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Rewire: Gedanken zu Serendipität und Weltbürgertum im französischen Web

Kategorien: Nordamerika, Westeuropa, Deutschland, Frankreich, USA, Aktuelle Meldungen, Bildung, Bürgermedien, Internationale Beziehungen, Internetaktivismus, Kunst und Kultur, Medien & Journalismus, Technologie

In seinem Buch Rewire: Digital Cosmopolitans in the Age of Connection [1] [fr] geht Ethan Zuckerman, Mitbegründer von Global Voices, der Frage nach, warum die durch Technologie erleichterte Kommunikation Menschen nicht zwangsläufig enger miteinander in Verbindung bringt. Zuckermans Buch Rewire (etwa “Neu verkabeln”) betont vor allem, wie wichtig die Arbeit von Übersetzern ist, damit Ereignisse aus der ganzen Welt richtig verstanden werden.

Rewire: Le cosmpolitisme à l'ère du numérique par Ethan Zuckerman [2]

Rewire: Weltbürgertum im digitalen Zeitalter von Ethan Zuckerman

In “Rewire” wird Folgendes dargestellt: Obwohl dank der gewaltigen Fortschritte auf dem Gebiet der Informationstechnologien die ganze Welt nur noch einen Klick entfernt ist, beschränkt sich unsere Nutzung des Internets auf die Bereiche, mit denen wir am vertrautesten sind. Um diesen Zustand der selbstgewählten Absonderung zu überwinden, schlägt Zuckerman einige Wege zu einer Neuverkabelung des Web vor. Ein Vorschlag lautet, die Entdeckung von neuen, interessanten Bereichen zu erleichtern, indem man den von ihm so bezeichneten “bridges figures” (Brückenpersonen) oder “curators” (Führern durch das Web) folgt.

Serendipität

Der Begriff Serendipität [3] ist nicht leicht zu erfassen. Er bezeichnet einen Vorgang, der durch eine Reihe von glücklichen Zufällen zu einem Ergebnis führt. Zahlreiche wichtige Entdeckungen in der Wissenschaft [4] [fr] sind einem solchen Vorgang zu verdanken, z.B. das Penizillin, das Post-it, der Stein von Rosette oder der Klettverschluss.

La pierre de Rosette au British Museum découverte par hasard par   par un soldat français lors de la campagne d'Égypte de Napoléon Bonaparte - Wikipédia CC-BY-NC [5]

Der Stein von Rosette im British Museum. Er wurde während des Ägyptenfeldzugs von Napoleon Bonaparte zufällig von einem französischen Soldaten entdeckt. Wikipedia CC-BY-NC

Hubert Guillaud, Chefredakteur von internetactu.net schreibt in einem Kommentar zum Artikel : “Wie lassen sich Dinge schnell herausfinden? [6]” [fr] von Christian Faure:

J’aime aller dans les librairies que je ne connais pas et quand elles me perdent, c’est-à-dire quand je ne reconnais rien de ce que je connais dans leur rayon, alors je me dis qu’elle semble intéressante. Je vais souvent au rayon des essais et mon plus grand plaisir est d’y découvrir ce que je ne connais pas et plus il y en a, qui semble de qualité, et plus ça m’intéresse en fait ou plus je considère la librairie. Ca ne signifie pas qu’en faisant ainsi on ne procède pas pour autant par induction, effectivement. Nous avons tous une tendance forte à l’induction, mais peut-être plus parce que nous avons toujours un avis singulier (par essence), une première impression, qu’une expérience multiple. J’ai même tendance à penser que concevant le monde ainsi, nous avons forcément tendance à construire des outils dans lesquels nous nous reflétons ou qui voient le monde tel qu’on le voit. Nos outils d’agrégation, nos outils de personnalisation ont tendance à voir le monde par la lorgnette où on le regarde

