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Tausende Mexikanerinnen kehrten nicht nach Hause zurück

Kategorien: Lateinamerika, Mexiko, Bürgermedien, Frauen & Gender, Kriege & Konflikte
"Mujeres desaparecidas". Foto de Luis Sandoval para El Universal. Publicada con permiso de CONNECTAS.

“Verschwundene Frauen”. Foto von Luis Sandoval für El Universal. Veröffentlicht mit der Genehmigung von CONNECTAS.

Diese Reportage [1] schrieb Daniela Guazo im Rahmen des Mike-O’Connor-Stipendiums des International Center for Journalists (ICFJ) und der Initiative für Investigativen Journalismus in Amerika, die das ICFJ gemeinsam mit der Journalismus-Initiative CONNECTAS [2] organisiert, für die mexikanische Tageszeitung El Universal [3]. Diese Version wird dank einer Vereinbarung zum Teilen von Inhalten von Global Voices veröffentlicht.

Von 2002 bis 2015 sind in der Hauptstadt Mexikos mehr als dreitausend Frauen verschwunden. Obwohl ihr Verbleib unbekannt ist, verlieren ihre Angehörigen nicht die Hoffnung, sie wiederzufinden. Die Behörden erachten sie jedoch lediglich als “abwesend”.

Ana Paola Franco ist kürzlich 21 Jahre alt geworden, aber dieses Mal blies sie nicht im Kreise ihrer Familie die Kerzen auf einer Torte aus. Die Tradition wurde unterbrochen. In ihrem Zimmer befinden sich ihre Kleidung, ihr Bett und ihre großen Kuscheltiere – Erinnerungen an das Leben, das sie führte. Alles ist seit dem 9. Februar 2016 intakt geblieben. Das war der letzte Tag, an dem die Jugendliche das Haus in Richtung Arbeit verließ und sich mit einem einfachen “Wir sehen uns am Abend” von ihrem Bruder verabschiedete. Dieses Versprechen konnte sie nicht einhalten.

Nach mehr als 24 Stunden ohne ein Lebenszeichen von Ana Paola, wurden ihr Name, ihr Foto und ihre persönlichen Kennzeichen auf einen Handzettel gedruckt. Diese Blätter, die das Zentrum für Betreuung von vermissten oder verschollenen Personen [4] (Capea) in Mexiko-Stadt herausgibt, haben keinen Nachrichtenwert. Ihr Fall war eine von 187 Meldungen verschwundener Frauen, die sich zwischen Januar und März 2016 in der Hauptstadt häuften.

Der Vater von Ana Paola begab sich zur Dienststelle der Staatsanwaltschaft von Tlalpan. Dort stieß er auf die größte Mauer, die sich Familien in einer ähnlichen Situation entgegenstellt: die Beamten der Behörde sagten: “Sie müssen 48 Stunden warten, bevor die Ermittlungen beginnen können, denn sie ist volljährig.” Er verließ die Dienststelle mit der Angst, dass niemand nach seiner Tochter suchen würde.

Foto de Luis Sandoval para El Universal. Publicada con permiso de CONNECTAS.

Foto von Luis Sandoval für El Universal. Veröffentlicht mit der Genehmigung von CONNECTAS.

Der Name dieser jungen Frau ist einer von so vielen in der Datenbank der Verschwundenen dieser Stadt. Die Abteilung Datenjournalismus von El Universal systematisierte diese Register, die im März 2016 auf der Seite der Generalstaatsanwaltschaft von Mexiko Stadt [5] zur Konsultation verfügbar sind, um festzustellen, wie viele Frauen in dieser Stadt vermisst werden.

Von den 6.878 auf der Seite gemeldeten Fällen sind 3.054 Frauen. Das Register umfasst die Jahre 2002 bis Ende 2015. José Antonio Ferrer, Direktor von Capea, versichert, dass die Webseite regelmäßig aktualisiert wird und wenn eine Person gefunden wird, werden ihre Daten aus dem Portal gelöscht.

Unten, neben dem Aktenzeichen, steht das Wort “ABWESEND”. Diese Bezeichnung hat dazu geführt, dass mehr als dreitausend Fälle bei den Beamten der Hauptstadt keine Priorität haben. Ferrer äußert sich eindeutig, als er beschreibt, was die ihm unterstehende Institution unternimmt:

Nosotros no conocemos de desaparecidos. Son personas extraviadas o ausentes.

Wir wissen nichts von Verschwundenen. Es sind verschollene oder abwesende Personen.

In sechs von zehn registrierten Fällen auf dem Portal Capea, das heißt in 1.972 Fällen, waren die Jugendlichen zwischen 13 und 20 Jahre alt, als sie zum letzten Mal gesehen wurden. 44% davon ereigneten sich in den Bezirken Iztapalapa [6], Gustavo A. Madero [7] und Cuauhtémoc [8].

Zwischen 2009 und 2011 gibt es pro Jahr durchschnittlich 300 ungelöste Fälle. 2012 stieg diese Zahl auf 432 gemeldete weibliche Personen, die nicht nach Hause zurückgekehrt sind. Die Zahlen gehen bei Weitem nicht zurück, sondern steigen weiterhin deutlich an. In den Registern für 2015 sind nach den auf der Webseite von Capea verfügbaren Daten die Namen von 522 Frauen als Verschwundene verzeichnet.

Die Beobachtungsstelle gegen den Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung in Mexiko-Stadt [9] weist darauf hin, dass die Behörden das Problem nicht wahrnehmen wollen. “Die Stadt beginnt, ihre eigenen Menschenhandelsopfer zu schaffen und die Regierung ignoriert das”, sagen Gerardo Nava und Víctor Núñez, Mitglieder dieser Organisation, die in diesen Fällen seit mehr als vier Jahren ermittelt.

Aber für die Mütter ist die schwierigste Frage, zu wissen, wann sie die Suche aufgeben sollen. Alma Estela, die Mutter von Ana Paola, sagt mit ruhiger Stimme und Augen voller Tränen:

No vamos a parar. Aunque me entreguen un cuerpo al cual llorarle, pero necesito saber en dónde está mi hija.

Wir hören nicht auf. Auch wenn mir ein Leichnam übergeben wird, den ich beweinen kann – ich muss wissen, wo meine Tochter ist.

Jedes Mitglied der Familie Franco Aguilar hält sich an etwas fest. Die letzte Nachricht. Die Erinnerung an das Filmeschauen am Wochenende. Das gemeinsame Frühstück: “Da waren nur wir vier”, sagt ihr Vater. Oscar zwingt sich zu glauben, dass das Quartett eines Tages wieder vollständig sein wird.

Auf der Multimediaseite Ausencias Ignoradas [Ignorierte Verschollene] [10] können Sie Genaueres über die Situation erfahren, die tausende Angehörige erleben, und jedes einzelne Gesicht der Opfer anschauen.

Um die gesamte Reportage [in spanischer Sprache] zu lesen, klicken Sie hier:

CONNECTAS [1]