Die 36-jährige Favianna, Tochter US-amerikanischer Einwanderer mit peruanischer Herkunft, ist eine ernstzunehmende Persönlichkeit. Unerbittlich engagiert sie sich in einer Vielzahl von Kämpfen: um die Rechte von Migranten, Frauen sowie LGBT [Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender], um Gerechtigkeit bezogen auf Rasse, Klasse, Umwelt und Ernährung. Die Liste ist endlos und erweitert sich ständig. Vor allem aber ist sie Künstlerin. Diese Berufung umfasst ihrer Meinung nach alles, an das sie glaubt und für das sie einsteht.
Von ihrem Zuhause in Oakland, Kalifornien aus unterhielt sich Favianna über Skype mit Global Voices. Ihr Lächeln ist warm, ihr Tonfall eindringlich. Obwohl sie nicht viel Zeit hat, ist sie wohlwollend und vollkommen präsent. Wir sprachen mit ihr über ihr Leben, ihre Kunst und ihre politische Haltung.
Global Voices (GV): ¿Cómo te nació la consciencia? Erinnern Sie sich an einen ganz bestimmten Augenblick? Diese Formulierung aus dem Titel der Biografie Rigoberta Menchús ist mir immer im Gedächtnis geblieben. Eine mögliche Übersetzung wäre “Wann wurde Ihr Gewissen geboren”, was aber nicht ganz dieselbe Bedeutung vermittelt wie im Spanischen.
Favianna Rodríguez (FR): I grew up in a migrant family, my family is from Perú, I am first generation. I would notice there would be a lot of racism directed at my parents. At a young age I was acting as a translator for my parents. I always felt that we were outsiders. When we moved to a Latino community, I didn’t feel this so much, but when we moved, it was extremely evident. I had curly hair, I was different, I never felt I belonged.
When I went to high school I started organizing around Latino issues. They would talk to me about racism and how young Latinos were viewed as gangsters. The narrative about my fellow peers was always very negative. Then I started learning about the Mayas, the Aztecs, and the contributions of so many Latinos to the United States. We organized the day of Latino students, I founded the first Latino club in my high school. This was also at the time of Proposition 187, the first time that a state had introduced an anti-migrant piece of legislation. It was horrible. When I began to understand systemic racism, it changed my whole worldview.
It was a combination of living in a very anti-Latino time (the 1990s), but also finding the power of collective action that helped me learn love myself. I began to learn our history. I didn’t feel part of the fabric of this country, and yet we were. I hadn’t learned how much economically we shaped this country.
Favianna Rodríguez (FR): Ich wuchs in einer Einwandererfamilie auf, meine Familie stammt aus Peru und ich wurde in der ersten Generation im Ausland geboren. Mir fiel auf, dass meine Eltern häufig zur Zielscheibe rassistischer Haltungen wurden. Bereits in jungen Jahren fungierte ich für meine Eltern als Übersetzerin. Es kam mir immer so vor, als seien sie Außenseiter. Als wir in eine Gemeinde von Latinos zogen, hatte ich dieses Gefühl nicht so sehr. Aber als wir umzogen wurde es mehr als offensichtlich. Mein Haar war lockig, ich war anders und ich fühlte mich nie ganz zugehörig.
Als ich auf die High School kam, begann ich, mich mit den Problemen von Latinos auseinanderzusetzen. Ich hörte von Rassismus und dass junge Latinos für Gangster gehalten werden. Das, was man über meine Altersgenossen zu hören bekam, war immer ausgesprochen negativ. Ich begann dann, mich über die Maya zu informieren, die Azteken und die Leistungen, die eine große Anzahl Latinos in den Vereinigten Staaten erbracht hatte. Wir organisierten den Tag der Latino-Schüler und ich gründete den ersten Latino-Club an meiner High School. Dies war auch die Zeit, in der die Initiative Proposition 187 aktuell war_ Zum ersten Mal brachte ein Staat eine Rechtsvorschrift ein, die sich gegen Einwanderer richtete. Es war schrecklich. Als ich institutionellen Rassismus zu verstehen begann, veränderte dies mein gesamtes Weltbild.