Ich liebe es, in Buchhandlungen zu gehen, die ich nicht kenne und wenn ich mich darin verirre, d.h. wenn ich in den Regalen nichts finde, das ich kenne, finde ich sie interessant. Ich gehe gern in die Sachbuchabteilung und genieße es, dort etwas zu finden, das ich nicht kenne, und je mehr mir unbekannte Werke von hoher Qualität es gibt, desto interessierter bin ich und desto höher werde ich die Buchhandlung schätzen. Dies bedeutet aber nicht, dass man auf diese Weise nicht auch induktiv vorgeht. Wir alle neigen stark zu einem induktiven Vorgehen, vielleicht deshalb, weil wir stets eher eine Einzelmeinung (durch die Substanz), einen ersten Eindruck haben als dass wir auf die Erfahrung vieler zurückgreifen können. Ich neige sogar zu der Annahme, dass wir, weil wir die Welt so wahrnehmen, eine Vorliebe dafür haben, uns Werkzeuge zu bauen, die uns ähnlich sind und die Welt so sehen wie wir. Unsere Tools, die Inhalte sammeln und personalisieren, sehen die Welt meist durch die gleiche winzige Linse wie wir.

 

Die Dozentin für Informations- und Kommunikationswissenschaften Sylvie Catellin erklärt, dass Serendipität bei allen Entdeckungen eine wichtige Rolle spielt und außerdem ein “Hilfsmittel zur Reflexion [7] [fr] ist, durch das man die Bedingungen für ihre Emergenz besser verstehen kann”:

L’intuition scientifique est définie comme une idée unifiante ou clarifiante, laquelle surgit dans la conscience en tant que solution d’un problème qui préoccupe intensément le chercheur. Elle survient de manière inattendue, de quelque étrange univers extérieur, lorsque l’on est absorbé par des problèmes urgents ou bien pendant le sommeil.  Parmi ces conditions, il faut notamment retenir le profond désir de savoir, le stock de connaissances en mémoire reliées au problème, le sentiment de liberté, l’aptitude à briser la routine, la discussion du problème avec d’autres chercheurs [..]  C’est peut-être justement lorsque les scientifiques réfléchissent à leur expérience de la créativité et de la sérendipité que les sciences dites « dures » sont les plus susceptibles d’entrer en dialogue avec les humanités, les arts, les sciences humaines et sociales, devenant plus réceptives à leurs discours et à leurs approches. La réflexivité (en supplément à la sérendipité) implique la liberté et l’émancipation par rapport aux dogmatismes épistémologiques.

Die wissenschaftliche Intuition wird als vereinheitlichende, klärende Idee definiert, die im Bewusstsein als Lösung für ein Problem auftaucht, das den Forscher stark beschäftigt. Sie kommt ganz plötzlich, aus einer seltsamen Außenwelt, während man sich mit dringenden Angelegenheiten beschäftigt oder schläft. Unter diesen Voraussetzungen müssen wir vor allem den starken Wunsch nach Erkenntnis, den Vorrat an gespeichertem Wissen zum Thema, das Gefühl von Freiheit, die Fähigkeit, der Routine zu entkommen und die Diskussion über das Problem mit anderen Forschern hervorheben […]. Der Moment, in dem Wissenschaftler über ihre Erfahrungen mit Kreativität und Serendipität nachdenken, ist vielleicht am besten geeignet, damit die sogenannten “harten Wissenschaften” mit den Geistes- und Sozialwissenschaften, mit den Künsten in Kontakt treten und empfänglicher für ihre Denkweisen und Ansätze werden. Die Fähigkeit zum Nachdenken impliziert (gemeinsam mit der Serendipität) Freiheit und Emanzipation von epistemologischen Dogmen.

Weltbürgertum

Der Begriff Weltbürgertum [8] (cosmopolitisme) wird im französischsprachigen Internet unterschiedlich verstanden. Im weitesten Sinne bezeichnet er ein Interesse an fremden Ländern und Völkern. Nicht Teil dieser Definition ist die Tatsache, dass der Begriff die Zugehörigkeit zu einer Herkunftsgemeinschaft und die Identifikation mit ihr nicht ausschließt. Menschen, die sich als Weltbürger fühlen, wünschen sich meist EINE Welt, die auf Zusammenarbeit und nicht mehr auf Konkurrenz basiert, was andere oft als utopisch bezeichnen.

Diesen ideologischen Ansatz verfolgt Zuckerman nicht. Er betont vielmehr die Notwendigkeit, sich unsere Art des Umgangs mit Medien bewusst zu machen und sich nach und nach für andere Sichtweisen zu öffnen.

