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Soziale Mediennutzer überprüfen die Echtheit der Nachrichten etablierter Medien zum russischen Flugzeugabsturz in Ägypten

Kategorien: Ost- und Zentraleuropa, Russland, Bürgermedien, Internetaktivismus, Katastrophe, Medien & Journalismus, RuNet Echo
People lit candles and left flowers at Dvortsovaya Square in St. Petersburg on Sunday, November 1 during a day of national mourning for victims of a Metrojet crash over Egypt that killed all 224 on board. Photo by Nikolai Gontar for Demotix.

Menschen zündeten Kerzen an und legten Blumen nieder auf dem Dvortsovaya Platz in St. Petersburg am Sonntag, dem 1. November. Es war ein nationaler Trauer-Gedenktag für die 224 Opfer des Metrojets, der über Ägypten abgestürzt war und bei dem alle Insassen ums Leben gekommen waren. Foto von Nikolai Gontar für Demotix.

Die Nachricht vom Absturz des russischen Passagierflugzeugs, der sich am 31. Oktober in der ägyptischen Sinai-Wüste ereignet hatte, ist in der russischen und auch der globalen Medienlandschaft noch stets sehr präsent. Laut Experten [1] handelt es sich bei dem Absturz um “die schlimmste Katastrophe in der russischen Geschichte”. Der Absturz des Metrojets, bei dem alle 224 Insassen umgekommen waren, wurde auch in den sozialen Medien ausgiebig diskutiert. Dort kam es zu hitzigen Debatten zum Thema ‘Überfliegen von Kriegsgebieten’. Außerdem zirkulierten Geschichten über Russlands katastrophalen Ruf in Sachen Flugsicherheit, [2] sowie Spekulationen zur möglichen Ursache des Unglücks.

Wie es bei schnell kursierenden Eilnachrichten üblich ist, waren einige Nutzer der sozialen Netzwerke wachsam, was eventuelle Falschmeldungen und Fehler seitens der einflussreichsten Medien bei ihrer Berichterstattung zum Flugzeugabsturz betrifft. Durchschnittliche RuNet Nutzer sind mittlerweile sehr erfahren im Umgang mit den Medien. Dies kommt durch die anhaltenden Informationsschlachten zwischen Russland, der Ukraine und dem Westen bezüglich des Konflikts in der östlichen Ukraine – und in jüngerer Zeit, wegen Russlands Beteiligung an den Ereignissen in Syrien. Es sollte daher niemanden überraschen, dass unter den Nachrichtenkonsumenten einige Luchsaugen waren, die prompt Unstimmigkeiten und sogar sehr auffällige Fehler in der Berichterstattung zum Sinai-Flugzeugabsturz entdeckten und diese ins Rampenlicht der sozialen Medien brachten.

Reporter der Agentur Reuters wurden von den Netzbürgern kritisiert, eine Welle an Berichten über Überlebende des Absturzes gestartet zu haben: Ihr Bericht [3] über “Schreie”, die aus dem zerstörten Flugzeug am Boden zu hören gewesen seien, wurde in Windeseile durch Dutzende andere Medien weiter verbreitet, unter diesen auch mehrere russische. Die Berichte erwiesen sich später jedoch als falsch.

Now it's clear that pseudo-journalists from Reuters threw in the false report about survivors, and everyone else picked it up. (screenshots show headlines and ledes from various Russian-language media)

Jetzt ist es klar, dass Pseudo-Journalisten von Reuters falsche Berichte raus geschickt haben über Überlebende – und alle haben sie einfach übernommen (Bildschirmfotos von Artikelüberschriften und Teasern diverser russischer Medien).

Echte Spürnasen der sozialen Medien entdeckten dann, dass der russische Staatssender Pervyy Kanal (Kanal Eins) einen Bericht zur Gedenkveranstaltung, die im Stadtzentrum von St. Petersburg für die Opfer der Katastrophe abgehalten worden war, mit einem Bild aus dem Jahr 2013 versehen hatte. Eine umgekehrte Bildersuche hierzu ergab, dass dieses Foto tatsächlich vor zwei Jahren aufgenommen worden war: Bei einem Freiluft-Musikkonzert, um das 20-jährige Jubiläum des Mobilfunkanbieters Megafon zu feiern.

Pervyy Kanal @channelone_rus went through rock bottom in their desire to get lucky and posted a photo from the 2013 Megafon celebration.

Pervyy Kanal @channelone_rus haben absolut den Vogel abgeschossen mit ihrer dreisten Nummer, hier ein Foto aus 2013 von der Megafon Party zu posten.

Das Vesti Nachrichtenjournal des staatlichen Fernsehsenders wurde ebenfalls heftig kritisiert: Dort hatte man ein Bild aus der Ukraine verwendet, um die laufende Berichterstattung zu Trauerfeiern und ähnlichen Ereignissen in Russland zu illustrieren. Das Bild, das hier unten im Bildschirmfoto zu sehen ist, wurde aber ursprünglich nahe der russischen Botschaft in Kyiv (Kiev) aufgenommen. Dort hatten Bürger Blumen, Kerzen und Spielzeuge nieder gelegt, um ihr Mitgefühl mit den Opfern der Katastrophe zu bekunden.

