Im April 2014 sind in Äthiopien neun Blogger und Journalisten verhaftet worden. Einige von ihnen hatten für Zone9 gearbeitet, einem Bloggerkollektiv, das soziale und politische Themen Äthiopiens bearbeitet und darüber hinaus für Menschenrechte und für eine Rechenschaftspflicht der Regierung eingetreten ist. Vier von ihnen waren Global Voices-Autoren. Im Juli wurden sie auf Grundlage der Antiterrorismus-Gesetzgebung angeklagt. Seitdem sind die Blogger die ganze Zeit hinter Gittern und ihr Gerichtsprozess ist immer und immer wieder verschoben worden.
Dies ist ein Beitrag unserer Serie – Sie haben Namen – mit der wir auf die einzelnen Blogger aufmerksam machen möchten, die sich zur Zeit in Haft befinden. Wir möchten sie als Menschen wahrnehmen, nicht als bloße Zahlen, und wir möchten ihre jeweils eigene Geschichte erzählen. Dieser Brief kommt von Amanda Leigh Lichtenstein, einer amerikanischen Dichterin und Autorin, die lange Zeit in Äthiopien und in anderen Regionen Ostafrikas gearbeitet hat.
Lieber Natnael,
in meiner Straße erblühen die Bäume in einem satten Grün mit all ihren Knospen und jungen Trieben, Natnael. Es kommt mir absurd vor, dir das Wetter zu schildern. Aber das ist nicht weniger absurd als meine Anmaßung, dich mit meinen Worten wirklich erreichen zu können in Addis, hinter Gittern. Seit mehr als einem Jahr wirst du jetzt dort wegen deiner besonderen Texte und Aktivitäten festgehalten, die von Fragen und Forderungen angetrieben worden sind. Man beschuldigt dich, Geld angenommen und zur Gewalt aufgerufen zu haben. Alles, was ich für dich tun kann, besteht darin, dir vom Grün der Bäume zu erzählen. Viel mehr kann ich nicht tun, wenn ich mich machtlos fühle. Ich kann mich an dich erinnern, einen Beitrag über dich posten, deinen Namen aussprechen und darauf bestehen, dass diejenigen, die um mich herum sind, das Gleiche tun. Wenn ich mich von dir abwenden würde, wäre es wie ein Betrug an meinem Beruf als Schriftstellerin.
Ich schreibe dir aus dem regnerischen Chicago, aus einem relativ ruhigen und komfortablen Appartement. Von dort aus habe ich dich im Internet ausfindig gemacht. Fast ein Jahr bin ich nun wieder im Lande. In der Nacht höre ich dem Rauschen der Autos auf der Schnellstraße zu. Ich gestehe: In den ersten paar Monaten in den Staaten war die gute Internetverbindung eine große Erleichterung für mich. Jetzt, da ich wieder zu Hause bin, ist die Entfernung zu den Fragen über das Leben in Äthiopien gar nicht mehr so groß. Meine Simkarte für Ethio-Net steckt noch im Portemonnaie voller Amulette und Talismane. Auf meinem Herd erhitze ich Weihrauch; wenn möglich, unterhalte ich mich über Viber und Facebook mit meinen Freunden in Äthiopien, die in mancherlei Hinsicht noch frei sind. Wenn die Monate vorbeiziehen, ohne dass ich etwas von ihnen höre, gibt es dafür nur einen einzigen Grund: Das Internet, yelem [Problem]!
Die Neuigkeiten aus deiner Haft sind für mich keine Überraschung. Du als Äthiopier, ich als Amerikanerin, wir leben beide unser Leben, ausgebreitet in einem Gewirr von Fallstricken und Gleichnissen. Was wir im Hinblick auf die Enttäuschungen über die Regierungen unserer beider Länder ändern können, wechselt mit dem Zugang zu Geld und Medien, mit Zivilcourage und Kreativität. Nachts schließe ich meine Augen und denke an dein besonderes Schicksal und frage mich, wie viele von uns, die wir frei sind, weiterhin unseren Alltag durchleben, als gäbe es nichts zu verlieren. In Wirklichkeit kann man aber alles verlieren.
Vielleicht sind wir uns schon einmal irgendwo in Addis begegnet, als du noch ein braver Bankangestellter warst und wir uns Knie an Knie in einem vollbesetzten Minivan einen Weg durch Addis bahnten, wo wir morgens an einem Macchiato nippten oder wo wir nachmittags einen gemixten Fruchtsaft, vielleicht auch ein St. George [leichtes Bier] tranken, wo deine Schuhe frischen Glanz erhielten und du gemeinsam mit deinen Freunden die Finger in ein scharfes Shiro getunkt hattest, wo du steile und nebelverschleierte Höhen erklommen und das Fladenbrot [Injera] zu einem Kussmund geformt hast, wo du in einem blauen Peugeot-Taxi Aster Aweke hörtest, wo du noch vor dem Brand am Taitu-Hotel spazieren gegangen bist, um die Leute vor den Buchläden in Arat Kilo zu beobachten. Ich kenne dich nicht und ich kann auch nicht von mir behaupten, Addis zu kennen, aber immerhin bin ich durch diese vom Regen aufgeweichten Straßen gegangen, bin in warme Cafes geschlüpft, um mich mit zu Vogelkundlern mutierten Journalisten zu unterhalten, die den Versuch unternehmen, einen Berufsweg zu meiden, der voller Furcht und Angst ist.
