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Eine Online-Kampagne soll anonyme Autoren ausfindig machen, die während der argentinischen Diktatur Gedichte hinter Gittern verfassten

Kategorien: Lateinamerika, Argentinien, Bürgermedien, Internetaktivismus, Kriege & Konflikte, Literatur
Pages of the Rawson notebook. Used with permission of Archivo Provincial de la Memoria del Chubut (Provincial Archive of Chubut's Memory)

Seiten des Heftes aus der Haftanstalt von Rawson, mit Genehmigung des “Archivo Provincial de la Memoria del Chubut” (Gedenkarchiv der Provinz Chubut)

Der “Schmutzige Krieg” [1] in Argentinien, der von 1974 bis 1983 geführt wurde, ist ein düsterer Abschnitt in der Geschichte des Landes. Während dieser Zeit wurden etwa 30.000 Menschen ermordet. Mehrere zehntausend Zivilisten wurden entführt, inhaftiert, gefoltert und umgebracht. Arbeiter, Studenten, Lehrer, Journalisten, Aktivisten – jeder, der nur den geringsten Widerspruch gegen die Diktatur der Rechten äußerte, geriet ins Visier der brutalen Todesschwadronen.

Viele argentinische Bürger wurden in geheimen Haftanstalten untergebracht, die es im ganzen Land gab. Die Strafanstalt von Rawson, ein Hochsicherheitsgefängnis in der abgelegenen Provinz Chubut, war eines der radikalsten von ihnen. Etwa 12.000 politische Gefangene wurden zwischen 1975 und 1984 in Rawson untergebracht. Häftlinge, die dort ihre Strafe absaßen, nannten es ein legales Konzentrationslager [2].

Pages of the Rawson notebook. Used with permission of Archivo Provincial de la Memoria del Chubut (Provincial Archive of Chubut's Memory)

Seite des Heftes aus der Haftanstalt Rawson, mit Genehmigung des “Archivo Provincial de la Memoria del Chubut” (Gedenkarchiv der Provinz Chubut)

Im Jahr 1983 verließ Hebel Mabel Garro, der in Rawson Literatur unterrichtete, die Haftanstalt mit einem Buch voller Gedichte, die Gefangene zwischen April 1982 und August 1983 geschrieben hatten. Keiner der Texte war mit dem Namen seines Autors versehen worden.

Heute, 40 Jahre später, sind diese Gedichte veröffentlicht worden [3]. Die Stimmen der Autoren haben nun ein Publikum, auch wenn ihre Namen unbekannt sind. Cosecha Roja [3], ein Netzwerk aus seriösen Journalisten und Menschenrechtsorganisationen, hat die Kampagne #CuadernodeRawson [4] ins Leben gerufen, um Kontakt mit den ursprünglichen Autoren herzustellen.

Im Gefängnis war es verboten zu schreiben. Die Häftlinge schrieben auf Zigarettenpapier mit der abgetrennten Spitze eines Bleistifts. Mit den in Rawson verfassten Gedichten haben die Gefangenen die physischen Grenzen der Haftanstalt überwunden. Die Gedichte bezeugen ihre Gedanken und das, was die Häftlinge mit bloßen Worten nicht sagen konnten.

Alle Gedichte handeln von Dunkelheit, von Hunger, Wut und Einsamkeit, und auch vom Verlust der Sehnsucht und der Hoffnung. Ein Beispiel dafür ist das folgende Gedicht “Vamos Andando” (Wir halten durch):

Vamos Andando

Por todos los chicos que sueñan y cantan
por todos los chicos que esperan
por los que recuerdan
por la mano tierna que busca una mano
y que no la encuentra
por los cuentos de hadas
que ya nadie cuenta
por los que interrogan en cada mirada
a la vieja abuela
a la dulce hermana
por los que conversan con mama en secreto
u le inventan juegos
como si estuviera
por los que recorren semana a semana
un itinerario
de muros hostiles, de gestos extraños
con una sonrisa que tiembla en los labios
y aplastan la ñata contra un vidrio helado
por todos los chicos que sueñan y cantan
por todos los chicos que buscan
de noche una estrella
en el alto cielo
por todos los chicos que esperan
la hora del sol
por todos ustedes seguimos andando.

Wir halten durch

Für alle Kinder, die träumen und singen
Für alle Kinder, die warten
und erinnern
Für die zarte Hand, die eine andere sucht
und die diese nicht findet
Für die Märchen,
die niemand mehr erzählt
Für diejenigen, die mit jedem Blick
die alte Großmutter und
die liebe Schwester befragen
Für die, die mit Mutter im Geheimen reden
oder Spiele erfinden,
ganz als sei sie da
Für die, die Woche für Woche
einen Weg abgehen,
einen Weg der feindseligen Wände und seltsamen Gesten,
die lächeln mit zitternden Lippen
und ihre Nase gegen das eiskalte Glas drücken
Für alle Kinder, die träumen und singen
Für alle Kinder, die nachts
einen Stern suchen
hoch oben im Himmel
Für alle Kinder, die warten
auf den Sonnenaufgang
Für sie alle halten wir durch.

Das Heft, das jemand heimlich aus Rawson U6 mitgenommen hat, umfasst 84 gut erhaltene, gelbliche Seiten, die alle beschrieben sind. Auf dem Umschlag ist ein Segelschiff im Wasser zu sehen.

Die Namen der Autoren von achtzehn anonymen Gedichten müssen noch gefunden werden. Cosecha Roja hofft, dass sobald die Autoren der Rawson-Gedichte gefunden wurden, sich Wege öffnen, um diesen schmerzhaften Abschnitt in der Geschichte Argentiniens abzuschließen. Wenn Sie Autor einer dieser Texte sind oder einen der Autoren kennen, melden Sie sich unter info.cosecharoja@gmail.com [5] und centrocultural.dhchubut@gmail.com [6].

Heft aus der Haftanstalt von Rawson [7]