Warum die montenegrinische Opposition die Regierung stürzen will

Zelte vor dem Parlamentsgebäude in Podgorica. Foto der Facebookseite “Sloboda Traži Ljudes”, mit Erlaubnis verwendet.
Montenegro, ein kleines Land an der Adriaküste, das während der turbulenten jüngsten Geschichte des Balkans ziemlich geheimnisvoll und irgendwie unauffällig geblieben ist, hat diesen Oktober für Schlagzeilen in den internationalen Medien gesorgt.
Tausende Montenegrinerinnen und Montenegriner sind am Wochenende des 17. Oktobers 2015 führenden Oppositionspolitikern auf die Straßen gefolgt, um ihre Unzufriedenheit mit einer Regierung kund zu tun, die schon seit fast drei Jahrzehnten an der Macht ist. Ihnen wurde mit Polizeigewalt begegnet.
Aber was dem Rest der Welt wie eine überraschende Wendung erscheint, überrascht die Einwohner der Region nicht.
Montenegro fest in Milo Ðukanovićs Händen
Ministerpräsident Milo Ðukanović lenkt die Geschicke des Landes — im Rahmen unterschiedlicher Ämter — bereits seit 1991. Einige sind der Meinung, dass Ðukanović dies in Wirklichkeit schon seit ganzen 26 Jahren tut, nämlich seit er gemeinsam mit Momir Bulatović und Svetozar Marović, Mitglieder des Bundes der Kommunisten Montenegros, an die Macht gekommen ist und im Januar 1989 die Kontrolle über die montenegrinischen Institutionen übernommen hat.
Damit wäre er derjenige nicht-königliche Regierungschef Europas, der am längsten im Amt ist. Ðukanović war von 1991 bis 1998 Ministerpräsident, von 1998 bis 2002 Staatspräsident und schließlich von 2003 bis 2006 wieder Ministerpräsident Montenegros. Daraufhin kündigte er an, er wolle sich aus der Politik zurückziehen, kam aber schnell wieder zurück und wurde 2008 wieder Ministerpräsident. Allerdings ist die Vermutung, dass er während seiner kurzen Auszeit politische Entscheidungen dennoch beeinflusst hat, weit verbreitet.

