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Pakistanische Spione, Mir und die Vermissten von Belutschistan

Kategorien: Südasien, Pakistan, Bürgermedien, Kriege & Konflikte, Medien & Journalismus, Meinungsfreiheit, Menschenrechte, The Bridge
Photo of a son of "missing person" from the Long March as it was leaving Quetta in October 2013.  Tweeted by Journalism student and human rights activist @FaizMBaluch [1]

In der Stadt Quetta: Ein Junge trägt ein Bild seines Vaters Jalil Reki, einer der Vermissten aus Belutschistan, zu Beginn eines Protestmarsches, der fünf Monate durch ganz Pakistan führte. Über Twitter von dem Journalistikstudenten und Aktivisten @FaizMBaluch.

Alle Links in diesem Artikel führen, soweit nicht anders gekennzeichnet, zu englischsprachigen Webseiten.

Ein Mann wurde mit sechs Schüssen getroffen. Die Kugeln durchschlugen seine Rippen, bohrten sich in seinen Magen, seine Oberschenkel und seine Hand.

Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass Hamid Mir, Pakistans prominentester Fernsehreporter, vom geheimdienstlichen Flügel des pakistanischen Militärs oder des militärischen Nachrichtendiensts der pakistanischen Streitkräfte [Inter-Service Intelligence [2] [de], kurz ISI] angeschossen wurde oder von Stellvertretern, die in ihrem Auftrag gehandelt haben.

Auch der Arbeitgeber, bei dem Mir die letzten zwölf Jahre beschäftigt war, kann das nicht: Pakistans führender Nachrichtenkanal Geo. Trotzdem übertragen sie Mirs Bruder Amir Mir, der emotional harte und scharf formulierte [3] Anschuldigungen gegen das Militär und die ISI [4] erhebt. Die Tageszeitung “New York Times” bringt die Geschichte mit der Überschrift “Kritiker des pakistanischen Militärs bei Angriffen in Karatschi verletzt [5]“.

Die vielen Menschen in Pakistan, die über das Internet [6] Mir diffamieren [7], ihn einen Spion Indiens oder Marionette nennen und über Twitter ihre bedingungslose Unterstützung [8] für die Streitkräfte und Spione ihres Landes bekunden, können ebenfalls nicht mit Sicherheit wissen, wer auf Mir geschossen hat.

Es gibt aber einen guten Grund [9], misstrauisch zu sein. Mir hat Drohungen erhalten von Personen, die er als die ISI innerhalb der ISI [10] bezeichnete. In den vergangen Wochen hatte er sich lautstark zu einem Thema seiner beliebten Nachrichtensendung geäußert, von dem weder das pakistanische Militär noch die ISI möchte, dass es diskutiert wird: Die hässliche Rolle, die sie im Krieg in Belutschistan spielen.

Laut der Menschenrechtskommission Pakistans [Human Rights Commision of Pakistan [11]] tauchen seit 2010 hunderte Leichen der in Belutschistan [12] [de] “vermissten Personen” auf. Und die Leichen zeigen Folterspuren. Allein im Jahr 2013 wurden 116 Leichen in der ganzen Provinz gefunden, von denen 87 durch ihre Familien identifziert [13] werden konnten, die nun die Sicherheitsbehörden beschuldigen, ihre Angehörigen entführt zu haben.

Gegen die Kontextualisierung ankämpfen

Die internationalen Medien erklären den Angriff auf Mir vor dem Hintergrund [14] einer umfassenderen Geschichte zu pakistanischen Journalisten, die einem Risiko ausgesetzt sind [15] und dem großen, bösen pakistanischen Militär [15] auf der anderen Seite. Diese Perspektive deckt den Konflikt auf, den es zwischen der Fernsehstation Geo, für die Mir gearbeitet hat, und dem Großteil der Medien des Landes, der Nationalisten und dem Militär [16] gegeben hat.

Ich habe den Eindruck, dass dieser Rahmen, der dadurch vorgegeben ist, dass Medien immer versuchen, anderen eine Naselänge voraus zu sein [16], die wahre Geschichte überhaupt nicht berührt und damit auch ein mögliches Motiv für den Angriff nicht berücksichtigt: Die vermissten Menschen von Belutschistan.

Mir wusste, welches Risiko [17] es mit sich bringt, sich öffentlich über Belutschistan zu äußern. Die Medien in Pakistan meiden dieses Thema seit Jahren. Und das hat auch Mir getan.

Das Schweigen der pakistanischen Medien [18] zu Belutschistan rührt zum einen daher, dass sich Medien selbst zensieren aus Angst vor dem Militär, zum anderen geht es aus einer nationalistischen Einstellung hervor, in der Schweigen als patriotisch gilt. Teilweise kommt es aber auch daher, dass nur wenige wirklich verstehen [18], was in der südwestlichen Provinz tatsächlich vor sich geht.

