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Die plagende Frage des Nachkriegs-Bosnien und Herzegowina: Wer bin ich?

Kategorien: Ost- und Zentraleuropa, Bosnien-Herzegowina, Bürgermedien, Ethnie & Rasse, Rising Voices
bosnianroma

Foto von Mirko Pincelli für das PCRC/PINCH Mediaprojekt ‘’Bosnische Roma’’. Nutzung erlaubt.

Tatjana Milovanović [1]untersucht die nationale, ethnische und persönliche Identität im Nachkriegs-Bosnien und Herzegowina in diesem Beitrag, der ursprünglich auf Balkan Diskurs  [2]veröffentlicht wurde, geleitet vom Zentrum für Post-Konflikte mit Sitz in Sarajevo, ein Microgrant-Gewinner von Rising Voices im Jahr 2014. Er wird hier nochmals als Teil einer Content-Sharing-Vereinbarung veröffentlicht.

Wenn man meine Großeltern in den frühen 1990ern gefragt hätte, welcher Nation sie angehören, hätten sie einem erzählt, dass sie Jugoslawen und Bosnier seien.

Mein Großvater hätte wahrscheinlich angefangen, nostalgisch über die Vergangenheit zu sprechen, in Erinnerung daran, wie er 1984 als Polizist nach Sarajevo ging, um dort während der Olympischen Spiele zu arbeiten oder wie es war, während der 1970er im Kosovo zu sein. Meine Großmutter hätte aller Wahrscheinlichkeit nach darüber geredet, dass “Borac”, ein Kleidungshersteller in dem Dorf Banovići, Bosnien, der beste Betrieb war, für den sie jemals gearbeitet hatte und wie sie zusammen auf die besten Betriebsausflüge fuhren. Und ja, sie waren Jugoslawen und sie waren Bosnier.

Wenn man ihnen dieselbe Frage heutzutage stellt, wissen sie nicht, wie sie antworten sollen und sie vermeiden es weitestgehend über diese Zeit zu sprechen. Großmutter sagt, dass es keinen Sinn mache, noch mehr zu reden, da die guten Tage ihres Lebens weit hinter ihr lägen und was sie heute habe, in diesem Land, sei reines Überleben.

Die Verfassung von Bosnien und Herzegowina (BiH) besagt, dass alle Bürger der Föderation von BiH und der Republik Srpska [3] automatisch Bürger von Bosnien und Herzegowina seien. Tatsache ist, dass alle von uns – als Bürger von Bosnien und Herzegowina – einen Pass und andere Ausweisdokumente besitzen mit einem Wappen eines einzelnen Landes und der Kennzeichnung einer Staatsangehörigkeit.

Als ich mit einer Sekundarschülerin aus Kladanj, einer kleinen Stadt in Nordostbosnien, sprach, fand ich heraus, dass sie sogar heutzutage ihrem Großvater nicht erklären könne, dass sie Bosniaken seien, eine südslawische Volksgruppe innerhalb Bosnien und Herzegowinas. Er behauptet nur stur, dass er Bosnier sei und er nichts über irgendeine andere nationale Identität wisse.

Die Generationen, die aus den Jahren vor dem Krieg in den 1990ern stammen, sind unter dem Motto “Brüderschaft und Einheit” der früheren Sozialrepublik Jugoslawien aufgewachsen und wurden überwiegend dazu angeleitet, religiöse und ethnische Identität zum Wohl der Gesellschaft zu unterdrücken.

Und es ist wahr, wenn ich über das Land nachdenke, in dem ich lebe – unter Berücksichtigung der Geschichte als auch der Zeiten, in denen es sich momentan entwickelt – kann ich nicht anders, als mich fragen: “Was bedeutet es, “Bosnier und Herzegowiner” in Bosnien und Herzegowina zu sein und existiert eine solche Identität überhaupt?”

Als jemand, der nach dem Krieg in Bosnien und Herzegowina aufwuchs, befand ich mich immer in einer Zwickmühle, wenn ich meine ethnische und nationale Identität betrachtete. Da ich in einer Familie aufwuchs, die orthodoxe Traditionen pflegte, wurde ich sofort als Serbin angesehen und somit gab es kein Dilemma, was das anging. Kein Dilemma für irgendjemanden, außer für mich selbst, weil ich immer fühlte, dass etwas fehlte.

