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Dass Menschen verschwinden, ist nicht selten in Belutschistan, wo belutschische Nationalisten in einem bewaffneten Widerstand gegen den pakistanischen Staat kämpfen. Dennoch bleibt die Geschichte der Vermissten von Pakistans größter Provinz eine der Geschichten, über die weltweit am wenigsten berichtet wird.
Farzana Majeeds Bruder, Zakir Majeed, ist einer der Vermissten. Sie hat die letzten Jahre ihres Lebens dem gewidmet, die Geschichte ihres Bruders am Leben zu halten, Proteste zu organisieren und von seiner Notlage und die der anderen Vermissten zu erzählen.
Die Leichen hunderter Vermisster sind in den letzten paar Jahren in der ganzen Provinz aufgetaucht, alle wiesen Spuren von Folter auf, so die unabhängige Menschenrechtskommission von Pakistan. Familien wie die von Farzana machen dafür Staatsbeamte verantwortlich (dazu der Global Voices-Bericht auf Deutsch).
Der pakistanische Sicherheitsdienst weist die Vorwürfe von sich, daran beteiligt zu sein und sagt, er bekämpfte einen erbitterten Aufstand in der Provinz. Seit 2012 untersucht der höchste Gerichtshof Pakistans den Fall der Vermissten in Belutschistan, gibt Warnungen an die Regierung heraus, hat allerdings bislang wenig Fortschritte gemacht.
Farzana Majeed ist die Generalsektretärin der Menschenrechtsgruppe Internationale Stimmen für die belutschischen Vermissten. Im Frühjahr 2014 machten sie und ihre Kameraden sich auf einen 2.000 Kilometer langen Marsch, von der Provinzhauptstadt Quetta zur Landeshauptstadt Islamabad, um auf die Vermissten aufmerksam zu machen. Unter dem Namen “der belutschische lange Marsch” dauerte es vier Monate, um ans Ziel zu gelangen. Ghandi ist im Vergleich dazu nur 384 Kilometer auf seinem Salzmarsch unterwegs gewesen.
Im folgenden Interview diskutiert Farzana die derzeitige Situation in Belutschistan, die Entstehung der Idee zu dem Marsch und die Rolle, die belutschische Frauen im Kampf um die Unabhängigkeit spielen. Das Interview ist auch auf dem Blog “Collateral Damage” erschienen.
Wie fühlen Sie sich nachdem sie den Marsch beendet haben?
Farzana Majeed (FM): When we started the march, we thought that the awareness we would raise might force the intelligence agencies and the state to release our loved ones. But along the way, we received the news that the Supreme Court and the High Court had dismissed some of the cases pertaining to the missing persons. Even more traumatic was the discovery of mass graves in Balochistan as we were marching. Nonetheless, it was still a major achievement that we managed to raise some awareness in Pakistan and abroad about the barbarism of the Pakistani state in Balochistan.
Farzana Majeed (FM): Als wir mit dem Marsch anfingen, gingen wir davon aus, dass die Aufmerksamkeit, die wir schaffen würden, die Geheimdienste und den Staat dazu zwingen würde, unsere Liebsten freizulassen. Auf dem Weg erhielten wir dann aber die Nachricht, dass das Höchste Gericht und das Hohe Gericht einige der Fälle in Zusammenhang mit den Vermissten abgewiesen hatten. Traumatischer war noch, dass Massengräber in Belutschistan gefunden wurden, während wir unterwegs waren. Es war aber dennoch ein großer Erfolg, dass wir immerhin sowohl in Pakistan als auch im Ausland etwas Aufmerksamkeit auf die Barbarei des pakistanischen Staats in Belutschistan lenken konnten.
Können Sie uns etwas zu den Umständen erzählen, unter denen Ihr Bruder Zakir Majeed verschwunden ist?
FM: Zakir Majeed was the former chairman of the Baloch Student Organization-Azad [the largest ethnic Baloch student body in the country, banned by Pakistan in 2013 for being involved in “terrorism.”]. He had the courage to raise his voice against state brutalities, enforced disappearances and other human rights violations committed by Pakistan in Balochistan. He was also one of the members of the committee that pressed for the release of John Solecki, a UNHCR official in Balochistan [who was abducted in 2009 by a previously unknown Baloch Liberation United Front and released after two months]. Zakir also spoke out against the illegal arrests and killings of the Baloch leader Ghulam Mohammad Baloch and his comrades. He denounced the murder by the Pakistani Army of Baloch leader Akbar Khan Bugti.
Zakir was educating the Baloch youth about the Pakistani occupation of their homeland. He was particularly resentful against the testing of the Pakistani nuclear bomb in the Chaghi mountains of Balochistan. Due to his continuous demonstrations, seminars and speeches in schools and colleges all through Balochistan, the Pakistani state arrested him in June of 2008. His goal of uniting the Baloch youth on a single platform was perceived as a great threat. Zakir was the symbol of the national struggle, which is why the state is unwilling to release him from custody.
