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Die Tücken des Mondes Putin

Kategorien: Ost- und Zentraleuropa, Russland, Ukraine, Bildung, Bürgermedien, Ideen, Kriege & Konflikte, Meinungsfreiheit, Politik, RuNet Echo
The Lunar Putin, a literal interpretation. Images mixed by author.

Der Mond Putin, eine wörtliche Interpretation. Fotomontage des Autors.

Alle Links in diesem Artikel führen, soweit nicht anders gekennzeichnet, zu russischsprachigen Webseiten.

Vor Jahren, als ich ein Examenskandidat an der UC Berkeley war, nahm ich an einer Diskussion am runden Tisch teil, die auf dem Campus veranstaltet wurde und sich mit dem Vermächtnis des Stalinismus befasste. Wie meistens in Berkely, war die Veranstaltung öffentlich. Nach einführenden Worten und einigen kurzen Anmerkungen wurde das Publikum aufgefordert, Fragen zu stellen. Ein seltsam aussehender Mann, der beim Aufstehen die losen Blätter seines Ringbuchs auf dem Boden verstreute, hatte es eilig, die erste Frage an die Anwesenden zu richten. Doch eigentlich war es weniger eine Frage als vielmehr eine Theorie. “Was ist”, begann der Mann, “wenn der ganze Terror und all die Hungersnot“ nicht das Werk des echten Stalin war, sondern das eines vorgeblichen Stalin? Eines teuflischen Stalin!” In den darauf folgenden Minuten gab sich der Moderator jede erdenkliche Mühe, weiterzumachen, aber die Diskussionsteilnehmer mussten sich trotzdem anhören, dass dieser Fremde an einen zweiten Stalin glaubte, der für die Schuld und die Verbrechen des Kommunismus verantwortlich zu machen sei.

Wahrscheinlich lacht man jetzt darüber. Denn in jedem Fall ist diese Theorie zweier Stalin in mancherlei Hinsicht nichts anderes als der bizarre Versuch einiger Kalifornier, einen der blutrünstigsten Tyrannen in der Geschichte der Menschheit zu verstehen. Aber dieser Bursche in Berkeley steht mit seiner Meinung nicht alleine da. Einer der prominentesten Hochschullehrer Russlands schließt sich einer ähnlichen Hypothese an, nämlich der Theorie der “Zwei Putin”.

Alexander Dugin [1] [de] ist Politologe an der staatlichen Moskauer Universität (MGU) und ein konservativer Ideologe. Er befürwortet die Gründung eines eurasianischen Reiches [2] [de], um dem Einfluss der Vereinigten Staaten zu begegnen. Folgerichtig unterstützt er lautstark die gegen die Regierung in Kiew kämpfenden Rebellen in der Ostukraine.

In der vergangenen Woche gab Dugin bekannt, dass die MGU ihn wegen seiner politischen Positionen zur Krise in der Ukraine aus seinem Fachbereich Soziologie hinausgeworfen hat. Tatsächlich hatte Dugin im Mai, nach einem verheerenden Brand mit zahlreichen Toten in Odessa, in einem Interview gesagt: “Töte. Töte. Töte. Mehr sollte nicht gesagt werden [über das, was in der Ukraine zu tun ist]. Das ist meine Sicht als Professor.” Mit diesen Bemerkungen hat er viele Menschen gegen sich aufgebracht, einschließlich der mehr als 11.000 Menschen, die eine Change.org-Petition [3] zur Absetzung von Dugin unterzeichnet haben.

Seltsamerweise hat die staatliche Moskauer Universität die Entlassung von Dugin dementiert [4]. Nach wie vor wird sein Name auf der Webseite [5] der Fakultät für Soziologie geführt. Dugin besteht jedoch darauf, seinen Job tatsächlich verloren zu haben. Und heute morgen sagte er, dass er wüsste, wer daran schuld sei: Der Mond Putin.

[6]

Alexander Dugin auf Democratic-republicans.us.

Anders als der “Böse Stalin” ist Putin nicht im wörtlichen Sinne als Verräter zu bezeichnen, aber er ist die Schattenseite des Präsidenten, also der Gegensatz zur guten “Sonne Putin”. Dugin glaubt, dass die Mond-Version für Putins vereinzelte Fehler verantwortlich ist, wenn es darum geht, das Land auf den richtigen Weg zu bringen. In seinem 2012 erschienenen Buch “Putin gegen Putin [7]” erforscht Dugin diese beiden Seiten ausführlich, bevor er einige Begriffe seiner “Mond-/Sonne-Terminologie einzuführen beginnt.

Он стал преемником по сговору ельцинских элит и благодаря эффективной информационной кампании. Теоретически он мог править, проводя совсем иную линию—никто не мог бы его одернуть за рукав в силу авторитарного характера российской политики. Его предшественники Горбачев и Ельцин спокойно разрушали Россию кирпич за кирпичом, и им все сошло с рук. Один спокойно умер в своей постели, другой до сих пор рекламирует пиццу и Vuitton.

