Dieser Post von Elizabeth Grossman erschien im Original bei Ensia.com, einem Magazin das über internationale Lösungskonzepte zu Umweltproblemen berichtet. Gemäß einer Vereinbarung zum Content-Sharing wurde der Artikel hier wiederveröffentlicht. Falls nicht anders angegeben führen alle Links in diesem Artikel zu englischsprachigen Webseiten.
16. Februar 2015 — Die Zahlen sind alarmierend. Laut der Gesundheitsbehörde der USA, den Centers for Disease Control and Prevention (CDC), wurden während der Jahre 2006 und 2008 bei etwa 1,8 Millionen mehr Kindern als im Jahrzehnt zuvor Entwicklungsstörungen diagnostiziert. Während dieser Zeit wurde Autismus dreimal so oft diagnostiziert, die Verbreitung des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS) stieg derweil um 33 Prozent an. Die Zahlen des CDC verraten auch, dass 10 bis 15 Prozent aller Babys, die in den USA geboren werden, irgendeine Art von neurologischer Verhaltens- und Entwicklungsstörung aufweisen. Noch mehr Kinder sind von neurologischen Störungen betroffen, die den Grad einer klinischen Diagnose nicht erreichen.
Und es betrifft nicht nur die USA. Weltweit sind Millionen von Kindern von solchen Störungen betroffen. Die Zahlen sind so groß, so dass Philippe Grandjean von der University of Southern Denmark und Harvard T.H. Chan School of Public Health und Philip Landrigan von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York, diese Situation als „pandemisch“ beschreiben. Beide sind Mediziner und Forscher auf diesem Gebiet.
Der dokumentierte Anstieg kann zum Teil mit früher erfolgenden und gewissenhafteren Diagnosen erklärt werden. Das begründe aber noch lange nicht alles, so Irva Hertz-Piccioto, Professorin im Bereich Gesundheitswesen in Umwelt und Arbeit und Leiterin des MIND Instituts an der Universität von Kalifornien in Davis. 30 bis 40 Prozent der Fälle, schreiben Grandjean und Landrigan genetischen Faktoren zu. Aber ein aussagekräftiger und wachsender Bestand von Forschungsergebnissen deutet darauf hin, dass eine Belastung der Kinder durch Umweltgifte bei dem beunruhigenden Anstieg der neurologischen Störungen eine Rolle spielt.
Was genau passiert da? Und was können wir dagegen tun?
Chemikalien und das Gehirn
Laut Bruce Lanphear, Professor für Gesundheitswissenschaften an der Simon Fraser Universität, sind einige Chemikalien, wie zum Beispiel Blei, Quecksilber oder Organophosphat-Pestizide, schon seit Langem als giftige Substanzen erkannt worden. Diese Substanzen haben einen Langzeiteffekt auf die neurologische Gesundheit von Kindern, so Bruce Lanphear. Obwohl Bleifarbe heutzutage in den USA verboten ist, ist sie trotzdem noch in vielen Eigenheimen zu finden. In anderen Teilen der Welt wird sie weiterhin verwendet. Außerdem können Kinder durch Farbe, Farbstoffe und Metalle, die in Spielzeugen verwendet werden, dem Blei ausgesetzt sein, obwohl solcherlei Verwendung durch ein US-Gesetz verboten ist. (Man erinnere sich an Thomas, die kleine Lokomotive.) Hinzu kommen noch verseuchte Erdböden, genauso wie andere umweltbedingte Belastungen, wie zum Beispiel Plastik, in dem Blei als Weichmacher verwendet wird. Quellen für schädliches Quecksilber sind einige Fischarten, Luftverschmutzung und alte quecksilberhaltige Thermometer und Thermostate. Obwohl größtenteils viel Aufwand betrieben wurde, um diese Belastungen zu reduzieren und zu eliminieren, bestehen immer noch Bedenken, insbesondere weil man nun erkannt hat, dass schädigende Effekte schon bei außergewöhnlich geringen Werten auftreten können.
Wissenschaftler haben nun auch entdeckt, dass chemische Verbindungen, die häufig in der Außenluft vorkommen, unter anderem Stoffe von Autoabgasen und Feinstaubpartikel, sich schon vor der Geburt ebenso ungünstig auf die Gehirnentwicklung auswirken können. Das gilt genauso für Stoffe aus der Innenluft und in Konsumartikel.