Ein montenegrinischer Demonstrant präsentiert ein Plakat, das Ðukanovićs bereits fast 27 Jahre währende Macht symbolisiert – von ihren Anfängen im Bund der Kommunisten Jugoslawiens bis hin zur Macht, die er heute über das Land hat und die viele als faschistisch bezeichnen. Foto der Facebookseite “Sloboda Traži Ljudes”, mit Erlaubnis verwendet.
#Montenegro is the only country in Europe which did not have a change in power since the Berlin wall fell… #protesticg
— Milan Dinic (@MilanDinic1) October 24, 2015
Montenegro ist das einzige Land Europas, wo es seit dem Fall der Berliner Mauer keinen Machtwechsel gegeben hat…#protesticg
Er war ein Verbündeter Slobodan Miloševićs, des “Schlächters der Balkanstaaten” mit der eisernen Faust, der Serbien und später während der 90er Jahre die ehemalige Bundesrepublik Jugoslawien regierte, überwarf sich aber schließlich mit diesem.
Ðukanović und Mitglieder seiner Regierung werden außerdem beschuldigt, illegale Aktivitäten wie Schmuggeln, europaweit organisierten Autodiebstahl, Geldwäsche und andere kriminelle Machenschaften zu unterstützen, sie streiten diese Vorwürfe jedoch ab. Die Plattform “Balkanist magazine” beschreibt in einem kürzlich veröffentlichten Artikel einige der Aktivitäten, in die Ðukanović und seine Vertrauten vermeintlich verstrickt sind:
When harsh war sanctions befell Montenegro, Djukanovic’s solution for rescuing the country’s exchequer was to facilitate an international cigarette-smuggling ring, in collaboration with the Italian mafia. In the process, he and his crew of crooks took a substantial share of the spoils, amassing millions offshore.
Als das Land unter harten Kriegssanktionen litt, rettete Ðukanović die montenegrinische Staatskasse, indem er einen internationalen Zigarettenschmugglerring unterstützte, der mit der italienischen Mafia zusammenarbeitete. Dabei schöpften er und seine Kumpanen einen großen Teil der Erlöse ab und sammelten im Ausland Millionen an.
Pro-russisch? Nicht wirklich
Seit die Proteste in Montenegro die internationale Öffentlichkeit erreicht haben, bringen viele Medien die Unzufriedenheit der montenegrinischen Bevölkerung mit ihrer Regierung mit “serbisch-nationalistischen” oder “pro-russischen” Bewegungen in Zusammenhang. Wie bei den Maidan-Protesten 2014 in der Ukraine und den kleineren Protesten gegen die Regierung in Mazedonien sind jedoch auch die Gründe für die montenegrinischen Proteste komplexer.
Während einerseits das BIP in den letzten zehn Jahren stetig gewachsen ist und Montenegro als einziges Land, das nicht der Europäischen Union angehört, den Euro als offizielle Währung eingeführt hat, hat es andererseits aber auch eine der korruptesten Regierungen in ganz Europa. Daten der Weltbank zufolge lebt offiziell mehr als 11% der montenegrinischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze und die meisten Menschen sind insgesamt unzufrieden mit der Lebensqualität in ihrem Land.
Am 17. Oktober versammelten sich hunderte Menschen, angeführt von Oppositionspolitikern, in der Innenstadt von Podgorica und anderen Städten, um friedlich zu demonstrieren. Die Organisatoren erstellten eine Webseite und eine Facebookseite, auf der sie nicht nur die Menschen dazu aufrufen, sich den Protesten anzuschließen, sondern auch über die Proteste selbst und Vorfälle von Polizeigewalt während der Demonstrationen aktuell informieren. Und weil die Medien in der Region häufig von der Politik beeinflusst oder staatlich sind, berichten die Organisatoren auch auf YouTube live von den Protesten. Dazu sagen sie auf ihrer Webseite: „Lasst euch von den Medien keine Informationen auftischen, schaut euch Live-Videos der Proteste an oder verfolgt den Live-Blog.”
Demonstranten werden bei Zusammenstößen verletzt
Schon bald gingen Spezialkräfte der Polizei hart gegen die Demonstranten vor, mehr als 120 Menschen wurden verletzt. Der offiziellen Erklärung der Polizei und den staatlichen Medien zufolge war dies lediglich eine Reaktion auf Angriffe, die einige Demonstranten zuvor auf Polizeibeamte verübt hatten.
Trotzdem wurden die Proteste fortgeführt und die Teilnehmer schlugen auf der Straße und im Park gegenüber dem Parlamentsgebäude in Podgorica Zelte auf.
In der Nacht des 24. Oktobers ging die Polizei wieder hart gegen die Demonstranten vor. Diesmal setzte sie zahlreichen Augenzeugen zufolge große Mengen Tränengas und körperliche Gewalt ein. Viele Demonstranten wurden verhaftet, Dutzende verletzt.
#BREAKING: Heavy clashes erupted in #Montenegro after anti government rally pic.twitter.com/KFFTx76yU1 via @AmichaiStein1
— Velina Tchakarova (@vtchakarova) October 24, 2015
#BREAKING: Heftige Zusammenstöße in #Montenegro nach einer Anti-Regierungs-Kundgebung pic.twitter.com/KFFTx76yU1 via @AmichaiStein1
Fehltritte der Polizei gefilmt
Um der offiziellen Berichterstattung, der zufolge das Vorgehen der Polizei durch Angriffe seitens der Demonstranten veranlasst worden war, etwas entgegenzusetzen, filmten Aktivisten einige derjenigen Demonstranten, die das Durchgreifen der Polizei “provoziert” hatten, und teilten die Videos auf Youtube. Das folgende Video zeigt mehrere leger gekleidete Männer in Hoodies, die auf einem Parkplatz in der Innenstadt von Podgorica aus Polizei-Jeeps steigen und sich in Richtung der Proteste bewegen. Die Organisatoren der Proteste behaupten, dass diese Männer Polizeibeamte oder von der Polizei angeheuert sind und sich unter die Demonstranten mischen und Gewalt provozieren sollten, um der Polizei einen Grund für ihr verschärftes Eingreifen zu liefern.
Auf dem Youtube-Kanal der Protestbewegung finden sich weitere Videos mit ähnlichen Szenen sowie solche, in denen Polizisten Demonstranten zusammenschlagen und Privateigentum beschädigen.
Eines der Videos, das bereits über 150 000 Klicks hat, zeigt zwei Dutzend Polizeibeamte, die an einer Ampel ein Auto umstellen, auf es einschlagen, den Fahrer auf die Straße zerren und ihn schlagen und treten. Der Mann ist Milorad Martinović, Vorsitzender des montenegrinischen Boxverbands. Er wurde nach dem Vorfall mit „ernsthaften körperlichen Verletzungen” in ein örtliches Krankenhaus eingeliefert.
Die Demonstranten gingen trotzdem wieder auf die Straßen und die Proteste wurden am 31. Oktober fortgesetzt. Informationen aus sozialen Netzwerken zufolge gab es diesmal nicht nur in Podgorica, sondern auch in anderen montenegrinischen Städten Kundgebungen. In Herceg Novi sprachen Oppositionsführer in einer Konzerthalle, in Podgorica, Herceg Novi und anderen Städten gab es wieder Straßenproteste.
Seems there is no fear among the demonstrators in #Podgorica, maybe for the very first time for 25 years of Djukanovic rule #protesticg
— Marko Selakovic (@ljutomir) October 24, 2015
Offenbar haben die Demonstranten in #Podgorica keine Angst, vielleicht das erste Mal in 25 Jahren Ðukanović-Herrschaft#protesticg

Versammlung am 31. Oktober in Hergec Novi zur Unterstützung der Proteste in der Hauptstadt Podgorica. Foto der Facebookseite “Sloboda Traži Ljudes”, mit Erlaubnis verwendet.
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