He is just one of thousands of political activists who have been illegally arrested by the Pakistani state for protesting against the occupation.
FM: Zakir Majeed war einer der ehemaligen Vorsitzenden der belutschischen Studentenorganisation Azad [die größte belutschische Studentenorganisation des Landes, 2013 von Pakistan verboten aufgrund der Beteiligung an “Terrorismus”]. Er bewies den Mut, seine Stimme gegen die Brutalitäten des Staats zu erheben und auf erzwungenes Verschwinden und andere Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen, die Pakistan in Belutschistan begeht. Er war außerdem ein Mitglied des Komitees, das sich für die Freilassung von John Solecki einsetzte, einem Mitarbeiter des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) in Belutschistan [der 2009 von der bis dahin unbekannten belutschischen Befreiungfront entführt und zwei Monate später freigelassen worden war]. Zakir sprach sich auch gegen illegale Festnahmen und die Tötungen des belutschischen Führers Ghulam Mohammad Baloch und seiner Kameraden aus. Er verurteilte die Ermordung des belutschischen Führers Akbar Khan Bugti durch die pakistanische Armee.
Zakir unterrichtete belutschische Jugendliche über die pakistanische Besatzung ihrer Heimat. Er war besonders verbittert über die pakistanischen Atombombentests in den Chaghi-Bergen von Belutschistan. Aufgrund seiner andauernden Demonstrationen, Seminare und Reden in Schulen und Hochschulen in ganz Belutschistan, nahm in der pakistanische Staat im Juni 2008 fest. Sein Ziel, die belutschische Jugend auf einer einzigen Plattform zusammenzubringen, wurde als große Bedrohung empfunden. Zakir war das Symbol eines nationalen Kampfs und daher weigert sich der Staat, ihn aus der Haft zu entlassen.
Er ist nur einer von tausenden politischen Aktivisten, die auf illegale Art und Weise vom pakistanischen Staat inhaftiert wurden, da sie gegen die Besatzung protestierten.
Können Sie uns davon erzählen, wie Sie Ihr eigenes politisches Bewusstsein entwickelt haben und wie es zu der Entscheidung kam, sich in der Öffentlichkeit zu Ihrem Bruder und den anderen Vermissten zu äußern?
FM: I belong to a politicized family. I grew up watching my mother and many other female activists in my father’s party. Before we began the movement to raise the issue of Baloch missing persons, I was a member of the BSO-Azad. During my studies, I started my political activities on BSO-Azad’s platform. I took part in demonstrations, press conferences, seminars and other activities so that I could educate myself.
It was also my brother’s expectation that I would raise my voice for our national rights. So it was equally because of my commitment to him and our combined struggle that made me launch the movement for the recovery of my kidnapped brother and the rest of the 20,000 missing Baloch persons.
FM: Ich gehöre zu einer politisierten Familie. Ich bin damit aufgewachsen, meine Mutter und andere Aktivistinnen in der Partei meines Vaters zu beobachten. Bevor wir mit der Bewegungen für die Vermissten von Belutschistan anfingen, war ich bereits ein Mitglied der Organisation belutschischer Studenten Azad (BSO-Azad). Während meines Studiums begann ich in der BSO-Azad aktiv zu sein. Ich nahm an Demonstrationen teil, an Pressekonferenzen, Seminaren und anderen Aktivitäten, so dass ich mich selbst fortbilden konnte.
Mein Bruder erwartete von mir, dass ich meine Stimme für unsere nationalen Rechte einsetzen werde. Es war also sowohl aufgrund meiner Hingabe zu ihm als auch aufgrund unseres gemeinsamen Kampfs, dass ich eine Bewegung startete, um meinen entführten Bruder wiederzubekommen und mit ihm die restlichen 20.000 vermissten Belutschen.
Wie gehen die Ehefrauen, Schwestern und Müttern der Vermissten mit der Situation um?
FM: Everybody is in trauma in Balochistan. The families of the missing persons are living in fear and psychological stress. Any given day could be the day they discover the mutilated bodies of their loved ones dumped alongside the highways or in mass graves. But the Baloch women are strong and they have shown great bravery in coming out protesting about the kidnappings and the state’s ‘Kill and Dump’ policy.
FM: Jeder in Belutschistan ist traumatisiert. Die Familien der Vermissten leben in Angst und unter psychischem Stress. Jeder Tag kann der Tag sein, an dem sie den zerstümmelten Körper ihrer Liebsten finden, an Autobahnen abgeladen oder in Massengräbern. Aber die belutschischen Frauen sind stark und haben großen Mut bewiesen, als sie gegen die Entführungen und den Staat mit seinem Vorgehen “töten und abladen” protestiert haben.
Inwiefern waren Frauen an dem Einsatz für die Vermissten beteiligt?
FM: Women, all across the Baloch society, are involved in different activities. Thousands of them are in universities and colleges, either as students or teachers. Many are political activists. As the Pakistani barbarism increased, the involvement of women in the political struggle also increased. Today, every Baloch woman is standing up to the Pakistani state.