Lanphear zählt Chemikalien auf, die in Flammenschutzmitteln, Plastikwaren, Kosmetikartikeln und anderen Haushaltsprodukten vorkommen, da sie wegen ihrer Effekte auf die Hirnentwicklung Anlass zur Sorge geben.
Chemikalien, die Änderungen im Hormonhaushalt auslösen, werden immer öfter verdächtigt auch neurologische Auswirkungen zu haben, berichtet Linda Birnbaum, Direktorin des National Institute of Environmental Health Sciences und National Toxicology Program. Unter den Chemikalien, die nun auf ihre frühkindlichen neurologischen Auswirkungen untersucht werden, befinden sich folgende Stoffe: Flammenschutzmittel, bekannt als PBDE, die flächendeckend in Polsterschaumstoffen und in elektronischen und anderen Produkten benutzt wurden; Phthalate, die sehr oft als Weichmacher und für synthetische Duftstoffe benutzt wurden; Bisphenol A, ein Stoff in Polykarbonat-Plastikarten, wohl besser bekannt als BPA; perfluorierte Verbindungen, die Verwendung in Färbemitteln, in fleck-, wasser- und fettabweisenden Beschichtungen und in den verschiedensten Pestiziden ihre Anwendung finden.
Präzise Choreografie
So wie es Grandjean und Landrigan erklären, ist der Fötus nicht völlig geschützt gegen Umweltchemikalien, da diese sehr einfach die Plazenta passieren können. In-Vitro Studien belegen, dass neuronale Stammzellen sehr empfindlich auf neurotoxische Substanzen reagieren.
In den letzten 30 bis 40 Jahren haben Wissenschaftler angefangen zu erkennen, dass Kinder und Kleinkinder durch chemische Belastungen deutlich gefährdeter sind, als Erwachsene.
Auch das Gehirn eines Kleinkindes ist durch solche Schadstoffe gefährdet. In den frühen Entwicklungsphasen, egal ob vor der Geburt oder während der Kindheit, können Gehirnzellen leicht durch Chemikalien und andere Nervengifte geschädigt werden. Solche negativen Einflüsse können sich darauf auswirken, wie das Gehirn sich in Struktur und in Funktion entwickelt.
„Das Gehirn ist wirklich extrem anfällig gegenüber äußeren Reizen“, sagt Grandjean.
Früher wurde die Neurotoxizität einer Chemikalie bei Erwachsenen untersucht — oftmals bei Fällen die berufsbedingt hohen Belastungen ausgesetzt waren. In den letzten 30 bis 40 Jahren haben Wissenschaftler jedoch angefangen zu erkennen, dass Kinder und Kleinkinder durch chemische Belastung deutlich gefährdeter sind als Erwachsene. Ebenso wurde entdeckt, dass eine Belastung in der frühen Kindheit durch extrem niedrige Werte schwerwiegende Langzeiteffekte verursachen kann. Eine weitere wichtige Entdeckung ist das Verständnis darüber, dass es weit mehr bedarf als das bloße Berechnen von potentiellen Auswirkungen auf eine körperlich kleinere Person, um zu verstehen wie ein Kleinkind oder Kind durch eine chemische Belastung beeinträchtigt wird. Gleichfalls müssen das Entwicklungsstadium und der Zeitpunkt der Belastung berücksichtigt werden. Die Frühphasen der Gehirnentwicklung benötigen eine „sehr präzise Choreografie“, erklärt Frederica Perera, Professorin für Wissenschaften der Umweltgesundheit an der Mailman School of Public Health der Columbia Universität. „Jegliche Chemikalie, die in dieser Phase die biochemischen Abläufe [des Gehirns] stören könnte, kann sehr schädlich sein“, so Perera.
Zum Beispiel in den frühen Phasen der Gehirnentwicklung, also wenn sich aus Zellen Nervenzellen entwickeln, „entscheidet der Zeitpunkt das Ziel“, so erklärt es Deborah Kurrasch, Assistenzprofessorin an der Cumming School of Medicine der Universität von Calgary, wo sie Spezialistin im Forschungsgebiet Neurologie ist.