In den Monaten vor deiner Verhaftung im April 2014 bin ich mehrere Male in deiner großartigen Stadt gelandet, berauscht von der Höhe; in dem Glauben, etwas über dein Land zu wissen, beispielsweise wie man sich ohne straffällig zu werden bewegt. In den Hotellobbys habe ich mich über die Gleichberechtigung der Geschlechter unterhalten, mich mit visionären Künstlern vernetzt, habe Rotwein geschlürft, als trotz allem das vom Jupiter kommende Internet bei mir ankam, wenn auch nur stotternd.
Schon früh habe ich begriffen, wie der Erfolg meiner Projekte von einem freundlichen Auftreten gegenüber den lokalen und übergeordneten Behörden abhängt und, wie wir die Auflagen der Charities and Societies Agency (CSOA) umgehen. Sogar dieser Brief an dich ist ein Risiko, vor dem ich gewarnt worden bin. Indem ich diesen Brief als eine öffentliche Geste schreibe, gefährde ich Verbände, Freundschaften, Beziehungen, Netzwerke und andere Verbindungen. Und, um ehrlich zu sein, ich schlage diese Warnungen mit einer gesunden Portion amerikanischer Arroganz in den Wind. Ich hoffe, dadurch immer einen Steinwurf von meiner Angst entfernt zu bleiben.
Bis jetzt habe ich mehrere Versionen dieses Briefes geschrieben und anschließend wieder gelöscht. Ich kann doch nicht helfen. Aber ich will nicht wissen, was passiert, wenn wir aufhören zu schreiben, zu reden, gegenseitig nach Antworten zu suchen wegen des Weges, den du seit 2013 zurückgelegt hast, als du in der Universität von Addis Abeba US-Außenminister John Kerry treffen und ihm seine widersprüchliche politische Haltung vor Augen führen konntest. Hat dir John Kerry jemals auf deinen Brief geantwortet? Hat deine Sache außenpolitisch keine Priorität? Ist das keine Krise, die zum Handeln zwingt? Hat er auf irgendetwas verzichtet, um dir zu helfen? Bei all diesen diplomatischen Treffen in Addis Abeba, die den Frieden sichern sollen, wie viele Hände hat er dort geschüttelt, um dich zu befreien?
Es schüttelt mich vor Kälte, wenn ich lese, dass deine Bestrafung damit zu tun hat, dass du Kerry 2013 getroffen hast. Dieser ganze Rahmen, eine im Fernsehen übertragene Begegnung zwischen visionären Studenten aus Addis und dem US-Außenminister, fühlt sich wie eine grausame Inszenierung an, in der wir alle, Bürger und Diplomaten, Westler und Afrikaner, nichts weiter als die Figuren eines Spiels sind. Aber was können wir sonst tun, als zu solchen Zusammenkünften aufzurufen. Sollen wir dabei zusehen, wie euer Leben ins Schleudern gerät, von seinem Kurs abkommt und unvorstellbar aus der Bahn geworfen wird? Es gibt dann keine festgefügte Realität mehr, alles gerät in Bewegung. Jede Frage ist wie ein Stein, der in das unbewegte, stehende Gewässer der Ungerechtigkeit hineingeworfen wird.
Dies ist die ungeschminkte Wahrheit: Du wurdest einem Richter vorgeführt, immer und immer wieder, weil man dich des Terrorismus beschuldigt. Wir oft wird dieses Wort selbst terrorisiert von unseren Regierungen, die es missbrauchen? Was geschieht, wenn unsere Texte uns zu der Erkenntnis bringen, dass eine Welt voller Liebe und Zuneigung bloß Illusion ist? Was ist, wenn das, was wir schreiben, mehr ist als ein Liebesbrief oder mehr als ein Einkaufszettel, nämlich eine Liste von Forderungen oder sollte ich besser sagen, ein Katalog des Leidens? An welchem Punkt wird jeder von uns dem anderen in die Augen oder selbst in den Spiegel schauen und in der Seele nichts als Liebe entdecken?
Kerry wird dir erzählen, dass er Aufrichtigkeit verteidigt. In Libyen dachte er, geholfen zu haben. In Mali glaubte er, geholfen zu haben. In Syrien meinte er, geholfen zu haben. Er sprach über Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverletzungen und Rechtsbeugung. Und dann kamst du, hast eine Menge dafür riskiert, bloß offen und ehrlich deine Meinung zu sagen. Hat Kerry dir nicht erzählt, dass es nur die Jugend sein kann, die in Äthiopien Veränderungen herbeiführt? Hier bei uns erzählen sie das Gleiche, wenn unbewaffnete Schwarze von Polizisten erschossen werden und diese Taten ohne rechtliche Konsequenzen bleiben. In der Gegenwart fühlen sich solche historischen Momente manchmal düster an, Natnael. Aber die Bäume erblühen nach wie vor in einem satten Grün, trotz dieser ganzen Finsternis.
Du hast gebloggt, weil du dir Sorgen machtest. Und dann hast du dich erschreckt. Früher habe ich einmal Gymnasiasten in Chicago erklärt, dass Worte die Macht haben können, die Welt zu verändern. Danach haben sie nicht mehr verstanden, dass Menschen für das Schreiben von Texten eingepfercht werden, nur weil sie sich vorstellen, wie eine andere Welt aussehen könnte; dass so etwas an vielen Orten passiert. Dass es immer und immer wieder geschieht, so lange wie sie den festen Willen haben, sich aus den Verrücktheiten dieser Tage herauszuschreiben. Und dann habe ich es eine Zeit lang auch nicht mehr für möglich gehalten, aber nun gibt es dich!
Lasse etwas von dir hören, Natnael. Schreibe zurück.