Rodrige Coutouly, Mitarbeiter von “Les Échos”, bemerkt, dass es angesichts der zunehmenden Komplexität menschlicher Gesellschaften [9] [fr] möglicherweise ratsam wäre, sich so schnell wie möglich für die Vielfalt zu öffnen:

Il est devenu impossible de comprendre de l'extérieur, des organismes ou des sociétés humaines travaillés par des enjeux de plus en plus complexes et contradictoires, ayant accumulé des compétences et des modes d'actions foisonnants et d'une grande diversité.[..] La masse sans cesse renouvelée d'informations brutes finit en effet pour empêcher toute tentative cohérente d'analyse lucide des événements, elle renforce les stéréotypes et ne permet pas une compréhension distanciée, elle n'autorise aucune prise de hauteur, de prise de recul, dans le temps et dans l'espace.[..] (Il est primordial) de relier le particulier au général, le local au global.

Es ist unmöglich geworden, Organismen oder menschliche Gesellschaften, die vor immer komplexeren und widersprüchlicheren Herausforderungen stehen, die äußerst zahlreiche und unterschiedliche Kompetenzen und Vorgehensweisen angesammelt haben, von außen zu verstehen. […] Die Masse an immer neuen Rohinformationen vereitelt im Grunde jeden geordneten Versuch einer klaren Analyse der Ereignisse, sie leistet Stereotypen Vorschub und verhindert ein Verstehen aus der Distanz heraus, es ist nicht möglich, räumlich und zeitlich Abstand zu nehmen. […] (Es ist von großer Bedeutung), das Besondere mit dem Allgemeinen, die lokale mit der globalen Ebene zu verbinden.

 

Der deutsche Soziologe Ulrich Beck [10], Autor der “Risikogesellschaft” und Verfechter einer kosmopolitischen Gesellschaft, spricht sich für ein neues Gesicht [11] [fr] des Weltbürgertums aus:

Le cosmopolitisme est la prise de conscience du destin commun qui lie désormais toutes les parties du monde dans le partage des mêmes risques. [..] Il ne s’agit donc pas là d’un cosmopolitisme qui vient d’en haut comme celui incarné par les Nations unies ou par la Cour internationale de justice. Cela ne veut pas dire non plus que tout le monde devient cosmopolite, amateur de diversité culturelle ou polyglotte, ou que nous sommes tous conscients de ce phénomène. Cela signifie simplement qu’il y a de fait une cosmopolitisation qui vient d’en bas et qui change notre vie quotidienne, notre mode de consommation, notre vie politique, ou nos relations à l’intérieur même de nos frontières nationales. On peut parler en ce sens d’un « cosmopolitisme banal ». [..] Le risque global peut être l’une des forces aptes à produire des institutions cosmopolitiques capables de surmonter les intérêts appréhendés seulement à l’échelle nationale. Car les gens et les États peuvent apprendre qu’il faut résoudre les problèmes nationaux dans une société cosmopolitique. Cette perspective cosmopolite est réaliste ; c’est le nationalisme qui dans ce contexte est idéaliste : il regarde en arrière et n’apporte pas de vraies réponses aux sociétés.

Weltbürgertum bedeutet, sich des gemeinsamen Schicksals bewusst zu werden, das heutzutage alle Teile der Welt verbindet, da sie dieselben Risiken teilen. […] Es handelt sich hier also nicht um ein Weltbürgertum, das von oben kommt, so wie es die Vereinten Nationen oder der Internationale Gerichtshof verkörpern. Es bedeutet auch nicht, dass alle Menschen zu Weltbürgern werden, die kulturelle Vielfalt lieben oder polyglott sind oder dass wir alle uns dieses Phänomens bewusst sind. Es bedeutet ganz einfach, dass eine Tendenz zum Weltbürgertum von unten kommt und unser tägliches Leben verändert, unsere Art zu konsumieren, unser politisches Leben, selbst unsere Verhältnisse innerhalb der Landesgrenzen. Man kann in diesem Zusammenhang von einem “banalen Weltbürgertum” sprechen. […] Das globale Risiko kann eine der Kräfte sein, die imstande sind, weltweite Institutionen zu schaffen, die rein nationale Interessen überwinden können. Die Menschen und Staaten können lernen, dass Probleme eines Landes in einer kosmopolitischen Gesellschaft gelöst werden müssen. Diese kosmopolitische Perspektive ist realistisch; idealistisch ist in diesem Zusammenhang der Nationalismus, da er rückwärtsgewandt ist und keine wirklichen Antworten für die Gesellschaften bereithält.