Uruguays Verschwundene durch die Augen eines Fotografen betrachtet

One of Miradas Ausentes pictures in Montevideo | Photo: Juan Urruzola/Reproduced with permission

Ein Bild aus der Foto-Reihe Miradas Ausentes in Montevideo | Foto: Juan Urruzola/Verwendung mit Genehmigung

Als Juan Urruzola nach 12 Jahren im Exil nach Uruguay zurückkehrte, nahm er auch seine alte Gewohnheit, durch die Straßen Montevideos zu laufen, wieder auf. Der Himmel, die Uferstraße – auch Rambla genannt – der Fluss, das Meer, das Grau – alles war noch fast genauso wie er es in Erinnerung hatte. Nur dass viele Gesichter, die er damals bei seinen Spaziergängen immer wieder gesehen hatte, nun nicht mehr da waren.

Das war 1987. Die Diktatur, die ihn nach zwei Jahren in Haft zu einem Leben im Exil gezwungen hatte, war Geschichte geworden. Die Wunden, die sie verursacht hatte, waren aber noch nicht verheilt.

Ähnlich wie in den Nachbarländern Argentinien und Brasilien und im nahegelegenen Chile kam es in Uruguay 1973 zu einem Staatsstreich, der das Land für die nächsten 12 Jahre in eine Militärdiktatur stürzte. Zu den Unterdrückungsmaßnahmen – die durch andere Diktaturen in Lateinamerika unterstützt wurden – gehörten Folter, Mord und das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen. Noch heute gibt es in Uruguay 192 Personen, die während der Militärdiktatur verschwanden und von denen noch immer jede Spur fehlt.

Das Schlimmste war für Urruzola, dass nur wenige Menschen wirklich die Erinnerung daran aufrecht erhalten wollten, wie er Global Voices in einem Interview per Email schilderte:

A partir de mi regreso definitivo me rencontré con la impunidad y los vacíos de memoria de nuestra sociedad, una gran parte de la sociedad luchaba por saber y por encontrar respuestas a lo sucedido de 1972 a 1985 y otra parte de la sociedad empecinadamente quería tapar lo sucedido, ocultar y liberar a los represores de enfrentarse  la justicia…todo eso me llevo naturalmente a introducir los temas de memoria en mis trabajos

Seit meiner Rückkehr fühlte ich mich wieder damit konfrontiert, dass viele Täter ungestraft davon kamen und dass unsere Gesellschaft schnell vergisst. Ein großer Teil der Gesellschaft kämpfte darum, zu erfahren, was zwischen 1972 und 1985 passiert war. Ein anderer Teil hingegen versuchte alles, um die Ereignisse zu vertuschen und die Unterdrücker vor Strafe zu schützen. Dies brachte mich dazu, die Erinnerung zu einem Teil meiner Arbeit zu machen.

Durch die Fotografie, eine Kunst, die er im Exil erlernt hatte, fand Urruzola einen Weg, die Lücken zu füllen. Alles begann mit seiner ersten Foto-Reihe Montevideo 12, in der er die Wiederentdeckung seiner Heimatstadt Montevideo in Bildern festhält. Es sollte jedoch noch mehr als ein Jahrzehnt dauern, die Bilder für die Arbeit zu sammeln, die ihm am meisten Anerkennung bringen würde: Miradas Ausentes (Blicke der Abwesenden), eine Foto-Reihe, für die Urruzola Fotos von Personen, die während der Diktatur verschwanden, vor Motiven in der Hauptstadt fotografiert.

‘Die Erinnerung kann für einige etwas sehr Wichtiges sein’

Wie Urruzola selbst sagt, war die Auswahl der Personen für die Foto-Reihe rein zufällig. Von der Organización de Familiares de Detenidos Desaparecidos, der Organisation der Familien verschwundener Häftlinge, erhielt er ein Paket mit Fotos mit denen die Erinnerung an diejenigen, die gegen die Diktatur gekämpft hatten, in Ehren gehalten werden sollte. Nach einer Weile erkannte Urruzola, dass er mit den Porträts noch viel mehr tun konnte:

Yo salía a la calle con las fotos en un bolsillo y sacaba una con mi mano y la ponía delante de la cámara cuando el paisaje me gustaba y hacía la foto, a veces si el fondo era oscuro o claro, buscaba sin elegir otra foto más clara o más oscura. [La idea era] que se despegara del fondo de ciudad….

Ich hatte die Fotos in der Tasche, wenn ich nach draußen ging. Wenn mir die Landschaft irgendwo gefiel, hielt ich eine der Aufnahmen mit einer Hand vor die Kamera und machte ein Foto davon. Manchmal, wenn der Hintergrund dunkel oder hell war, versuchte ich, ein Foto zu benutzen, das heller oder dunkler war. [Die Idee dahinter] war, dass sie sich vor dem Hintergrund der Stadt abheben sollten.