Was sie damit meint zeigen die Ergebnisse von Kurraschs neuester Studie, bei der die Auswirkungen von BPA auf die neuronale Entwicklung untersucht werden. In einer Studie, die im Januar 2015 veröffentlicht wurde, haben Kurrasch und ihre Kollegen die Auswirkungen auf die Nervenentwicklung unter BPA und einem üblichen BPA Ersatz, dem Bisphenol S, geprüft. Insbesondere untersuchten sie, wie ein Kontakt durch BPA und BPS die Nervenentwicklung bei Zebrafischen beeinträchtigen könnte. Verwendet wurden vergleichbare Werte, wie sie im Trinkwasser vor Ort vorkommen. Hierbei wurde die Phase der Nervenentwicklung begutachtet, die dem zweiten Schwangerschaft-Trimester beim Menschen entspricht, eben dem Zeitraum in dem sich Nervenzellen entwickeln und zum richtigen Ort im Gehirn gelangen.
Viele der Chemikalien, die aufgrund ihrer schädlichen Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung kontrolliert wurden, scheinen die Hormonfunktion zu stören, die grundlegend für eine gesunde Gehirnentwicklung ist.
„Es ist als ob sie in einen Bus steigen würden, der sie dahin bringt wo sie hin müssen”, sagt Kurrasch. Aber nach dem Kontakt mit BPA und BPS war es, als ob „doppelt so viele Nervenzellen einen frühzeitigen Bus bestiegen und halb so viele in einen verspäteten Bus einstiegen“, erklärt Kurrasch. Die Forscher fanden heraus, dass Belastungen anscheinend die Nervenentwicklung, auch Neurogenese genannt, verändern und zwar so, dass die Fische hyperaktiv wurden. Solch eine Veränderung, in diesem Fall von „nur ein wenig BPA“ erzeugt, kann permanente Schäden bewirken, so Kurrasch.
Viele der Chemikalien, die aufgrund ihrer schädlichen Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung kontrolliert wurden, wie zum Beispiel, BPA, Phthalate, perfluorierte Verbindungen, bromierte Flammenschutzmittel und verschiedene Pestizide, scheinen die Hormonfunktion zu stören, die grundlegend für eine gesunde Gehirnentwicklung ist. Darunter fallen auch Schilddrüsenhormone, die den Teil des Gehirns steuern der für eine Vielzahl an lebenswichtigen Funktionen von Bedeutung ist, dazu gehören Fortpflanzung, Schlaf, Durst, Hunger und Pubertät.
Während des ersten Trimesters einer Schwangerschaft produziert der Fötus keine eigenen Schilddrüsenhormone, meint Thomas Zoeller, Direktor des Labors für Molekulare, Zelluläre- und Entwicklungsendokrinologie an der Universität von Massachusetts Amherst. Falls während dieser Zeitspanne eine Belastung durch polychlorierte Biphenyle oder mit Perchloraten aus der Umwelt, beispielsweise durch Trinkwasserverschmutzung, auf die mütterlichen Schilddrüsenhormone störend einwirkt, kann das wiederum die Gehirnentwicklung ihres Kindes in einer höchst-kritischen Phase beeinträchtigen.
Zu berücksichtigen ist jedoch im Zusammenhang mit schädlichen endokrin-wirksamen Chemikalien, dass ein erheblicher Anteil der Frauen im gebärfähigen Alter in den USA einen leichten Jodmangel aufweisen, der die Produktion der Schilddrüsenhormone unterdrücken könnte, so Zoeller. Obwohl diese Mängel vielleicht keine klinischen Nebenwirkungen auslösen, könnten sie aber ausreichen der fetalen Nervenentwicklung zu schaden. „Schäden können schon bei Werten entstehen, die weit unter den Standardnormen liegen“, sagt Zoeller. Und es gibt eine Vielzahl an Chemikalien in der Umwelt, welche die Schilddrüsenhormone beeinträchtigen können, denen diese Frauen ausgesetzt sein könnten. Hierzu zählen PBDEs, PCBs, BPA, verschiedene Pestizide, perfluorierte Verbindungen und bestimmte Phthalate.
Es liegt was in der Luft
Eine besonders besorgniserregende Quelle für chemische Belastung, die in Verdacht steht die Gehirnentwicklung von Kindern zu schädigen, ist die Luftverschmutzung. Sie besteht aus einer komplexen Mischung von verschiedensten Chemikalien und Feinstaub.