Es war eine Mischung aus der Tatsache, dass ich in einer Zeit lebte, in der eine sehr negative Haltung gegenüber Latinos vorherrschte (den 1990ern), aber auch dem Umstand, dass ich die Macht des gemeinsamen Handelns kennenlernte. Diese half mir, zu lernen, mich selbst zu lieben. Ich begann, unsere Geschichte kennenzulernen. Ich fühlte mich nicht als Teil des Stoffes, aus dem dieses Land gewebt war, aber wir gehörten dennoch dazu. Ich wusste noch nicht, wie sehr wir dazu beigetragen hatten, dieses Land wirtschaftlich zu formen.
GV: Glauben Sie, dass sich die negative Grundstimmung gegenüber Latinos in den Vereinigten Staaten verändert hat?
FR: What I think has changed is that we have built a political culture, but we are still very invisible.
FR: Ich glaube, es hat sich insofern etwas verändert, dass wir inzwischen eine politische Kultur erschaffen haben. Doch wir sind noch immer oft unsichtbar.
GV: Ihre Kunst und Ihr politischer Einsatz vereinen die Rechte von Einwanderern, Frauen, LGBTs, außerdem Feminismus, Umweltangelegenheiten, Gerechtigkeit in Bezug auf Rasse, Klasse und einiges mehr. Ist es überhaupt möglich, dass man im Einsatz für soziale Gerechtigkeit ganz bestimmte Themen auswählt?
FR: First, in many ways I am responding to issues that have affected me as a human being, a migrant, a woman, having had an abortion, being a woman of color in the art world, I live these experiences in my work and art. We experience life in a very different way. What I create is a reflection of a different experience, what white men create is another experience. There is a value from creating that stems from lived experiences. I grew up seeing how immigrants diets changed as soon as they came to the US, for example, this made me realize that all of this was connected, food, labor, capitalism, women.
Art has the power to do all of this because art by nature is intersectional. Politics tend to be fragmented, directed at particular people, and to me art is about life. When you are an art maker, a musician, you are not looking to tell the story of one person, but of human beings. On the other hand, political organizing can be very specific. I think I am able to easily move between worlds because I am an artist, and I am not attached to a particular issue. I combine narratives.
FR: Man könnte sagen, dass ich mich zunächst einmal mit den Themen auseinandersetze, die mich als Menschen beeinflusst haben. Dazu zählt mein Dasein als Migrantin, als Frau, als jemand, der eine Abtreibung hatte, als Farbige in der Kunstszene. In meiner Arbeit und meiner Kunst verarbeite ich diese Erfahrungen. Wir alle nehmen das Leben auf ganz unterschiedliche Weise wahr. Ich erschaffe Spiegelungen einer anderen Erfahrung. Was weiße Männer erschaffen, ist wiederum eine andere Erfahrung. Der Wert des künstlerischen Schaffens schöpft aus gelebter Erfahrung. Als ich aufwuchs, erlebte ich beispielsweise, wie sich die Ernährungsweise von Einwanderern veränderte, sobald sie in die Vereinigten Staaten kamen. Das zeigte mir, dass all diese Themen – Nahrung, Kapitalismus, Frauen – miteinander in Verbindung stehen.
Kunst kann all dies tun, denn sie ist von Natur aus themenübergreifend. Während Politik dazu tendiert, bruchstückhaft zu sein, sich nur an ganz bestimmte Menschen zu richten, geht es bei der Kunst für mich um das Leben an sich. Künstlern oder Musikern geht es nicht darum, die Lebensgeschichte eines einzelnen Menschen zu erzählen, sondern die der gesamten Menschheit. Andererseits kann eine Zusammenkunft in der Politik sehr zielgerichtet sein. Ich glaube, dass ich mich als Künstlerin mit Leichtigkeit zwischen den Welten bewegen kann, da ich nicht an eine ganz bestimmte Thematik gebunden bin. Ich verbinde Erzählungen.
