio público. [1]

Foto: Die Straße nach Urabá, Foto von Wikimedia Commons (Public Domain).

Die Diarios de Urabá [2] (die Urabá-Tagebücher), eine auf der Blog-Plattform Medium veröffentlichte Serie, geben Lesern einen Einblick in das Leben der Menschen in einer Region im Norden Kolumbiens, die größtenteils von Landwirtschaft und Viehzucht geprägt ist. Die Diarios sind eine Sammlung von Geschichten von Lehrern, die in der Region arbeiten – Geschichten über die alltäglichen Probleme der Einwohner, ihre Sorgen und Nöte, die ohne diesen selbstgeschaffenen Platz im Netz wenig Aufmerksamkeit erhalten würden.

Die Sprache der Diarios ist klar und ausdrucksstark. Sie bringen Lesern den Schülern näher, die alles für eine gute Ausbildung und eine Zukunftsperspektive tun, an einem Ort „wo die Straßen zwar in schlechtem Zustand sind, aber von einer fantastischen Pflanzenpracht in tausend Farben gesäumt werden“:

El agua es un bien escaso, pero abundan las soluciones para encontrarla. Por eso en nuestro Urabá cordobés la lluvia es sinónimo de felicidad. En esta tierra de contrastes y absurdos hay personas dispuestas a recorrer horas de camino, desafiando las condiciones del medio, para ir a la escuela.

Wasser ist hier knapp, aber es gibt viele Lösungen, mit denen man es trotzdem finden kann. Deshalb ist hier in unserem Teil von Urabá Regen ein Synonym für Freude. In diesem Land der Gegensätze und Absurditäten gibt es Menschen, die bei jedem Wetter stundenlange Wege in Kauf nehmen, um zur Schule zu gehen.

Urabá war eines der Gebiete Kolumbiens, in dem die paramilitärische Gruppierung „Clan Úsuga” Anfang April einen „bewaffneten Streik [3]” durchführte. Diese Gruppe könnte zu einem wichtigen Akteur in Kolumbien werden, wenn der Friedensvertrag zwischen der Regierung und den Guerilla-Gruppen, die sich seit über 50 Jahren [4] bekämpfen, unterzeichnet wird.

Der bewaffnete Konflikt in Kolumbien umfasst viele verschiedene Phasen. Im Grunde kann man ihn aber als die Fortsetzung einer Auseinandersetzung um Landbesitz und die politische Orientierung der Menschen beschreiben, die ständig zwischen den beiden gegnerischen Parteien stehen.

Wie fühlt es sich an, in dieser komplexen Situation mitten in einer Konfliktregion zu leben, hin- und hergerissen zwischen bewaffneten Gruppen und der problematischen Bewirtschaftung des Landes? Die Diarios sind zwar seit Monaten inaktiv, doch die Zeugenberichte haben nichts von ihrer Eindringlichkeit und Relevanz verloren. Leser können nach wie vor für einen kurzen Augenblick den Menschen folgen, die bei dem politischen und wirtschaftlichen Tauziehen ganz vorne in der Schusslinie stehen.

Persönliche Probleme in einem bewaffneten Konflikt

Ángel [5], dessen Geschichte auch in den Diarios erzählt wird, könnte eigentlich ein ganz normaler Teenager in dieser Region sein, in der fast der gesamte Viehbestand einigen wenigen reichen Landbesitzern gehört. Hier in dieser Region entstanden die rechten paramilitärischen Gruppen als Gegenstück zu den linken Guerillagruppen. Seit Ángel denken konnte, hatte sein Vater für die Paramilitärs gearbeitet. Als Ángel 12 Jahre alt war, tat er es ihm gleich. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich seine Eltern getrennt und er stand vor der Frage, ob er sich voll und ganz der kriminellen Gruppe widmen sollte oder seinen Traum, ein großer Fußballer wie Cristiano Ronaldo zu werden, verwirklichen sollte.

