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Aufnahme von Flüchtlingen: Frankreich zwischen Großzügigkeit und Misstrauen

Kategorien: Westeuropa, Deutschland, Frankreich, Bürgermedien, Flüchtlinge, Good News, Internationale Beziehungen, Menschenrechte, Migration & Immigration, Politik, Regierung
Les manifestations dans les grandes villes européennes en faveur des réfugiés (sources diverses)

Demonstrationen für die Aufnahme von Flüchtlingen in europäischen Großstädten (unterschiedliche Quellen)

Am 12. September 2015 gingen hunderttausende Europäer in den großen Städten des Kontinents auf die Straße, um ihre Solidarität mit den Flüchtlingen zu bekunden, die mit untauglichen Transportmitteln das Mittelmeer überqueren.

Die Aufnahme von Flüchtlingen wird in jedem europäischen Land anders organisiert. Die offizielle Politik sieht in jedem Land anders aus, das Gleiche gilt für Initiativen von Freiwilligen. Trotz der Bemühungen um eine Angleichung innerhalb der Europäischen Union sind die Diskrepanzen zwischen den einzelnen Ländern frappierend, was die Aufnahme betrifft: Deutschland geht davon aus [1], dass es in den nächsten Jahren jeweils 500.000 syrische Flüchtlinge aufnehmen wird, während es in Frankreich [2] im Jahre 2015 6.700 (in den kommenden 2 Jahren 24.000) und im Vereinigten Königreich 7.000 (20.000 in den nächsten 5 Jahren) sein sollen.

Combinaison de données sur les réfugiés en Europe (sources:  The economist et The Independent)

Daten zu Flüchtlingen in Europa (Quellen: The Economist und The Independent)

Bürgerinitiativen, die sich mit den Geflüchteten solidarisch zeigen, entstehen in allen Ländern in großer Zahl. In Island haben 10.000 Menschen auf einen Facebookaufruf geantwortet [3] und eine Petition für die Aufnahme von Flüchtlingen gestartet. In Deutschland hat eine Gruppe von Bürgern die Plattform Flüchtlinge Willkommen [4] [Seite auf Englisch] eingerichtet, auf der sich Menschen registrieren können, die Flüchtlingen Wohnraum zur Verfügung stellen möchten. Vielfach wird Geld gesammelt, um Migranten mit Nahrung zu versorgen.

„Ein Bett frei? Dann nimm doch einen Flüchtling auf.”

In Frankreich gibt es beispielsweise die Initiative SINGA, die sich selbst als “Gemeinschaft von Menschen, die einander besser kennenlernen und verstehen möchten” beschreibt. Singa hat das Projekt CALM [5] (Comme à La Maison – wie zu Hause) gestartet. Die Plattform bringt französische Haushalte, die Flüchtlinge aufnehmen möchten, mit Bedürftigen in Verbindung. Singa selbst erklärt:

Ce réseau permet la mise en relation entre des réfugiés mal logés ou sans domicile fixe et des particuliers. Pour cela, il s’appuie sur une communauté grandissante de citoyens souhaitant s’engager sur l’accueil des réfugiés et, à terme, sur une plateforme web qui permettra un impact plus important. Ce dispositif doit répondre, au-delà de l’hébergement, au besoin important et grandissant d’inclusion socio-professionnelle.

Über unser Netzwerk kommen schlecht untergebrachte oder obdachlose Flüchtlinge mit Privatpersonen in Kontakt. Unterstützung kommt von einer wachsenden Gemeinschaft von Bürgern, die Flüchtlinge aufnehmen und ihnen helfen möchten, sowie von einer Plattform, die noch weiterentwickelt werden soll, sodass sie mehr Menschen erreicht und nicht mehr nur für die Vermittlung von Wohnraum, sondern auch für die so wichtige soziale und berufliche Integration genutzt werden kann.

Der Verein hat ein Online-Formular [6] angelegt, in das Menschen ihre Unterkünfte eintragen können.

be-calm-web-site2 [7]

Logo des Projekts CALM

Die Onlineausgabe der Zeitung Libération hat eine Karte aller Organisationen erstellt, [8] die in Frankreich Flüchtlingen helfen, sodass Menschen sich überall im Land engagieren können:

Associations venant en aide aux réfugiés en France via Libération en ligne [8]

Karte von Libération Online: Organisationen zur Flüchtlingshilfe

Eine moralische und ökonomische Lektion

Dabei begegnet ein Großteil der Bevölkerung den ankommenden Flüchtlingen mit Misstrauen. Eine Umfrage des Instituts Odoxa vom 5. September zeigt, dass 55 Prozent der Franzosen dagegen sind, dass Frankreich so wie Deutschland die europäische Verordnung Dublin III für syrische Flüchtlinge außer Kraft [9] setzt, dernach Flüchtlinge das Asylverfahren in dem europäischen Land durchlaufen müssen, in dem sie angekommen sind. Der Anteil der Franzosen, die dagegen sind, soll sich in den letzten Tagen auf 50 Prozent verringert haben [10].

Isabelle erklärt, dass sie Schwierigkeiten hat, den Unterschied zu verstehen [11] :

Migrants”, “réfugiés”, “immigrés”, la distinction n'est pas toujours évidente. Il faudrait d'abord qu'on nous explique clairement la différence.

Migranten, Flüchtlinge, Einwanderer – es ist nicht immer klar, was nun was bedeutet. Man müsste uns erst einmal richtig den Unterschied erklären.