GV: Eines der Motive, das sich durch Ihr künstlerisches und politisches Schaffen hindurchzieht, ist das Auslöschen von Tabus um die weibliche Sexualität, sowie die Anerkennung der Kraft und Schönheit von Sexualität. Welche Überschneidungen ergeben sich zwischen Sexualität, sexuellen Rechten und anderen Arten von Aktivismus, wie beispielsweise den Rechten von Migranten und Umweltangelegenheiten?
FR: I’ve come to the realization that liberation begins with our bodies. We need complete control and autonomy over our bodies. The core of our independence is to have governance over our bodies. We are living in a time in which women’s bodies are being more and more discussed in politics, and abortion rights are being taken away, there is a real threat to our autonomy. Love and relationships are at the center of how we build our societies, and if we do not have a feminist view of how to build societies, with women and girl’s autonomy and freedom at the center, we cannot build a better world. Sex trafficking, for example, is one of the industries of most growth in the world. There is a belief that women’s bodies can be sold and objectified. If you look at Juarez, and other contexts of massive violence against women, the core is the exploitation of women’s bodies. This is why any transformation must put women’s sexual rights at the center.
In Latin America this is a priority. They are at the front line, they don’t call it reproductive rights, but sexual justice. This is not about reproduction but about sexual and gender justice. There is a stereotype that Latin American women are repressed, and that is not true. They include sexual workers in their feminist activism, and that is really important.
GV: Womit identifizieren Sie sich? Fühlen Sie einen Drang, sich mit irgendetwas zu identifizieren?FR: Mir wurde klar, dass eine Befreiungsbewegung bei unseren eigenen Körpern beginnen muss. Wir müssen vollkommen frei über unsere Körper verfügen können. Unsere Unabhängigkeit liegt in der Herrschaft über unseren Körper begründet. Wir leben in einer Zeit, in der Frauenkörper immer öfter Gegenstand politischer Diskussionen sind und das Recht auf Abtreibung entzogen wird. Dies stellt eine ernsthafte Bedrohung für unsere Selbstbestimmung dar. Die Art, wie wir Gesellschaften aufbauen, fußt auf Liebe und zwischenmenschlichen Beziehungen. Wenn es keinen feministischen Blickwinkel auf den Aufbau einer Gesellschaft gibt, bei dem die Selbstbestimmung und Freiheit von Frauen und Mädchen im Mittelpunkt stehen, wird es uns unmöglich sein, eine bessere Welt zu erschaffen. Menschenhandel zu sexuellen Zwecken ist beispielsweise einer der Industriezweige, die weltweit den größten Zuwachs verzeichnen. Es herrscht die Ansicht vor, dass Frauenkörper verkauft und vergegenständlicht werden können. Wenn man an Juarez denkt oder andere Umstände, unter denen schwere Gewalt gegen Frauen verübt wird, geht es im Grunde immer um die Ausbeutung weiblicher Körper. Deswegen muss jede Transformation grundsätzlich die sexuellen Rechte der Frauen zum Gegenstand haben.
In Lateinamerika hat dieser Umstand Priorität. Sie kämpfen an vorderster Front, und nennen es nicht Fortpflanzungsrecht, sondern sexuelle Gerechtigkeit. Es geht hier nicht um Fortpflanzung, sondern um Gerechtigkeit in Bezug auf Sexualität und Geschlecht. Das vorherrschende Klischee, dass lateinamerikanische Frauen unterdrückt seien, entspricht nicht der Wahrheit. Sie beziehen sexuelle Arbeitskräfte in ihren feministischen Aktivismus mit ein, was große Bedeutung hat.
FR: I identify myself as an artist, first and foremost, before I say I am a woman. Because for me art is being a critical thinker. I think women’s and immigrant issues are issues of humanity, and even though I embrace that, I actually want to be seen as an artist. Gender can also be like a jail. I hate that when I do street art I have to be mindful of my surroundings, be careful, and I don’t like that some things are associated with my gender. Artists are risk takers and truth speakers. My calling in life is to create. And artists should be challenging the status quo.