Urruzola sagt, er wisse bis heute nicht, ob es Schicksal oder nur purer Zufall war, dass der Mann in seinem Lieblingsbild, das er bei den meisten seiner Ausstellungen zeigte, der erste der in Uruguay Verschwundenen ist, der “gefunden” wurde. Der Mann auf dem Foto war Fernando Miranda, dessen sterbliche Überreste von Anthropologen der Universidad de la República im März 2006 auf einem ehemaligen Armeegelände entdeckt wurden. Miranda war Notar und unterrichtete Zivilrecht an der Universität. Außerdem war er Abgeordneter der Kommunistischen Partei Uruguays und Mitglied der Partei Frente Izquierda de Liberación (FIDEL). Er war 56 Jahre alt, verheiratet und Vater zweier Kinder, als er 1975 in seinem Haus verhaftet und abgeführt wurde.

Fernando Miranda, the first one of the dictatorship's disappeared found in Uruguay | Photo: Juan Urruzola/Reproduced under authorization

Fernando Miranda, das erste Opfer, das während der Diktatur in Uruguay verschwand und nach vielen Jahren gefunden wurde. | Foto: Juan Urruzola/Verwendung mit Genehmigung.

Miradas Ausentes wurde danach zu einer Poster-Kampagne, zuerst in Porto Alegre im Rahmen der Kunstbienale Bienal do Mercosul. Die Poster wurden ebenfalls in den Straßen von Montevideo aufgehangen – aber mit ganz anderen Ergebnissen:

Siempre hubo de todo en cuanto a las reacciones de la gente […] Desde gente que se emociona hasta gente que las rompe. La memoria es algo muy necesario para algunos y muy negado por otros. Eso hace interesante el arte “político” o el arte de denuncia: incorporar al imaginario elementos y temas que implican debate, discusión, etc…

Die Menschen reagierten ganz unterschiedlich. Einige reagierten sehr emotional, andere hingegen zerissen [die Bilder] sogar. Die Erinnerung kann für einige etwas sehr Wichtiges sein, während sie für andere etwas ist, das verleugnet werden muss. Genau das macht “politische” Kunst oder Protestkunst so interessant: Sie verbinden Elemente und Themen der Debatte mit Bildern.

‘Die Suche nach einem geliebten Menschen, der verschwunden ist, ist eine Qual, die niemals endet’

Urruzola wurde zum ersten Mal mit 15 Jahren wegen “antisozialem Verhalten” verhaftet. 1971 wurde er zum zweiten Mal verhaftet und beschuldigt, “ein Student und Anhänger der Linken” zu sein. Vielen seiner Freunde erging es ebenso. Einige von ihnen gingen ins Exil, andere verschwanden im Hauptquartier des Militärs. Ihnen widmet Urruzola sein Lebenswerk. Um die Erinnerung an all jene, die er niemals vergessen wird, zu ehren und seinen Landsleuten zu helfen, dies auch zu tun.

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Eine von Juan Urruzolas Arbeiten in den Straßen von Montevideo. Veröffentlichung mit Genehmigung.

Durch das Internet wurde ein neues und breiteres Publikum auf seine Arbeit aufmerksam. In einem Video, das Sebastian Alonso auf Vimeo hochgeladen hat, erzählt Urruzola seine Geschichte auf Spanisch.

In dem Video spricht der Künstler über Erinnerung und Wiedergutmachung, erklärt aber auch, wie wichtig es ist, die Ereignisse im historischen Gedächtnis der Menschen am Leben zu erhalten:

La desaparición forzada es una cosa terrible, en America Latina tenemos cientos de miles de desaparecidos, en particular de las poblaciones indigenas. Países como Guatemala, El Salvador, Colombia, lo usaron masivamente y más cerca Chile, Argentina, Brasil, Bolivia. En fin, es una deuda seguir denunciando el tema. Buscar a un familiar que ha desaparecido es un dolor que no se acaba nunca. Se queda dentro para siempre.

Das erzwungene Verschwinden von Menschen ist schrecklich. In Lateinamerika gibt es tausende Verschwundene, vor allem in indigenen Gemeinden. In Ländern wie Guatemala, El Salvador und Kolumbien wurde massiv davon Gebrauch gemacht. Ebenso in unseren Nachbarländern Chile, Argentinien, Brasilien und Bolivien. Wir schulden es den Opfern, dagegen vorzugehen. Die Suche nach einem geliebten Menschen, der verschwunden ist, ist eine Qual, die niemals endet. Sie lässt einen niemals los.

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