Der diffuse Krieg von Belutschistan

Die nationalen Medienorganisationen Pakistans, wie Geo, für die Mir tätig war, stationieren nur wenige Mitarbeiter in Belutschistan. Es ist die größte und ressourcenreichste Provinz des Landes und zugleich die am wenigsten besiedelte und die ärmste. Aufstände [19] brodeln hier seit Jahrzehnten auf und kühlen wieder ab. Die Regierung begrenzt den Zugang für internationale Journalisten. Daher ist es kompliziert und auch gefährlich, über Belutschistan zu berichten und so erklärt sich auch, dass es nur sehr wenig Berichterstattung über die Provinz gibt.

Und wann wurde dieser Aufstand zum Krieg? Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber einige schlaue Menschen [20] gehen davon aus, dass das geschah, als der pakistanische Staat 2006 die prominenteste Figur des Aufstands bombardierte und tötete, den 79-jährigen Nawab Akbar Bugti.

Fakten zum Krieg in Belutschistan sind schwer zu verifizieren [21]. Bewaffnete belutschische Nationalisten kämpfen für die Unabhängigkeit von Pakistan und die bewaffneten Geheimdiensteinheiten Pakistans versuchen, sie klein zu halten, manchmal durch Mittel, die nicht rechtskonform sind. Die Regierung beharrt darauf, die Separatisten würden von “Kräften von außerhalb [22]” finanziert werden und meinen damit Indien.

Gruppen verschiedener Konfessionen und islamistische Milizen rekrutieren ihre Anhänger aus dem Gebiet und trainieren hier für die Kriegsführung im Iran, im an Belutschistan angrenzenden Afghanistan und für Kämpfe in Pakistan selbst.

Gelegentlich verbünden sich [23] diese Gruppen für Geld und Ressourcen. Das führt alles dazu, dass die Menschen, die in Belutschistan leben, sich selbst vor unterschiedlichen, gefährlichen Ideologie schützen müssen.

Einige der belutschischen Nationalisten versuchen, alle Nicht-Belutschen und das pakistanische Militär aus der Provinz zu vertreiben. Oft werden Militärkonvois bombardiert. [24] Menschen aus dem Punjab [25] [de], die in Belutschistan schon seit Jahrzehnten leben, werden zu unerwünschten “Siedlern [26]“. Hunderte wurden getötet und Tausende gezwungen, vor der Gewalt zu fliehen.

Organisierte sektiererische Militante ermorden auch die Hazara [27] [de], die dem schiitischen Islam angehören und möglicherweise am stärksten von diesem Krieg betroffen sind. Sie machen die größte Gruppe der Nicht-Belutschen in der Provinz aus. Seit 2009 wurden Tausende von ihnen getötet [28] in Übergriffen, die derart aufwändig sind, dass sie außerhalb des Rahmens der Möglichkeiten liegen, über die die belutschischen Aufständischen verfügen.

Das Element des Krieges, über das am wenigsten berichtet wird, ist, dass belutschische Männer von Geheimagenten aufgegriffen werden. Der angesehene Journalist Mohammed Hanif schildert detailliert die Notlage dieser Familien in einer Broschüre [29], die die Menschenrechtskommission Pakistans 2012 veröffentlichte. Auszüge daraus erschienen zwar in einigen wenigen englischsprachigen Tageszeitungen [30] in Pakistan, aber es erfolgte daraus keine weitere Diskussion.

Diese Familien hoffen [31], dass ihre vermissten Söhne und Ehemänner zurückkehren werden. Stattdessen werden viel zu oft die leblosen Körper ihrer Angehörigen fern von zuhause entsorgt. Jahre später tauchen anonyme Gräber [32] auf. Beweise dafür, dass sie verstorben sind, brignt zwar einen Schlusspunkt, bedeutet aber nicht Gerechtigkeit.

Mir, Spione und der Belutsche

Mir ist in jüngster Zeit in seiner Fernsehsendung zu einem lautstarken und hartnäckigen Vertreter der Vermissten und ihrer Familien geworden. Das hat ihn möglicherweise in tödliche Schwierigkeiten mit der ISI gebracht.

Vor fünfzehn Jahren hatte Mir enge Verbindungen mit der ISI und vertrauensvolle Beziehungen mit den Taliban. Seine Verbindungen zu beiden Gruppen ermöglichten es ihm, das letzte bekannte Interview [33] mit Osama bin Laden nach dem 11. September 2001 einzufädeln. Diese Beziehungen schlugen nachweislich um und verschlechterten sich. 2010 beschuldigte er seine ehemaligen Freunde der ISI, ihm einen Mordaufruf anhängen [17] zu wollen. 2012 warf er den Taliban vor, es auf sein Leben abgesehen zu haben.