A young man reminisces on better days of the former Yugoslavia while vieweing a portrait of Yugoslav leader Josip Broz Tito. Charichature by Chloe Gaillard for Balkan Diskurs.

Ein junger Mann erinnert sich an bessere Tage des früheren Jugoslawiens während er ein Porträt des jugoslawischen Führers Josip Broz Tito betrachtet. Karikatur von Chloé Gaillard für Balkan Diskurs.

Volkssymbole in Bosnien und Herzegowina sind so wichtig geworden, dass ich mich manchmal so fühle, als ob wir in einer Zeit antiker Geschichte und Stammesaufteilungen leben, wo Stammesfarben und Abzeichen die einzige Überlebensgarantie sind. In einer Zeit, in der Politiker durch Mainstream-Medien, offen darüber sprechen, dass sie die Hauptstadt dieses Landes nicht anerkennen oder darüber, die Instanzen zu stärken und unabhängige Regionen zu schaffen, frage ich mich, ob es eine Möglichkeit gibt, jenseits von Volkszugehörigkeit zu leben und zu überleben.

Was junge Menschen in BiH am meisten stört, ist die Unmöglichkeit eine Arbeitsstelle zu finden und der daraus resultierende Geldmangel. Diese Probleme sind der Grund, dass sich eine hohe Anzahl junger Leute täglich dazu entschließt, ihr Glück außerhalb der Grenzen Bosnien und Herzegowinas zu suchen. Die Schwierigkeiten des Lebens heutzutage außerhalb der Grenzen “deiner Gruppe” wird deutlich durch die vielen Fälle von Anstellungen um ethnische Quoten zu erreichen und durch eine Anstellungstradition bei “Gemeinschaftsleitungen”. Wenn wir in Betracht ziehen, dass 80 Prozent der politischen Parteien ethnische Symbole in ihren Namen beinhalten, können wir das Ausmaß des Problems, dem das Land gegenübersteht, erkennen.

Manchmal scheint es zwecklos, über die Existenz des Staates Bosnien und Herzegowina zu sprechen, weil die Mehrheit seiner Bürger sich eher als Mitglieder irgendeiner anderen Gruppe bezeichnet und nicht als Bürger dieses Landes. Ich frage mich, ob es da wirklich ein Land gibt, wenn sogar diejenigen, die seinen Pass besitzen, seine Existenz leugnen. Wie kommt es, dass sich nur ein alter Mann aus Kladanj daran erinnert? Warum können wir nicht alle hartnäckig sein und verhindern, der Sache beraubt zu werden, der unsere Großeltern beraubt wurden? Warum versuchen wir dauernd zu vergessen, wo wir herkommen und innerhalb welcher Grenzen wir leben? Wir können unsere Religion und Volkszugehörigkeit nicht vergessen, weil sie die Individualität und Geschichte unserer Familien und Vorfahren in sich tragen. Aber wir müssen uns auch dem zuwenden, was vielleicht sogar noch höhere Priorität hat und zwar alle ethnischen Zugehörigkeiten und alle Religionen, die Seite an Seite innerhalb dieser Grenzen leben. Wäre es nicht schön, wenn wir darüber reden könnten, einer größeren Gruppe anzugehören und endlich über uns als stolze “Bosnier und Herzegowiner” sprechen?

Ich glaube, dass solche Ideen von “Brüderschaft und Einheit” zu idealistisch erscheinen mögen und sogar unmöglich heutzutage, aber wenn man denkt, dass sie auch nur ein wenig notwendig sind und wenn man sie als logisch erachtet, ist nicht alles verloren. Selbst wenn es manchmal verrückt zu sein scheint und sogar ein wenig naiv, glaube ich, dass alle BiH-Einwohner ein wenig wie dieser alte Mann aus Kladanj sind.

Heutzutage “Bosnier und Herzegowiner” zu sein bedeutet, wütend und verbittert über das politische System im Land zu sein. Es bedeutet, in wirtschaftlich instabilen Gemeinden zu leben, jeden Tag um seine Existenz und für ein “besseres Morgen” zu kämpfen. Aber es bedeutet ebenso, stolz zu sein, wenn unsere Athleten eine Medaille gewinnen oder wenn Sarajevo den Wettbewerb der 100 besten Touristenziele gewinnt. “Bosnier und Herzegowiner” zu sein, heißt Liebe und Zugehörigkeit zu empfinden und diese immer und überall mit sich zu tragen.