Fabien ist der Meinung, das Problem müsse zunächst einmal an der Wurzel angepackt werden [11]:

Je comprends ces gens, ils n'ont pas d'autre choix que de fuir les combats. Le problème est que nous ne occupons que des conséquences de ces guerres, pas de leurs causes. Nous sommes pourtant pleinement responsables de la situation en Syrie et en Libye.

Ich verstehe diese Leute, sie haben keine andere Wahl als aus dem Kriegsgebiet zu fliehen. Das Problem ist, dass wir uns nur um die Folgen der Kriege kümmern, nicht um ihre Ursachen. Dabei sind wir klar für die Lage in Syrien und Libyen verantwortlich.

Sylvain Attal erklärt, warum sich diese Zurückhaltung nicht rechtfertigen lässt [12]:

À défaut d’avoir pu et su intervenir il y a quatre ans, si nous voulons rester cohérents avec nous-mêmes, notre devoir est d’organiser dignement l’accueil de ces réfugiés. On enverra alors un message aux futures recrues de l’EI tentées de commettre des attentats sur notre sol  : nous ne sommes pas contre les musulmans. [..] Aucun dispositif sécuritaire ne dissuadera jamais ceux qui veulent fuir la guerre pour donner un avenir à leurs enfants de venir le chercher en Europe. Ils ne sont pas attirés, comme on l’entend souvent, par la générosité de notre système d’aides sociales mais souhaitent trouver ici des opportunités de gagner dignement leur vie. Si ce n’était pas le cas, ils ne choisiraient pas d’abord l’Allemagne ou le Royaume-Uni mais plutôt… la France ! [..] En Allemagne, Angela Merkel ne pense d’ailleurs pas que les réfugiés vont voler le travail des Allemands mais au contraire qu’ils peuvent contribuer à changer le pays, pour le meilleur. Elle pense qu’elle fait un investissement. Et en cela elle donne une leçon au reste de l’Europe qui n’est pas seulement morale, mais aussi économique.

Wenn wir schon vor vier Jahren nicht eingegriffen haben, ist es nun, wenn wir uns selbst nicht widersprechen wollen, unsere Pflicht, die Flüchtlinge würdig unterzubringen. Auf diese Weise werden wir den künftigen Rekruten des IS, die über Attentate auf unserem Boden nachdenken, eine Botschaft senden: Wir sind nicht gegen Muslime. […] Keine Sicherheitsmaßnahme wird jemals diejenigen, die vor dem Krieg fliehen, um ihren Kindern eine Zukunft zu geben, davon abhalten, nach Europa zu kommen. Sie werden nicht, wie man häufig hört, von der Großzügigkeit unseres Sozialsystems angelockt, sondern haben den Wunsch, sich hier in Würde ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Wenn das nicht so wäre, würden sie sich nicht vor allem für Deutschland oder das Vereinigte Königreich entscheiden, sondern eher für… Frankreich! […] In Deutschland glaubt Angela Merkel übrigens nicht, dass die Flüchtlinge den Deutschen die Arbeit wegnehmen werden, sondern im Gegenteil, dass sie dazu beitragen können, das Land positiv zu verändern. Sie ist der Meinung, dass sie in die Zukunft investiert. Und auf diese Weise erteilt sie dem Rest Europas eine nicht nur moralische, sondern auch wirtschaftliche Lektion.

Der „Schutz der Diplomatie” fehlt

Während einige sich misstrauisch geben, hat eine französische Diplomatin angesichts der Flüchtlingstragödie übermäßigen Zynismus bewiesen. Die französische Honorarkonsulin in der Türkei, Françoise Olcay, hat eingestanden, dass sie die Verzweiflung der Migranten ausnutzt, die nach Europa wollen, indem sie Migranten und Flüchtlingen, die die lebensgefährliche Überfahrt nach Griechenland auf sich nehmen, Schlauchboote und Schwimmwesten verkauft [13]. Im folgenden Video verteidigt Olcay ihre Handlungsweise:

Auf die Frage, warum sie diesen Handel fortsetzt, antwortet sie, andere würden ihn an ihrer Stelle fortsetzen, wenn sie aufhörte. Olcay wurde am 12. September vom Dienst suspendiert.  Die Journalistin und Bloggerin Erika Colognon Hajaji ist der Meinung, dass das Verhalten der Honorarkonsulin das weltweite Scheitern [14]der Diplomatie im Umgang mit aktuellen Krisen widerspiegelt:

La diplomatie est bien le chainon manquant à tous nos dérapages et qui ont engendré toutes ces guerres préventives et ouvertures de voies de circulation des migrants, mais aussi des intégristes qui ont pris la Libye dès que Sarkozy l'a… libérée. L'échec premier est de la responsabilité de cette diplomatie. Notre diplomatie en général, celle de l'Afrique, de l'Asie, de la France, de l'Europe, doit mieux œuvrer a être apte à endosser les responsabilités qui sont les siennes. Car on ne civilise avec aucun canon.

Die Diplomatie ist die Erklärung dafür, dass so vieles außer Kontrolle geriet, dass all die Präventivkriege geführt wurden, Migranten sich auf den Weg machten und Fundamentalisten die Macht in Libyen ergriffen, nachdem Sarkozy das Land…. befreit hatte. Für das erste Scheitern ist diese Diplomatie verantwortlich. Unsere Diplomatie muss im Allgemeinen, in Afrika, Asien, Frankreich und Europa besser arbeiten, um in der Lage zu sein, Verantwortung zu übernehmen. Mit Waffengewalt kann man kein Land befrieden.