Eines Tages hatte er schließlich seine Entscheidung getroffen, packte seine Sachen und machte sich auf die Suche nach seiner Mutter:

Después de un tiempo la vida lejos de su mamá empezó a hacerse más difícil, no solo la extrañaba sino que también se enfrentaba con la obligación de vincularse formalmente al grupo para el que trabajaba esporádicamente, lo que significaba dejar su familia, su colegio y su sueño de ser como Cristiano Ronaldo. Ángel no es una persona que este dispuesta a renunciar a sus sueños tan fácilmente, así que alistó maletas y se fue a buscar a su mamá para, al igual que ella, empezar de nuevo

Nach einiger Zeit wurde es immer schwieriger für ihn, von seiner Mutter getrennt zu sein. Es war nicht nur die Tatsache, dass er sie vermisste, sondern er war auch gezwungen, sich zu entscheiden, ob er sich auch offiziell der Gruppe, für die er hin und wieder gearbeitet hatte, anschließen, seine Familie verlassen, die Schule abbrechen und seinen Traum, wie Cristiano Ronaldo zu werden, aufgeben sollte. Ángel ist niemand, der seine Träume einfach leichtfertig aufgibt und so packte er seine Sachen und machte sich auf die Suche nach seiner Mutter, um genau wie sie neu anzufangen.

Wenn Menschen dem Bildungssystem gleichgültig sind

Ángels Welt ist anders als die von Richar [6], über den es auch eine Geschichte in den Diarios gibt. Richar lebt in einer abgelegenen Gemeinde, in der selbst eine Wasserleitung und ein Abwassersystem ein unvorstellbarer Luxus sind. Richar ist ein chilapo, eine abwertende Bezeichnung für Menschen, die halb indigen halb schwarz sind, und er fühlt sich angegriffen, wenn er mit einer dieser Ethnien in Verbindung gebracht wird. Dies hat wahrscheinlich mit der Vertreibung zu tun – eine der Folgen des bewaffneten Konflikts. Seine Großeltern, bei denen er wohnt, haben nie mit ihm über sein kulturelles Erbe gesprochen:

La escuela tendría entonces esa responsabilidad. En el área de ciencias sociales Los Estándares de Educación le apuntan al desarrollo de pensamiento crítico frente a diversos temas entre los cuales se encuentran: respeto por los derechos humanos e inclusión social. Cada institución educativa debe adecuar su plan de trabajo para lograr estos objetivos teniendo cierta libertad para decidir cómo, de acuerdo con su contexto.

Sin embargo el plan de área del colegio de Richar, al igual que el de muchos otros colegios, no fue elaborado pensando en las necesidades de los estudiantes que atiende, sino que fue copiado de Internet

Das wäre die Aufgabe der Schule gewesen. Der Unterricht in den Gesellschaftswissenschaften zielt auf die Entwicklung des kritischen Denkens in verschiedenen Bereichen ab – darunter die Einhaltung der Menschenrechte und soziale Inklusion. Jede Bildungseinrichtung muss ihren Lehrplan an diese Lernziele anpassen, kann aber bis zu einem gewissen Grad selbst entscheiden, wie sie dies konkret umsetzt.

An Richars Schule jedoch – genau wie an vielen anderen Schulen auch – wurde der Lehrplan nicht im Hinblick auf die Bedürfnisse der Schüler entwickelt, sondern wurde einfach aus dem Internet kopiert.

Wenn diese Werte aber nicht vermittelt werden, leidet nicht nur die Qualität der Bildung, sondern man bereitet auch den Boden für Intoleranz:

“Richar cree que llamar a alguien indio o negro es un insulto, se resiste a aceptar hombres con el pelo largo, personas con tatuajes, mujeres solteras, acentos diferentes y diversidad religiosa. Esto significa que las futuras generaciones no tendrán las herramientas para construir la sociedad cohesionada y en paz que desde hace más de cincuenta años pretende el país.”

Richar denkt, es ist eine Beleidigung, jemanden „Indio” oder „schwarz” zu nennen. Er ist gegen Männer mit langen Haaren, Menschen mit Tätowierungen, alleinstehende Frauen, unterschiedliche Akzente und religiöse Vielfalt. Das führt dazu, dass zukünftige Generationen nicht die Möglichkeit haben, die vereinte und friedliche Gesellschaft zu schaffen, die sich das Land schon seit mehr als 50 Jahren wünscht.