Путин нам вначале был навязан, но стал по-настоящему популярным и народным, так как принялся делать то, что должен был делать болеющий за свой народ и свою страну совестливый и волевой русский человек. Итак, исходя из логики шести подвигов, Путин правил правильно, и мы его за дело поддерживали.

[Putin] wurde der Nachfolger [im Kreml], nämlich durch eine Verschwörung der Jelzin-Elite und dank einer wirksamen Informationskampagne. Theoretisch betrachtet hätte er vollkommen anders regiert haben können. Niemand hätte ihn von seinem Weg abbringen können, dank der autoritären Politik Russlands. Seine Vorgänger, Gorbatschow und Jelzin, hatten Russland still und leise Stein für Stein demontiert und sind damit durchgekommen. Der eine starb friedlich in seinem Bett, und er andere macht bis heute Werbung für Pizza und für Louis Vuitton.

Zuerst wurde uns Putin aufgebürdet, aber er wurde wirklich populär als er entschied etwas für sein Land zu tun, was ein pflichtbewusster und willensstarker Russe tun sollte. Und deshalb, basierend auf der Logik von sechs großartigen Leistungen, regierte Putin mit gutem Recht und wir haben ihn dafür unterstützt.

Dugin zufolge erfüllen Putins Heldentaten die Wunschliste des Eurasianismus, eine Aufstellung dessen, was für ein neues Reich, das der westlichen Welt die Stirn bietet, nötig ist. In den entscheidenden Momenten hat Dugins Held jedoch gezögert oder ist zurückgerudert. 

На этом кончается идиллия, и начинается вторая графа баланса. Убытки и недостатки.

[…] Самым главным, впрочем, был седьмой подвиг. Он заключался в том, чтобы довести первые шесть подвигов до логического конца. Это значит: накрепко геополитически и идеологически привязать Кавказ к России; создать имперскую систему сочетания стратегического централизма с демократическим самоуправлением на низовом уровне; проводить во внешней политики независимый и результативный курс; разработать национальную идеологию; завершить чистку олигархата и остановить коррупцию; приступить к созданию сверхнациональных политических образований на пространстве СНГ (союзное Российско-Белорусское государство, Таможенный союз, «Евразийский союз» и т.д.).

На этом седьмом подвиге Путин споткнулся […]. Довести шесть первых шагов до логического конца, до точки необратимости Путин не смог, не сумел или… не захотел?

Frieden und Harmonie enden hier und die zweite Abrechnung beginnt. [Putins] Nachteile und Unzulänglichkeiten:

[…] Die wichtigste, das muss gesagt werden, war [Putins] siebte Leistung. Zunächst sollen aber die ersten sechs Leistungen in ihre logische Reihenfolge gebracht werden: Er hat [1] den Kaukasus geopolitisch und ideologisch fest mit Russland verbunden, [2] ein Herrschaftssystem geschaffen, das strategischen Zentralismus mit demokratischer Selbstbestimmung auf einem niedrigen Niveau verbindet, [3] die Aussenpolitik auf einen unabhängigen und wirksamen Kurs gebracht, [4] eine nationale Ideologie entwickelt, [5] die Säuberung der Oligarchie vorangebracht, [6] die Korruption gestoppt und [7] die Bildung supranationaler politischer Einheiten innerhalb der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten [8] [de] begonnen, (Russisch-Weißrussische Union, Wirtschaftsgemeinschaft, Eurasische Union und so weiter).

Bei seiner siebten Leistung ist Putin ins Stolpern geraten […]. Putin war nicht dazu in der Lage, seine ersten sechs Schritte zu einem logischen Ende zu führen, über den Punkt ohne Wiederkehr hinaus. Er konnte es nicht tun… oder vielleicht wollte er es nicht?

Diese Zweifel an den Errungenschaften des Präsidenten haben in Dugins Gedanken eine wahre Blütenpracht entwickelt, die schließlich zu seiner aktuellen Idee des Mondes Putin geführt haben. Bei VKontakte, wo er mehr als 9.000 Follower [9] hat, verzettelt Dugin sich in seinem Drama der offensichtlichen Entlassung [aus den Diensten der Universität]. Am vergangenen Wochenende schrieb Dugin, er würde es auf eine Auseinandersetzung [10] mit dem Rektor der Universität, Viktor Sadownischij ankommen lassen. Er wolle herausfinden, welches Regierungsmitglied seinen Rauswurf vorgeschlagen habe. (Wahrscheinlich zu Recht glaubt Dugin, dass eine derartige Maßnahme unter den Spitzenbeamten einen Konsens erfordert hat.) In seinem Widerwillen, Putin die Schuld zu geben sagte Dugin, er habe “gesicherte Informationen” die seinen Feinden im Kreml die Verantwortung zuweist, nämlich einer Gruppe, die er “Sechste Kolonne [11]” nennt. 

Heute bestätigte [12] Dugin jedoch, dass Putin selbst den Befehl gab. “Das ist jetzt tatsächlich ein schlechtes Zeichen”, schrieb Dugin im Internet. “Es ist der Mond Putin, eine andere Erklärung gibt es nicht.”