FM: Frauen, aus allen Schichten der belutschischen Gesellschaft, sind an verschiedenen Aktivitäten beteiligt. Tausende von ihnen sind in Universitäten und Hochschulen, eingeschrieben als Studentinnen oder als Dozentinnen. Viele sind politische Aktivistinnen. Mit zunehmender Barbarei von Seiten der pakistanischen Regierung beteiligen sich Frauen stärker am politischen Kampf. Heute stellt sich jede belutschische Frau dem pakistanischen Staat gegenüber.
Belutschische Frauen nehmen nun aktiv an dem nationalen Kampf teil. Wie werten Sie diese bislang beispiellose Dimension des Kampfs der Menschen von Belutschistan?
FM: This is a natural outcome of the love that women have for their children. Baloch women are patriotic in the sense that no woman gives birth to a child and then sit idle as the state tortures and kills that child. Baloch women will never relent from their struggle.
FM: Das ist ein natürliches Resultat der Liebe, die Frauen für ihre Kinder empfinden. Belutschische Frauen sind patriotisch insofern, als dass keine Frau ein Kind zur Welt bringt, um dann untätig herumzusitzen, während der Staat dieses Kind foltert und tötet. Belutschische Frauen werden mit ihrem Kampf niemals nachgeben.
Wie reagieren die Menschen innerhalb der belutschischen Gesellschaft? Glauben Sie, viele andere Frauen werden Ihrem Beispiel folgen?
FM: In the beginning, I encountered problems because I was a young woman. But soon I won the solidarity of the Baloch society. Throughout the long march from Quetta to Islamabad, I witnessed the great response of the Baloch people. They welcomed and showered us with roses everywhere we went and made a stop.
Other women are following me. It is my confidence that they will continue to resist.
FM: Zu Beginn stand ich vor einigen Problemen, da ich eine junge Frau bin. Schnell habe ich aber die Solidarität der belutschischen Gesellschaft gewonnen. Während des langen Marsches von Quetta nach Islamabad, erfuhr ich eine starke Resonanz der belutschischen Gesellschaft. Sie hießen uns überall willkommen und ließen Rosen auf uns niederregnen, überall wohin wir kamen und hielten.
Andere Frauen folgen mir. Ich bin überzeugt davon, dass sie weiter Widerstand leisten werden.
Haben Sie Solidaritätsbekundungen von Frauen in Karatschi, Islamabad oder anderer Orte erhalten, wo Sie Ihr Lager aufgeschlagen haben?
FM: Karachi has an important Baloch population so we received a great response from the massive number of Baloch people that came out to support us. Many intellectuals and journalists also expressed their solidarity. There were some unforgettable moments in Karachi, especially with Sindhi nationalists. It was great to be reminded that Sindhi nationalists are with us. In Lahore and Islamabad, the National Awami Party and the National Student Federation supported us. Even in the Pastun areas of Balochistan there are groups who sympathize with us. We hope that they will all stay with us in the future.
FM: Karatschi hat einen wesentlichen Anteil an Belutschen in der Bevölkerung und daher erfuhren wir große Zustimmung von einer wesentlichen Anzahl von Belutschen, die kamen, um uns zu unterstützen. Viele Intellektuelle und Jornalisten haben uns außerdem ihre Solidarität versichert. Es gab viele unvergessliche Momente in Karatschi, insbesondere mit den Nationalisten der Sindhi. Es war großartig, daran erinnert zu werden, dass die Sindhi Nationalisten auf unserer Seite stehen. In Lahore und Islamabad unterstützen uns die nationale Awami-Partei und die nationale Studentenföderation. Selbst in den paschtunischen Gebieten von Belutschistan gibt es Gruppen, die mit uns sympathisieren. Wir hoffen, dass sie alle auch in Zukunft bei uns bleiben.
Die englischsprachige Presse von Pakistan berichtete über den Marsch, aber in internationalen Foren gab es wenig Widerhall. Wie kann Ihrer Meinung nach die Aufmerksamkeit der Welt gewonnen werden?
FM: We have approached many international forums. We did receive a sympathetic welcome from the UN officials in Islamabad at the end of our march. But the UN and the international community need to take more responsibility and make available to us the avenues through which the plight of Balochistan could be highlighted. It is my appeal to the UN to be more attentive. We need international attention.
FM: Wir haben es in viele internationale Foren geschafft. Wir wurden von Vertretern der Vereinten Nationen in Islamabad herzlich willkommen geheißen am Ende unserer Marsches. Aber die Vereinten Nationen und die internationale Gemeinschaft müssen mehr Verantwortung übernehmen und uns Zugänge ermöglichen, über die das Leid von Belutschistan ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt werden kann. Es ist mein Appell an die Vereinten Nationen, achtsamer zu sein. Wir brauchen internationale Aufmerksamkeit.