The most truthful television in the world: takes a photo from Kyiv and writes about Russia.

Der vertrauenswürdigste Fernsehsender der Welt: Zeigt ein Foto aus Kiev und schreibt dabei über Russland.

Doch die mit Abstand wildeste Entlarvung falscher Berichterstattung zum Flugzeugabsturz geschah in den sozialen Medien durch zwei Russen, die plötzlich feststellen durften, dass ihre Gesichter gleich in mehreren Nachrichtensendungen des Landes auftauchten: Sie erfuhren, dass sie zu den Passagieren gehörten, die mit an Bord dieses Unglücksfliegers gegangen waren.

Yevgeny und Yulia Kostyanitsa bekamen einen Schock, als sie sahen, dass ein Instagram-Foto [11], das Yulia bereits eine Woche zuvor aufgenommen (doch am 31. Oktober auf ihrem Account gepostet) hatte, in der Berichterstattung zum Flugzeugabsturz im Sinai verwendet wurde. Was jedoch noch schlimmer war: In diesen Nachrichten wurde behauptet, dass die im Foto zu sehenden Personen unter den Opfern des Absturzes gewesen seien. Doch sie waren quicklebendig. Sämtliche russischen TV Kanäle – Pervyy Kanal, NTV, Rossiya-1 – zeigten dieses Bild, Webmedien zirkulierten die Nachricht fleißig weiter.

Yulia nahm sowohl ihre schockierte Reaktion, als auch die darauf folgenden, verzweifelten Bemühungen, mittels weiterer Instagram-Fotos [12] und ihrem VKontakte Profil [13] die falschen Medienberichte zu dementieren, auf: “Mein Gott, was ist mit diesen Leuten los….Ich bin schockiert!!! Wir sind Gott sei dank am Leben und es geht uns gut!!!”, schrieb sie auf Instagram.

Screen Shot 2015-11-03 at 9.13.44 PM

We're alive!!! This photo is a week old!!! It was made at night, not early in the morning!!! My hate for the media grows every second!!! (screenshot from Rossiya-1 TV channel)

Wir sind am Leben!!! Dieses Photo ist eine Woche alt!!! Es wurde nachts aufgenommen, nicht früh am Morgen!!! Mein Hass auf die Medien wächst mit jeder Sekunde!!! (Bildschirmfoto vom Fernsehkanal Rossiya-1)

Screen Shot 2015-11-03 at 9.13.54 PM

Please don't MOURN us!!! We're ALIVE!!! (screenshot from NTV TV channel)

Bitte TRAUERT nicht um uns!!! Wir LEBEN!!! (Bildschirmfoto vom Fernsehsender NTV)

Screen Shot 2015-11-03 at 9.13.09 PM

We wrote to Ren TV, Rossiya-1, Rossiya 24… But there's zero effect… Our photo continues to flash online and on TV screens!!! Thanks to all who wrote and asked after our health!!! We scared a bunch of you… but it's not our fault… (screenshot from Ren TV website)

Wir haben Ren TV, Rossiya-1, Rossiya 24 angeschrieben…ohne Ergebnis. Unser Foto taucht weiterhin ständig im Netz auf und im Fernsehen!!! Danke an alle, die uns geschrieben haben und uns fragten, wie es uns geht!!! Wir haben euch sehr erschreckt…doch wir können nichts dafür….(Bildschirmfoto von der Ren TV Webseite)

Als die russischen Medien dann endlich begannen, Berichte zur Aufklärung dieser falschen Fotos zu publizieren, wandelte sich der Ton von Yulia Kostyanitsas Instagram Postings zu Erleichterung [14] und Dankbarkeit [15].

Auch andere RuNet Nutzer waren scheinbar sprachlos in ihrer Reaktion auf diese Instagram-Verwechslung:

I'm sorry, but this is f*cked up.

Entschuldigung, aber das hier ist besch*ssen.

Diese erhöhte Reaktionsfähigkeit den Medien gegenüber und auch die Kenntnisse der Bürger in Sachen eigene Nachforschungen könnten ein Zeichen dafür sein, dass russische Internetnutzer wachsamer geworden sind, was die Nachrichten- und sonstige Informationsflut betrifft. Auch scheinen sie wählerischer zu sein, wenn es darum geht wem im Internet und welchen der etablierten Medien sie trauen. Gleichzeitig zeigt dieser Fall der Berichterstattung zum Flugzeugabsturz im Sinai (und zu ähnlichen Katastrophen) jedoch: Sowohl gelegentliche Nutzer sozialer Medien als auch professionelle Journalisten riskieren ständig, dass bei der Jagd nach sensationellen Meldungen die eigene kritische Denkfähigkeit und die investigativen Fähigkeiten auf der Strecke bleiben.