Hamid mIr interviewing Osama bin Laden after 9/11. From Wikimedia Commons CC-NC-2.0

Hamid Mir interviewte Osama bin Laden. Von Wikimedia Commons CC-NC-2.0

Warum äußerte sich Mir dieses Mal? Vielleicht war er gerührt von Mama Qadeer, einem 72-jährigen Mann, der die Familien der anderen vermissten Belutschen zusammengebracht hatte und einen fünf Monate andauernden und 2.000 Kilometer langen Protestmarsch von der belutschischen Hauptstadt Quetta durch den Rest Pakistans organisiert hatte.

BhELQMgIEAARLay [34]

Hamid Mir nahm an dem Langen Marsch am 22. Februar in der Stadt Jhelum teil. Das Foto wurde durch die International Voice for Baloch Missing Persons [Internationale Stimme der vermissten Belutschen] über den Twitter-Account @IVBMP verbreitet.

Qadeer plante diesen noch nie dagewesenen Protest im Versuch, Aufmerksamkeit für seine Sache zu gewinnen. Er behauptet, sein Sohn Jaleel sei getötet [35] worden, als er sich 2009 in Haft von Geheimagenten befand. Sein Vater, der sich für ihn stark macht, versucht anderen zu helfen, deren Söhne verschwunden sind, um damit endlich abschließen zu können oder Gerechtigkeit zu erfahren.

Am 25. Februar forderte Mir in einer führenden, englischsprachigen Tageszeitung die Regierung dazu auf, dabei zu helfen, die Vermissten von Belutschistan zu finden. Die Geschichte mit der Überschrift “72-jähriger Belutsche Mama Qadeer bricht nach 84 Jahren Gandhis Rekord [36]“, konzentriert sich vor allem auf die Länge und die Dauer des Protestmarsches, in der Hoffnung, dieser Vergleich würde die Aufmerksamkeit für das Thema wecken, das in den Medien systematisch heruntergespielt wird.

Vielleicht spürt Mir eine Nähe zu den Menschen aus Belutschistan, da sie wie er von allen Seiten zugleich bedroht werden. Wie die meisten pakistanischen Journalisten, die über den nicht ganz so geheimen Krieg zwischen den Taliban und dem Militär im Nordwesten Pakistans berichten, spürte Mir zunehmende Feindseligkeit und Bedrohung von Seiten seiner Quellen bei den Taliban und der ISI.

Spione und Einschüchterung

Pakistans Verteidigungsministerium hat die für Rundfunk zuständige Regulierungsbehörde gebeten, dem Kanal Geo seine Sendeerlaubnis zu entziehen [4]. Während ich das hier schreibe, hat Geo sich bereits freiwillig eingeschränkt und ist bei Kabelanbietern in den meisten Gegenden, die unter der Kontrolle oder dem Einfluss des Militärs stehen, “weniger erreichbar”. Da das pakistanische Militär die größten Bauträgerunternehmen des Landes besitzt oder führt, läuft Geo jetzt Gefahr, in ganz Pakistan weitgehend zensiert zu werden.

"Pakistan Love ISI" posters with a picture of the spy agencies chief line Constitution Avenue in Islamabad. Photo tweeted by former ambassador Husain Haqqani @husainhaqqani [37]

Poster “Pakistan liebt ISI” mit dem Portrait des Leiters der ISI auf der Constitution Avenue in Islamabad. Foto wurde vom ehemaligen Botschafter Husain Haqqani über @husainhaqqani getwittert.

Die ISI ist zunehmend aggressiv und nachlässig im Umgang mit Journalisten, deren Berichterstattung ihre Reputation angreift. 2011 wurde eine Woche nachdem er eine aufsehenerregende Geschichte über die Verbindungen zwischen islamistischen Militanten und den Streitkräften geschrieben hatte, der Journalist Saleem Shahzad tot [38] aufgefunden. Seine Leiche wies Spuren von Folter auf. Vor seinem Verschwinden hatte er Drohungen der ISI [39] erhalten.

Dass Mir sich offen für eine Unterstützung der Rechte von Individuen geäußert hat, die bedroht werden durch den Staat, islamistischen Militanten und anderen, die zu Gewalt greifen, um ihre politischen Ziele in Pakistan durchzusetzen, hat ihm fast sein Leben gekostet.

Es hat ihn damit aber auch eindeutig auf die Seite derer verschlagen, die gegen diese Kräfte opponieren. Wir wissen vielleicht nicht, wer Hamid Mir angeschossen hat, aber wir wissen, dass die Liste der Menschen, die bereit sind, zur Waffe zu greifen, um zu bekommen, was sie wollen, in Pakistan lang ist. Mir hat großes Glück gehabt, dass er mit dem Leben davon gekommen ist. Aber der Kampf um die Rechte der Vermissten von Belutschistan hat gerade erst begonnen.

Sahar Habib Ghazi ist Journalistin und lebt zwischen Pakistan und den USA. Sie hat für den Sender Geo TV von 2005 bis 2006 gearbeitet und ist zur Zeit Mitherausgeberin von Global Voices. Sie ist auf Twitter unter @saharhghazi [40].