Forschungen weisen immer öfter darauf hin, dass Luftschadstoffe einen schleichenden, aber dennoch schwerwiegenden Einfluss auf die frühe Nervenentwicklung und das Verhalten haben können.
Perera und ihre Kollegen untersuchten kürzlich die Zusammenhänge zwischen einer Belastung mit polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK), die ein Bestandteil luftverschmutzender fossiler Brennstoffe sind, und dem Vorkommen von ADHS bei 9-jährigen Kindern. Ihre Studie ergab, dass bei Schwangeren, die hohen PAK-Werten ausgesetzt waren, die Wahrscheinlichkeit Kinder mit ADHS und Kinder mit schwereren ADHS Symptomen zu bekommen, fünffach erhöht ist als bei denen, die keiner Belastung ausgesetzt waren. Obwohl diese Studie die erste ist, die diesen Zusammenhang erkannt hat, reiht sie sich doch ein in eine Vielzahl von Forschungsergebnissen, die auf eine Verknüpfung zwischen Luftschadstoffen, darunter auch PAKs, und schädlichen Auswirkungen auf den kindlichen Gesundheitszustand des Gehirns und dessen Entwicklung, hindeuten.
Das Untersuchen von Gehirnschädigungen durch Luftschadstoffe ist laut Kimberly Gray, der Verwaltungsleiterin für Gesundheitswissenschaften bei den National Institutes of Health (NIH) relativ neu. Forschungsergebnisse deuten mehr und mehr darauf hin, dass Luftschadstoffe einen schleichenden, aber wesentlichen Schaden auf die frühe neurologische Entwicklung und auch auf das Verhalten haben, so Gray. Zusätzlich zu den Verbindungen zwischen pränataler Belastung durch PAK und verminderter Gehirnfunktion, erforschen Wissenschaftler nun auch schwarzen Kohlenstoff (ein Bestandteil in Rußpartikeln), flüchtige organische Verbindungen und Feinstaub und die damit potentiell in Verbindung gebrachten Störungen wie Autismus und niedrigerer IQ.
In einer Studie vom Dezember 2014 haben Marc Weisskopf, Associate Professor an der Harvard T.H. Chan School of Public Health für Arbeit- und Umweltepidemiologie und seine Kollegen Kinder untersucht, deren Mütter hohen Feinstaub-Konzentrationen (PM2.5, Teilchen mit einem Durchmesser von 2,5 Mikrometern und kleiner), insbesondere während des dritten Schwangerschaft-Trimesters ausgesetzt waren. Die Studie, an der mehr als 1.000 Teilnehmer aus ganz USA teilnahmen, fand heraus, dass diese Kinder eine zweimal höhere Wahrscheinlichkeit aufwiesen mit Autismus diagnostiziert zu werden, als Kinder deren Mütter nur niedrigen Werten ausgesetzt waren. Belastungen hingegen mit größeren Partikeln zwischen 2,5 und 10 Mikrometern (auch bezeichnet als PM10) schienen nicht mit einem erhöhten Risiko für Autismus in Verbindung zu stehen.
„Das ist sehr bedeutend, von einem epidemiologischen Standpunkt aus gesehen, weil es die Aufmerksamkeit auf die Schadstoffbelastung der Mütter richtet“, meint Weisskopf. Ebenso hebt es hervor, wie wichtig der Zeitraum ist, wenn es um die Folgen bei der Nervenentwicklung geht. Obwohl auch viele andere Faktoren bei Autismus mitwirken, stärkt diese Studie jedoch die Vermutung, dass Umweltbelastungen eine Rolle spielen können, erklärt Weisskopf. Die Einsicht, dass es die sehr kleinen Partikel sind, die mit diesen Effekten in Verbindung gebracht werden ergänzt sich auch mit dem, was andere Forschungen feststellen: Was zwar quantitativ gering sein mag, kann jedoch „sehr entscheidend“ sein, wenn es zur Beeinträchtigung der Gehirnentwicklung kommt, erläutert Weisskopf.
Forscher der Columbia Universität haben kürzlich eine zusätzliche Studie veröffentlicht, die weitverbreitete Luftschadstoffe mit kognitiven Verhaltensstörungen bei Kindern in Verbindung bringt.