Aber die Überlegungen gehen noch darüber hinaus. Statt sich für eine einheitliche Bildung einzusetzen, bewirkt die Regierung das Gegenteil:

Permiten la realización de ciertas actividades, como “El Día de la Antioqueñidad”, que lo único que genera es profundizar en los regionalismos, culpables de la segregación al interior de las comunidades con el imaginario de superioridad cultural.

Esta celebración conmemora del día de la independencia del departamento en 1813. Sin embargo la celebración no tiene ningún tinte histórico sino que se limita a exaltar el sector más poderoso del departamento, hacendados y empresarios blancos, olvidando que la historia antioqueña la han escrito también negros, mestizos, indígenas, desplazados, costeños. Al igual que en los demás departamentos de este país fragmentado por las ideas regionalistas.

Sie erlauben bestimmte Aktivitäten, wie zum Beispiel “El día de la Antioqueñidad” [ein Tag, an dem die Region Antioquia sich und ihre Errungenschaften feiert], was zur Stärkung des Regionalismus führt, der wiederum für die Ausgrenzung innerhalb der Gemeinden aufgrund vermeintlicher Überlegenheit verantwortlich ist.

Damit wird die Unabhängigkeit der Region im Jahr 1813 gefeiert. Die Feier hat jedoch nichts mehr mit Geschichte zu tun. Vielmehr beschränkt sie sich darauf, den wichtigsten Industriezweig der Region zu feiern und damit die weißen Landbesitzer und Geschäftsleute. Dabei wird jedoch völlig vergessen, dass die Geschichte von Antioquia auch von Schwarzen, Menschen gemischter Rasse, Indigenen, Vertriebenen und Küstenbewohnern geprägt wurde. Genauso ist es auch in anderen Regionen in diesem Land, die von regionalistischen Ideen gespalten werden.

Joseph, aus dem ein Beitrag Cuando sea grande quiero ser [7] (Was ich werden möchte, wenn ich groß bin), möchte diese Ausgrenzung beenden. Er wurde in Itsmina geboren, einer Stadt in der Nachbarregion Chocó, der ärmsten Region Kolumbiens, wo die Mehrheit der Bevölkerung afrikanischen Ursprungs ist. So kam es, dass Joseph keine Antwort auf die Frage des Lehrers in der Ethikstunde hatte, als dieser fragte, was sie mal werden wollten. Dann erkannte er jedoch seine Berufung. In der Nacht stellte er sich den Rest seines Lebens vor und sah sich selbst in einem Klassenraum stehen und unterrichten. Schließlich studierte Joseph an der Technischen Universität von Chocó, machte seinen Abschluss in Sport und zog nach Urabá, um dort seinen Traum zu verwirklichen.

Joseph ist vernünftig, hat eine Familie gegründet und leistet gute Arbeit. Die Regierung in der weit entfernten Hauptstadt verlangt von ihren Angestellten einerseits Qualität, gibt ihnen andererseits aber nicht die Mittel, diese auch zu gewährleisten. Dies wurde für den jungen Lehrer zum Albtraum. Anders als andere gibt er aber trotz der schwierigen Bedingungen, der Gleichgültigkeit mit der viele seiner Kollegen die Schüler unterrichten und der sinnlosen Versammlungen, die nirgendwohin führen, nicht auf.

Eine Region “voll von Träumern”

Die Diarios de Urabá zeigen mit Besorgnis, dass das Model der “Escuela Nueva” (Neue Schule) [8], das aufgrund geringer Schülerzahlen eingeführt wurde, zu einer unzureichenden Ausbildung führt. Außerdem veranschaulichen sie, wie religiöse Einrichtungen in das System eingreifen [9], das gemäß der kolumbianischen Verfassung säkular sein soll.

Trotzdem gibt es weiterhin Hoffnung dank all derer, die einen der wichtigsten Kämpfe in der Region führen:

“Menos mal [que esta] región está plagada de soñadores, líderes y personas dispuestas a demostrar que su historia no definirá su futuro.”

Zum Glück ist [diese] Region voll von Träumern, Anführern und Menschen, die beweisen wollen, dass unsere Zukunft nicht von unserer Geschichte bestimmt wird.