Der Netzbürger-Report von Global Voices Advocacy ist eine internationale Momentaufnahme von Herausforderungen, Siegen und neuen Trends im weltweiten Internetrecht.
Wenn technologieorientierte Unternehmen ihre Quellcodes öffnen und für jeden sichtbar machen, erreichen sie ein wichtiges Ziel: Sie gestatten Technikexperten, aus erster Hand Programme zu prüfen, Schwachstellen zu identifizieren und Lösungen vorzuschlagen. Dabei ist völlig unerheblich, wer diese Spezialisten sind und wo sie herkommen. Unternehmen wie Mozilla geben Fachleuten die Möglichkeit, ihre Quellcodes zu sehen und teilweise zu entlehnen. Außerdem vertrauen sie auf die Resonanz ihrer Nutzer, um ihre Produkte in einem sich ständig entwickelnden Ecosystem der Internetsicherheit zu stärken. Derartige Systeme können recht gut funktionieren, wenn Unternehmen ihren Wert zu schätzen wissen. Aber nicht alle denken so.
Anfang Juni bemerkte der in Bangalore lebende indische Technologie-Blogger und Programmierer Thejesh GN im offenen Quellcode von Bharti Airtel, einem in Indien führenden Mobilfunkanbieter, ein seltsames Skript, das sich im Netz von Bharti Airtel ausgebreitet hat. Nach eingehender Prüfung fand Thejesh heraus, dass Airtel dieses Skript in Internetbrowser einschleust, um dadurch das Nutzerverhalten zu beobachten; allerdings werden Nutzer dadurch auch anfälliger für Sicherheitsbedrohungen. Er veröffentlichte das Skript bei GitHub, einer in den USA ansässigen Internetplattform, wo Programme geteilt und technische Erfahrungen ausgetauscht werden.
Innerhalb weniger Tage erhielt Thejesh ein Abmahnschreiben, das von Flash Networks in Auftrag gegeben worden ist. Das israelische Technologieunternehmen hat das Skript programmiert und offenbar an Airtel verkauft. Das Schreiben, das von der örtlichen Polizeibehörde kopiert worden ist, forderte von Thejesh, das Skript aus dem Internet zu entfernen. Zur Begründung wurde angeführt, er habe das Urheberrecht verletzt. Angesichts der Tatsache, dass dieses Skript bereits vor seiner Veröffentlichung auf GitHub öffentlich zugänglich war, eine ziemlich absurde Behauptung. Darüber hinaus wurde Thejesh in dem Brief beschuldigt, Indiens Strafgesetze und das berüchtigte Informationstechnologie-Gesetz zu verletzen, das Internetaktivitäten kriminalisiert. Dabei geht es um eine ganze Bandbreite möglicher Tatbestände: Vom böswilligen Hacken fremder Computer bis zur Veröffentlichung obszöner Materialien im Internet. Mike Masnick von TechDirt beschimpfte das Unternehmen wegen dessen Reaktion:
If Flash Networks thinks that showing the code that it dumps into each of your browsing sessions is criminal copyright infringement, just about anyone who does a ‘view source’ could be guilty.
Wenn Flash Networks glaubt, dass es eine kriminelle Schutzrechtsverletzung sei, ihren Code zu zeigen, den sie bei jeder Browser-Sitzung abkippen, muss wohl jeder schuldig sein, der “Seitenquelltext anzeigen” anklickt.
Gegenüber der Economic Times India erklärte Airtel später, dass dieses Skript dafür gedacht war, aus Gründen der Kommerzialisierung das Nutzerverhalten zu verfolgen und man sei von den rechtlichen Schritten durch Flash Networks “überrascht”. Um das Ganze noch schlimmer zu machen, ging GitHub vor dem Urheberrechtsanspruch, den Flash Networks in den USA geltend machte, in die Knie und löschte Thejeshs Einträge.
Inzwischen hat der Blogger, vertreten durch das Alternative Law Forum, auf das Abmahnschreiben reagiert. Er weist darauf hin, dass die Veröffentlichung des Skripts in Übereinstimmung mit den entsprechenden Branchenstandards erfolgte, lehnt jegliche Haftung bezüglich der vorgebrachten Ansprüche ab und verlangt von Flash Networks eine offizielle Entschuldigung.
Das ganze Hin und Her dieser Geschichte berührt fast jeden wichtigen Aspekt heutiger Internetpolitik: Freie Meinungsäußerung, Schutz der Privatsphäre, technische Sicherheit, geistige Freiheit und die Rolle privater Unternehmen bei der Regulierung dieser Rechte. Obwohl Thejeshs in seiner Antwort auf das Abmahnschreiben Flash Networks für das Unterdrücken einer offenen Diskussion über dieses im öffentlichen Interesse liegende Thema tadelt, erweckt ein flüchtiges Durchsehen der technikaffinen Blogosphäre, dass die Versuche, diese Debatte zu vertuschen, genau das Gegenteil bewirkten.
Internetzugang durch den Krieg im Jemen stark eingeschränkt
Solange der von Saudi-Arabien geführte Angriff gegen die Huthi-Rebellen im Jemen anhielt, hatten Internetnutzer von Schwierigkeiten berichtet, Zugang zu Twitter, Facebook und YouTube zu bekommen. Dadurch sind Befürchtungen ausgelöst worden, dass diese Seiten möglicherweise blockiert worden waren. Ein Vertreter der von den Huthi kontrollierten Telekommunikationsbehörde stritt dies ab und verwies statt dessen auf Vandalen, die Glasfaserkabel zerstören würden. Es ist zwar äußerst schwer, sich ein vollständiges Bild von der Lage zu machen, aber nach früheren Berichten technischer Experten ist die Internet-Infrastruktur des Landes infolge von Bombenangriffen durchaus beschädigt worden. So oder so, fest steht, dass ungefähr drei Viertel der Breitbandkapazität des Landes außer Betrieb ist. Die Huthi haben vorübergehend eine Reihe lokaler und regionaler Nachrichtenseiten blockiert, mutmaßlich wegen ihrer eigenen Berichterstattung über den Konflikt.