Weitverbreitete Belastung
Wie Grandjean und Landrigan andeuten, ist eine der beunruhigenden neuen Erkenntnisse, wenn es um Umweltbelastung und entwicklungsschädigende Nervengifte geht, wie weitverbreitet und allgegenwärtig die Belastung doch ist. „Mehr neurotoxisch wirksame Chemikalien werden in Produkten verwendet“, meint Landrigan.
Phthalate, die als Weichmacher in Polyvinylchlorid-Plastikwaren (PVC) und in künstlichen Duftstoffen und zahlreichen Kosmetikprodukten benutzt werden, stellen eine Kategorie von häufig verwendeten Chemikalien dar, die unter Verdacht stehen, schädliche Einflüsse auf die Gehirnentwicklung zu haben. Eine Forschergruppe der Mailman School of Public Health an der Columbia Universität entdeckte vor Kurzem, dass Kinder, die bereits vor der Geburt mit erhöhten Werten bestimmter Phthalate in Kontakt kamen, einen durchschnittlich geringeres IQ-Testergebnis aufwiesen. Der IQ lag zwischen 6 und 8 Punkte unter dem von Kindern mit geringeren vorgeburtlichen Phthalat-Belastungen. Die Kinder, die ein vermindertes IQ-Testergebnis aufwiesen, schienen auch Probleme mit dem Arbeitsgedächtnis, mit der Fähigkeit Schlussfolgerungen zu ziehen und mit der Informations-Verarbeitungsgeschwindigkeit zu haben.
„So ziemlich jeder in den USA ist gefährdet“.— Robin Whyatt
Die Phthalate, die in dieser Studie untersucht wurden, bekannt als DnBP und DiBP, werden in zahlreichen Haushaltsprodukten benutzt, wie Körperpflegemittel und Kosmetika, darunter fallen: Shampoo, Nagellack, Lippenstift, Hair Styling Produkte und Seife, ebenso sind sie in Vinylfarben und Trocknertüchern enthalten. Belastungswerte, die in der Studie mit vermindertem IQ in Verbindung gebracht werden, sind innerhalb des Bereichs, den der CDC Report im National Health and Nutrition Examination Survey, einer landesweiten, nachhaltigen Biomonitoring-Auswertung von chemischen Belastungen, gefunden hat. „So ziemlich jeder in den USA ist gefährdet“, meint die Co-Autorin der Studie, Robin Whyatt. Sie ist Professorin für Wissenschaften in Umweltgesundheit (Umwelthygiene) am Medizinzentrum der Columbia Universität.
Obwohl solch ein Abfallen des IQ-Wertes sich gering anhören mag, wenn man das jedoch auf der Ebene der Bevölkerung oder des Klassenraums betrachtet, bedeutet das, weniger Kinder an den Spitzen der Intelligenz-Skala, bemerkt Pam Factor-Litvak, die Hauptautorin dieser Studie und Associate Professor für Epidemiologie an der Mailman School. „Die ganze Kurve verschiebt sich nach unten“, erklärt sie.
„Fünf oder sechs IQ-Punkte hören sich vielleicht nicht nach viel an, es bedeutet aber, dass mehr Kinder ein Sonderpädagogik-Programm benötigen und dass weniger Kinder hochbegabt sind“, meint Maureen Swanson, Direktorin des Verbands für Lernstörungen des America’s Healthy Children Project. „Die eventuellen Auswirkungen auf die Wirtschaft sind enorm“, sagt Linda S. Birnbaum, die Direktorin des NIEHS (National Institute of Environmental Health Sciences)
Der Stress-Faktor
Die Vorgänge, die bei Kindern neurologische Störungen auslösen, sind „sehr kompliziert“, merkt Frederica Perera an. Zusätzlich zu der Herausforderung, die verschiedenen mitwirkenden Faktoren herauszufinden ist, dass bei der Erforschung, genauso wie bei der Chemikalienverordnung, Chemikalien typischerweise nur als Einzelsubstanz betrachtet werden. Die Menschen sind aber immerzu mehreren verschiedenen Chemikalien gleichzeitig ausgesetzt. Außerdem kommt zur Komplexität der Gehirnentwicklung noch hinzu, dass auf „dieselbe Hirnregion auch soziale Stressfaktoren einwirken“, so Deborah Cory-Slechta, eine Professorin für Umweltmedizin an der Universität von Rochester. Deborah Cory-Slechta und andere Forscher finden mehr und mehr Beweise dafür, dass auch nicht-chemische Stressfaktoren, zum Beispiel wenn die Mutter familiären Stress und Auseinandersetzungen in der Lebensgemeinschaft erlebte, schädliche Effekte auf die Gehirnentwicklung auslösen kann. Das kann entweder für sich alleine geschehen oder in Kombination mit neurotoxischen Substanzen.
