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Ab wann ist Imperialismus eigentlich Imperialismus?

Kategorien: Ost- und Zentraleuropa, Subsahara-Afrika, Westeuropa, Frankreich, Mali, Russland, Ukraine, USA, Zentralafrikanische Republik, Bürgermedien

Alle Links in diesem Artikel führen, soweit nicht anders gekennzeichnet, zu französischsprachigen Webseiten.

Ob es im Kontext der Konflikte in der Ostukraine oder in der Zentralafrikanischen Republik (ZAR) ist: Beobachter sind schnell damit bei der Hand, das Verhalten der Konfliktparteien als Imperialismus zu brandmarken. 

Ein Beispiel: Führende europäische und US-amerikanische Politiker werfen Russland gegenüber der Krim und den östlichen Regionen der Ukraine Imperialismus vor. Im Osten der Ukraine besetzen Rebellen öffentliche Gebäude und strategisch wichtige Gebiete. Russland entgegnet, solange der Westen dem Rest der Welt seine eigene Betrachtungsweise aufzwinge, entspräche sein Verhalten einem kulturellen Imperialismus [1] [de].

In das gleiche Horn stoßen einige afrikanische Beobachter, die Frankreich Imperialismus vorhalten, weil das Land sich in die Konflikte in Mali und in der ZAR militärisch einmischt. 

Eine Supermacht beschuldigt die andere des Imperialismus, aber was heißt das konkret?

Die Bedeutung des Begriffs im Überblick

Heutzutage bezieht sich der Begriff Imperialismus zumeist auf kulturellen Imperialismus. Das bedeutet, ein Land zwingt seine Weltanschauung oder seine Lebensweise anderen Ländern auf. In diesem Sinne ist der Begriff heikel und sollte nicht leichtfertig verwendet werden. 

Auf der Webseite von Global Voices erscheint der englische Begriff “imperialism” zwischen 2008 und 2014 insgesamt 200 Mal. Auf jedem Kontinent ist das Thema mindestens einmal genannt worden.

Bei Google Trends liefern die Suchstatistiken für “imperialism” weltweit folgende Resultate [der höchste Wert ist der Basiswert = 100]:

Les pays cherchant le mot impérialisme le plus souvent [2]

Länder, in denen am häufigsten nach dem Begriff “imperialism” gesucht wurde, Quelle: Google Trends.

Und hier sind die häufigsten Wortassoziationen für “imperialism”:

tops des mots associés à l'imperialisme sur Google

Die häufigsten Wortassoziationen für “imperialism”, Quelle: Google Trends.

Es ist keine Überraschung, dass Google Trends für Frankreich zeigt, dass die dortigen Suchaktivitäten für “imperialism” mit Nachrichten aus Europa zusammenhängen. Die beliebtesten Nachrichtenschlagzeilen [3] in den letzten Jahren waren:

Eine weitere Erkenntnis ist, dass unter den französischsprachigen Städten die Einwohner von Dakar, Senegal, am meisten vom Thema Imperialismus fasziniert sind: 

Les villes ayant recherché le mot "impérialisme" le plus souvent - via Google Trends [7]

Städte, in denen am häufigsten nach dem Begriff “impérialisme” gesucht worden ist, Quelle: Google Trends

Imperialismus in den Regionen 

Durch Russlands Verhalten im Osten der Ukraine beschuldigen sich alle gegenseitig des Imperialismus. Der frühere Präsident Janukowitsch hatte sein Land verlassen und auf der Krim war das Referendum über den Anschluss an Russland erfolgreich. Danach ist in den europäischen Medien lang und breit über Russlands Einmischung in die Angelegenheiten der Ukraine diskutiert worden. 

Quentin Baker, einer der Gründer des europäischen Verbands für territoriale Zusammenarbeit in Nordeuropa, warnt davor, die regionale Situation einfach nur nach dem Muster “proeuropäische gegen prorussische Weltanschauung [8]” zu beurteilen:

La révolution actuelle n’a pas été initiée par des questions de politiques étrangères mais bien par des motifs internes. Il s’agit d’une opposition entre un large spectre de la société et un gouvernement kleptocratique, corrompu et abusif. Ce n’est pas l’est contre l’ouest et Monsieur Ianoukovitch n’est pas coupable d’amitié avec le Kremlin mais bien d’abus de pouvoir.

Das gegenwärtige Feuer der Revolution ist nicht durch außenpolitischen Themen entzündet worden, es hat vielmehr innenpolitische Ursachen. Es geht um eine Konfrontation der Bürgergesellschaft mit einer plutokratischen Regierung, korrupt und rücksichtslos. Nicht Ost gegen West und Herr Janukowitsch hat nicht bloß Schuld auf sich geladen, weil er zum Kreml freundlich ist, sondern in erster Linie und vor allem wegen Machtmissbrauchs.