FR: Ich sehe mich in erster Linie als Künstlerin, dann erst als Frau. Denn für mich bedeutet Kunst, kritisch zu denken. Ich halte die Belange von Frauen und Migranten für Belange der gesamten Menschheit und obwohl mir das sehr wichtig ist, will ich eigentlich als Künstlerin gesehen werden. Das eigene Geschlecht kann auch zum Gefängnis werden. Ich hasse es, dass ich, wenn ich Street Art erschaffen möchte, aufpassen muss, in welcher Gegend ich mich bewege und vorsichtig sein muss. Und mir gefallen viele der Assoziationen nicht, die zu meinem Geschlecht vorherrschen. Künstler gehen Risiken ein und sprechen die Wahrheit aus. Meine Berufung ist es, etwas zu erschaffen. Außerdem sollten Künstler den gegenwärtigen Stand der Dinge hinterfragen.
GV: Ich habe eine eindrucksvolle Online-Bewegung entdeckt, in der Einwanderer in den Vereinigten Staaten Kunst schaffen, insbesondere durch Grafikekunst. Existiert in den Vereinigten Staaten eine dahingehende historische Tradition? Erkennen Sie einen momentanen “Boom” der politischen Kunst von Migranten in den Vereingten Staaten?
FR: Yes, absolutely, and believe it or not one of the most powerful printmaking tradition comes from Puerto Rico, and also Mexico and Cuba. I think printmaking is so powerful because it allows for multiplicity. In the 60s and 70s it was art in the service of liberation and education. The “Taller de Gráfica Popular” in Mexico was all about the creation of the multiple, moving away of valuing one work of art, and instead thinking that art should be distributed and shared. I would call it the art of the multiple, and now it also lives in the online world.
FR: Ja, auf jeden Fall. Und erstaunlicherweise stammt eine der kraftvollsten Traditionen der Grafikkunst aus Puerto Rico sowie aus Mexiko und Kuba. Meiner Meinung nach entfaltet die Grafikkunst eine solche Kraft, weil sie Vielschichtigkeit zulässt. In den 60ern und 70ern wurde Kunst in den Dienst von Befreiung und Erziehung gestellt. Dem Zusammenschluss von Künstlern “Taller de Gráfica Popular” [Werkstatt der Volksgraphiker] in Mexiko ging es ganz besonders darum, Vielfalt zu erschaffen. Man wollte sich dabei davon lösen, ein einzelnes Kunstwerk zu würdigen und stattdessen davon ausgehen, dass Kunst dazu da ist, verbreitet und geteilt zu werden. Ich würde es die Kunst der Vielfalt nennen, die nun auch in der Welt des Internets lebt.
GV: Inwiefern hat das Internet zu ihrem Aktivismus und ihrer Kunst beigetragen?
FR: My evolution as an artist began because of the Internet. In those very first days, adobe photoshop 1.0 and Illustrators gave me a whole set of new tools to create. I realized that I could have my work on a page for the whole world to see. The Internet was an open space to have your content and connect with the world. Also the DIY [Do It Yourself] culture really helped. I was able to learn so much. It totally shaped how I do my work, I believe in technology as an important part of my work.
FR: Meine künstlerische Entwicklung wurde durch das Internet angestoßen. In diesen frühen Tagen boten mir Adobe Photoshop 1.0 und Illustrators völlig neue Werkzeuge, mit denen ich Kunst schaffen konnte. Mir wurde klar, dass ich meine Arbeiten auf einer Webseite der ganzen Welt zugänglich machen konnte. Das Internet bot einen offenen Raum, in dem man seinen eigenen Beitrag leisten und sich mit dem Rest der Welt in Verbindung setzen konnte. Zudem war mir die DIY [Do It Yourself – Mach es selbst] Kultur eine große Hilfe. Ich konnte ungeheuer viel dabei lernen. Sie hat auf jeden Fall meine Art zu arbeiten geformt. Ich halte die Technologie für einen wichtigen Teil meiner Arbeit.