Laut Birnbaum ist diese offensichtliche Wechselwirkung zwischen Chemikalien und nicht-chemischen Stressfaktoren „sehr besorgniserregend und von großer Bedeutung“
Epidemiologische Studien, erklärt Cory-Sletcha, korrigieren normalerweise sogenannte Störfaktoren, also andere Bedingungen, die die eigentlich zu messende Bedingung beeinflussen könnten. Viele Studien, sagt sie, „erfassen sicherlich nicht, was in der Umwelt eines Menschen vor sich geht“. Sie und ihre Kollegen hoffen, dass sie in „Tierversuchen nachempfinden können, was im menschlichen Zusammenleben vor sich geht“, insbesondere in solchen Gemeinschaften, die besonders schädigenden sozialen Stressfaktoren und vielen chemischen Schadstoffen ausgesetzt sind. Zu diesen Schadstoffen gehören: Blei, Pestizide und die allgemeine Luftverschmutzung.
Laut Cory-Sletcha greifen Blei und Stress dieselbe Hirnregion an und können somit synergtetisch sehr früh im Leben bleibende Strukturveränderungen im Gehirn bewirken. Diese Veränderungen können einen verminderten IQ bewirken, auch können Lern-und Verhaltensprobleme daraus resultieren.
Das Labor von Cory-Sletcha arbeitet nun im Tierversuch daran, Gegebenheiten von Stress und chronischer Entbehrung nachzuahmen, so wie sie in von Armut geprägten Gesellschaften durchlebt werden. Das Ziel hierbei ist, besser zu verstehen, wie diese äußeren Einflüsse die Plazenta durchdringen können und damit zum fetalen Ausgangspunkt für lebenslange Störungen werden. Cory-Sletcha und ihre Kollegen untersuchen nicht nur den Zusammenhang zwischen Belastungen und Nervenentwicklung, sondern auch die Mechanismen, deretwegen diese Effekte entstehen.
Was ist zu tun?
Ausgehend davon, dass wir aufhören wollen den Gehirnen unserer Kinder Schaden zuzufügen, wie sollen wir da vorgehen?
Einer der wichtigsten Schritte wäre es, unsere Leistungskapazität zu verbessern, um bestimmen zu können, welche Chemikalien schädliche Effekte auf die Nervenentwicklung haben. Ein schnelles Screening-Verfahren wäre ideal, da es so viele Chemikalien gibt, daneben auch Neuentwicklungen, denen die Menschen ausgesetzt sind, so Birnbaum. Obwohl bereits ein solches Programm, das große Mengen an verschiedenen Chemikalien schnell mit automatischen Systemen testen kann, von den NIH, der Umweltschutzbehörde EPA und anderen Behörden begonnen wurde, so gibt es doch zehntausende Chemikalien, die wohl verwendet werden. Die meisten davon sind aber noch nicht vollständig auf eben jene Auswirkungen getestet worden.
Wenn es darum geht bereits bestehende Belastungsquellen zu reduzieren, so können manche Chemikalien bereits durch die richtige Wahl der Verbraucher vermieden werden. Aber oft gestaltet sich das schwierig, denn viele der Substanzen werden auch in Produkten verwendet, die keinerlei Inhaltsangaben benötigen, zum Beispiel enthalten Kassenbons aus Thermopapier BPA. Noch schwieriger ist es, anderen Stoffen auszuweichen, da sie überall vorhanden sind – man bedenke die Luftschadstoffe – oder meist gibt es einfach keine Alternativen. Solch ein Auswählen ist nicht so einfach durchführbar für Leute, die aus sämtlichen sozialen Schichten stammen, was wiederum Umweltungerechtigkeiten aufkommen lässt, merkt Maureen Swanson an.