Beobachter aus anderen Teilen der Welt verurteilen diese Heuchelei [9], wonach Russland Imperialismus vorgehalten wird, während man anderswo den Imperialismus des Westens geflissentlich übersieht. Man täusche sich nicht: Russlands Verhalten hat den Beigeschmack des Imperialismus, aber der Wunsch der Krim nach einer engeren Beziehung zu Russland ist unbestreitbar und darf keinesfalls ignoriert werden. 

In der Zentralafrikanischen Republik ist die Intervention durch französische Streitkräfte von vielen Menschen herbeigesehnt worden. Die allgegenwärtige Gewalt ging zurück, aber die Intervention hat sich in einer schwierigen Lage festgefahren. An der Fortsetzung des Konflikts ist niemand völlig schuldlos.  

Jean Batou aus Bangui [Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik] erklärt in seinem Blog Contretemps, warum die französische Einmischung Risiken birgt: Entweder dümpelt diese Mission vor sich hin [10] oder sie schießt über ihre Ziele hinaus [11]

Rien ne serait plus trompeur que d’envisager l’impérialisme français en Afrique au seul prisme de ses « chasses gardées postcoloniales », même s’il est par ailleurs prématuré de pronostiquer l’extinction de la Françafrique. Les autorités hexagonales ont ainsi commandité pas moins de trois volumineux documents sur les perspectives stratégiques de la France en Afrique. Le plus récent des trois annonce clairement la couleur : « L’Etat français doit mettre au cœur de sa politique économique le soutien à la relation d’affaires du secteur privé et assumer pleinement l’existence de ses intérêts sur le continent africain »

Macht nicht den Fehler, den französischen Imperialismus in Afrika allein durch die Brille der “postkolonialen Beziehungen” [zu den alten Kolonien] zu betrachten. Andererseits wäre es auch verfrüht, zu sagen, das Zeitalter des [postkolonialen] Françafrique [12] [en] sei vorbei. Französische Behörden haben nicht weniger als drei detaillierte Berichte in Auftrag gegeben, die sich mit der künftigen Strategie Frankreichs in Afrika befassen. Die jüngste dieser drei Untersuchungen führt aus: “In der Wirtschaftspolitik muss die französische Regierung mit Enthusiasmus die Geschäftsbeziehungen der Privatwirtschaft in Afrika unterstützen und endlich akzeptieren, dass es auf dem afrikanischen Kontinent entsprechende Interessen gibt.”

Schon die Militärintervention in Mali hatte bei Beobachtern viele Fragen aufgeworfen. Beispielsweise die von Mireille Fanon-Mendes-France [13] [fr], UN-Expertin und Vorsitzende der Frantz Fanon [14] [de] Stiftung [15]:

Il s’agit de profiter de la déliquescence d’Etats sous domination continue depuis les indépendances pour réintroduire directement une présence militaire camouflée derrière des armées locales dont nul n’ignore l’insigne faiblesse. Dans ce jeu géostratégique, le Mali devient otage d'une volonté des Etats impérialistes et de leurs soutiens.

Ich habe den Eindruck, dass sich Frankreich aus dem Scheitern von Staaten, die seit ihrer politischen Unabhängigkeit ständig einer Übermacht ausgesetzt waren, Vorteile verschafft. Frankreich kann seine Streitkräfte hinter den Linien der lokalen Armeen, die in geradezu grotesker Weise ohnmächtig sind, wieder in Stellung bringen. In diesem weltpolitischen Spiel ist Mali zu einer Geisel der Willkür imperialistischer Staaten und ihrer scheinbaren Hilfe geworden. 

Der malische Autor Malian Aminata Traoré stimmt mit dieser Analyse überein [16] und ergänzt:

Aujourd’hui la militarisation pour le contrôle des ressources de l’Afrique fait parti de l’agenda. Ce qui se passe aujourd’hui au Mali est l’illustration d’une nouvelle étape de la politique de mainmise sur les ressources du continent, notamment les ressources énergétiques, sans lesquelles la sortie de crise, la croissance et la compétitivité ne sont pas envisageables par l’Occident.

Bestimmte Regionen zu militarisieren, um in Afrika Rohstoffvorkommen zu kontrollieren, gehört heute zur Tagesordnung [der Weltmächte]. Was heute in Mali passiert, illustriert eine neue Stufe politischer Kontrolle über die Rohstoffe des Kontinents, einschließlich seiner Energiereserven. Ohne diese Ressourcen ist die wirtschaftliche Erholung, das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit des Westens Wunschdenken.

Bei den ganzen Analysen des Imperialismus scheint man eine wichtige Triebfeder der Ereignisse zu vergessen: Sowohl auf der Krim, als auch in der ZAR und auf Mali hat ein nicht zu vernachlässigender Teil der Bevölkerung unmittelbar von ausländischen Militärinterventionen in diesen Regionen profitiert. Die allseits bekannte Redewendung von Gerald Seymour erklärt im Grunde alles: “Des einen Terrorist ist des anderen Freiheitskämpfer”.

In der heutigen Weltpolitik gilt möglicherweise Version 2.0 dieser Redewendung: Des einen Imperialist könnte sehr gut des anderen Freiheitskämpfer sein.