Ugandas Polizei hatte versehentlich den Falschen in Facebook-Gewahrsam
Robert Shaka, ein ugandischer Berater für Sicherheit in der Informationstechnologie, ist inhaftiert worden, weil er angeblich Kommentare auf der politisch brisanten Facebook-Seite von TVO-Uganda hinterlassen hat. Er habe dort angedeutet, Ugandas Präsident Yoweri Museveni sei krank. Allerdings ist nach Angaben verschiedener Informanten, darunter auch TVO-Uganda, die falsche Person festgenommen worden. Shaka ist gut eine Woche im Gefängnis gewesen, nachdem seine Freilassung auf Kaution abgelehnt worden war.
Hongkong: Angebliche Internetstraftaten brachten Aktivisten in Polizei-Gewahrsam
Die Hongkonger Polizei inhaftierte neun Social Media-Aktivisten wegen Verstoßes gegen Paragraf 161 des Strafgesetzbuches. Diese Bestimmung verbietet “Zugang zu Computern mit kriminellem oder unehrlichen Inhalten”. Unterstützer betrachten dies als einen Versuch, eine Internetdiskussion über ein umfassendes allgemeines Wahlrecht abzuwürgen; ein Thema, über das gegenwärtig im Gesetzgebungsverfahren beraten wird.
Russland verpflichtet Unternehmen zur lokalen Vorratsdatenspeicherung
Verschiedene Technologie-Unternehmen, darunter Samsung, Lenovo und eBay, scheinen urplötzlich das Zugeständnis gemacht zu haben, lokale Nutzerdaten auf Servern zu speichern, die sich auf russischem Staatsgebiet befinden. Russlands neues Gesetz zur Datenlokalisierung soll am 1. September 2015 in Kraft treten.
Keine Piraten in Australien?
Australiens Regierung wird voraussichtlich ein Gesetz auf den Weg bringen, das Internetdienstanbieter dazu verpflichtet, ausländische Webseiten mit unrechtmäßig kopierten Inhalten zu blockieren. Die Mitglieder der australischen Grünen sind gegen dieses Gesetz. Sie befürchten, der Regierung damit Zensurmöglichkeiten an die Hand zu geben.
USA: Die Netzneutralität ist wieder da, jedenfalls für's Erste
In der vergangenen Woche sind in den USA die Regeln zur Netzneutralität wirksam geworden. Dadurch haben Netzkunden jetzt die Möglichkeit, sich über ihren Internetdienstanbieter zu beschweren, falls er die Netzneutralität verletzt hat. Im Gegenzug verklagen verschiedene Internetserviceanbieter die Regierung, weil sie bei der Festlegung des neuen Regelwerks ihre Kompetenzen überschritten habe. Jedenfalls entschied in der vergangenen Woche ein Bundesrichter gegen den Antrag der Internetdienstanbieter auf eine einstweilige Untersagungsverfügung, die vor dem ersten Prozesstermin erlassen werden sollte.
Snowdens Dokumente reisen “von Panda zu Panda”
Der chinesische Dissident und Künstler Ai Weiwei und Jacob Applebaum vom Anonymisierungsnetzwerk Tor [The Onion Routing]-Projekt haben gemeinsam an einem Kunstprojekt mit dem Titel “von Panda zu Panda” gearbeitet. Die beiden Männer schredderten Kopien von Snowden-Dokumenten und stopften einige Kuscheltiere mit diesen Papierfetzen aus. Das Projekt wurde von Rhizome und dem New Yorker New Museum in Auftrag gegeben. Die Oskarpreisträgerin Laura Poitras produzierte einen kurzen Dokumentarfilm über den kreativen Prozess dieser Kunstinstallation.
Netzbürger-Aktionen
Pakistans Aktivistin für digitale Rechte und Anwältin Nighat Dad ist für die von TIME herausgegebene Liste der “Next Generation Leaders” [führende Köpfe der nächsten Generation] nominiert worden. Dieses Programm fördert die inspirierende Arbeit junger Wegbereiter und Vorbilder. Dad ist für ihre Arbeit zum Schutz von Frauen vor Belästigungen im Interrnet nominiert worden. Außerdem wird dadurch anerkannt, dass die Aufmerksamkeit von Menschenrechtsaktivisten und Frauen auf digitale Rechte und den Schutz der Privatsphäre im Internet gelenkt worden ist. Sie ist Gründungsdirektorin der Digital Rights Foundation in Pakistan.
Neue Studien [auf Englisch]
- Grundgedanken zur Förderung inklusiver Wissensgesellschaften – UNESCO
- Gezielte Angriffe gegen tibetische und Hongkonger Menschenrechtsgruppen – Citizen Lab
Weitere wichtige Artikel von Global Voices Advocacy [auf Englisch]:
- Willkürliche Festnahmen, Internetkriminalität und massenhafte Verbreitung von Mobiltelefonen: Beobachtung digitaler Rechte in der Region Subsahara-Afrika
- Chinas Lokalbehörden nutzen den Netzjargon “Ziganwu” bei der Rekrutierung von Propagandakräften
- Russlands Gesetzgeber stimmt in erster Lesung für das “Recht auf Vergessenwerden”
Ellery Roberts Biddle, Lisa Ferguson, Sam Kellogg, Hae-in Lim und Sarah Myers West haben zu diesem Report beigetragen.