Grandjean und Landrigan weisen darauf hin, dass das US-System der Chemikalien-Verordnung keine sonderlich gute Arbeit leistet, wenn es um vorausschauende Chemie-Sicherheit geht, da es an Vorschriften mangelt, die einen kompletten Toxizitäts-Tests der Substanzen vorschreiben, noch bevor sie auf den Markt kommen. In einem Artikel, der in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht wurde, schrieben sie: „In Bezug auf die Gehirnentwicklung sollten nicht getestete Chemikalien nicht als sicher eingestuft werden. Auch bereits verwendete Chemikalien und alle neuen Chemikalien müssten daher auf Nervenschädigung während der Entwicklung getestet werden.
Obwohl es den Anschein erweckt, dass man sich eingehend mit einigen Neurotoxizität-Quellen befasst hat, ist dem jedoch nicht der Fall. Zum Beispiel ist man gut in den USA und anderorts, durch Vorschriften und öffentliche Aufklärung, damit vorangekommen, die Blei-Belastungen einzudämmen. Dennoch, obwohl man inzwischen weiß, dass schon kleinste Mengen Blei Schäden verursachen können, gibt es immer noch Gefährdungen durch Blei, insbesondere in Ländern, in denen immer noch Bleifarben und verbleites Benzin verwendet werden. Hinzu kommt, dass in den USA, die Förderung für Blei-Vermeidungsprogramme, geleitet von der CDC, seit 2012 drastisch reduziert wurden.
Wenn es um den Schutz des höchst empfindlichen Vorgangs der Gehirnentwicklung geht, sind die üblichen Maßnahmen, um Risiken einzuschätzen und Sicherheitsstandards einer Chemikalie festzulegen, völlig unzureichend, so Cory-Sletcha.
Unterdessen sind Kinder auf der ganzen Welt, besonders in den weniger wohlhabenden Ländern, weiterhin gefährlichen Nervengiften ausgesetzt – zum einen bei der Kinderarbeit, und zum anderen durch Industrieabgase und auf Mülldeponien. Beispiele hierfür gibt es zur Genüge. Zum Beispiel werden Chemikalien beim Recyceln von Elektronik in etlichen Regionen Asiens und Afrikas freigesetzt. Zu solchen Belastungen gehören auch Blei und Quecksilber bei Bergbautätigkeiten, Pestizide aus der Landwirtschaft bis hin zu Produkten, die verseucht sind mit Schwermetallen, hierzu zählen auch Nahrungsmittel und Süßigkeiten.
Wenn es um den Schutz des höchst empfindlichen Vorgangs der Gehirnentwicklung geht, sind die üblichen Maßnahmen, um Risiken einzuschätzen und Sicherheitsstandards für eine Chemikalie festzulegen, völlig unzureichend, so Cory-Sletcha. „Es sollte nach der Strategie der Primärprävention gehandelt werden, aber dem ist nicht so“, sagt Cory-Sletcha.
Nach Meinung der Befürworter für Umweltgesundheit mangelt es an einer angemessenen Verordnung für Chemikalien auf Länderebene, viele einzelne US-Bundesstaaten haben kürzlich ihre eigenen Gesetze erlassen, um Kinder vor schädlichen Chemiebelastungen zu schützen. Viele gehen gegen jene Chemikaliengruppen vor, die neurotoxische Effekte aufweisen, speziell die der Schwermetalle, wie zum Beispiel Cadmium, Blei oder Quecksilber. Selbst wenn einige Staaten anfangen, Vorschriften in ihre Gesetzgebung einzufügen, um Schwangere vor Chemie-Gefahren zu schützen, wird dem Zeitpunkt einer Belastung nur wenig Beachtung geschenkt.
Obwohl wir mittlerweile sehr viel über entwicklungsschädigende Neurotoxine wissen, scheint es doch, dass mehr solcher Belastungen auftreten, als zuvor. Und es stellt sich heraus, dass die Forscher sich alle einig sind, diese Belastungen werden unter den Kindern dieser Welt ihre Opfer fordern.
„Für mich ist es einleuchtend, wir müssen ein anderes System schaffen, um die Gehirne der Zukunft besser zu schützen“, meint Grandjean.
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