Am Mittwoch, den 13. März, schrieb die Journalistin Olena Danko einen kurzen Eintrag [uk] auf ihrer Facebook-Seite über eine Begegnung im Supermarkt mit einer alten Frau, die gerade genug Geld hatte, um eine einzelne Kartoffel zu kaufen. Eine traurige Geschichte, typisch für die Ukraine, die dennoch wenig Überraschendes hatte für jeden, der auch nur für kurze Zeit in dem Land gelebt hat. Danko konnte kaum davon ausgehen, dass ihre Geschichte größere Auswirkungen haben würde, sie wollte nur ihrem Schmerz und ihrem Frust über die derzeitige Lage in der Ukraine Luft machen. Doch für viele Netizens war diese Geschichte über extreme Armut so aussagekräftig, dass sie sich innerhalb weniger Stunden verbreitete wie ein Lauffeuer.
Zwei Tage später ergab sich diese sehr unvollständige Liste von Reposts:
- Dankos ursprünglicher Facebook-Eintrag [uk] wurde fast 4000 mal geteilt;
- Mykola Kokhaniwskis Screenshot von Dankos Eintrag wurde von über 2500 Facebook-Nutzern geteilt;
- Über 3600 mal wurde der Screenshot auf der Seite Kirche der Zeugen der Verbesserungen geteilt (Церковь Свидетелей Покращення; ru, uk; 17.420 ‘Likes’), eine Facebook-Gruppe, die ins Leben gerufen wurde, um die sogenannten Verbesserungen des derzeitigen Regimes lächerlich zu machen (der Ausdruck ist mittlerweile zu einem Running Gag im Internet geworden [ru]);
- The Brutal Men Club, eine VKontakte-Gruppe mit über 671.000 Followern, hat fast 8800 ‘Likes’ gesammelt für einen Post, in dem der Screenshot von Dankos Geschichte zu sehen war;
- Die VKontakte-Gruppe FC Karpaty Lviv Fans bekam 2400 ‘Likes’ für den Screenshot-Post;
- Ein Journalist der Ukrajinska Prawda, Serhii Leschenko (8000 Follower), hat auf der Facebook-Seite von Ministerpräsident Mykola Asarow (24.541 ‘Likes’) seinen Repost von Dankos Geschichte getaggt und dem Ministerpräsidenten empfohlen, sie in seiner Freizeit einmal zu lesen. 473 Nutzer teilten Leshchenkos Post und viele von ihnen posteten Dankos Geschichte erneut auf Asarows Seite;
- Ein anonymer Übersetzer, der sich sogar die Zeit genommen hat, den Kartoffelpreis von ukrainischen Hrywnja in russische Rubel umzurechnen, hat die Geschichte ins Russische übersetzt.
Hier ist die Geschichte, die sich in Browary [uk], einem Vorort der ukrainischen Hauptstadt Kiew zugetragen hat:
Ich war vorhin einkaufen. In der Gemüseabteilung vom Supermarkt wog eine alte Frau eine!!! Kartoffel ab! Die arme Verkäuferin war völlig erstarrt. Genau wie ich. Die alte Frau sagte, sie habe bereits für ihre Miete, die Nebenkosten und Medikamente bezahlt und müsse nun mit dem Rest auskommen. Heute könne sie sich nur eine Kartoffel und ein Viertel Schwarzbrot erlauben. Ich war entsetzt. Ich füllte schnell eine ganze Tüte mit Kartoffeln, kaufte sie und gab sie der alten Frau an der Kasse. Es war ihr peinlich, sie bedankte sich ausgiebig und weinte. Und auch ich schluchzte auf dem Weg nach Hause. Die Tüte Kartoffeln hatte nur 6 Hrywnjas (ca. 0,57 €) gekostet. Was für ein Land ist das, [verdammt nochmal], wo die Kronleuchter [im Anwesen des Präsidenten] Millionen kosten, wo die Uhren des Ministerpräsidenten mehrere Hunderttausend Dollar kosten und Milliarden durch [nicht stattfindende Straßenreparaturen] gewaschen werden und die alte Frau steht da und wiegt eine kleine Kartoffel ab?????? Wo sind eure [verdammten] Verbesserungen???? [Man sollte euch alle niederbrennen!!!]
Und hier sind einige Reaktionen von denen, die die Geschichte entweder geteilt oder nur kommentiert haben.
Natali Lewina schrieb [ru]:
Das Land ist eine Katastrophe…auf der einen Seite sind hungernde alte Menschen, vernachlässigte Kinder, die froh sein können, wenn sie nicht völlig verstoßen werden, Tiere, die auf schlimmste Art und Weise gequält oder einfach zum Sterben vor die Tür gesetzt werden, Eltern, die fast wahnsinnig werden, weil sie ihren kranken Kindern nicht helfen können, obwohl [sie vielleicht nur 1000 Dollar bräuchten]. Auf der anderen Seite gibt es Paläste, die Milliarden gekostet haben, Luxusautos, Yachten, Hubschrauber, teure Accessoires, Uhren, Taschen und Wochenenden – der Wert von jedem dieser Dinge könnte mehr als nur einem Kind das Leben retten.
Oleksandr Zorja schrieb [uk]:
Die Sache ist die: Es liegt nicht an dem Land, dass die Dinge so sind wie sie sind! Der Grund sind die Leute, die keinen Respekt vor sich selbst haben. Denn, wenn sie sich selbst respektieren würden, hätten wir schon im Sommer 2012 bei der [Fußball-Europameisterschaft] mit den Köpfen der Mitglieder der regierenden Partei der Regionen] gespielt und im Finale mit dem Kopf von Präsident Wiktor Janukowitsch und das ist noch freundlich!!!
Ira Alimowa schrieb [ru]:
Dem Präsidenten werden täglich Millionen in den Arsch geschoben und die alte Frau kauft eine Kartoffel pro Tag, weil sie kein Geld für mehr hat!!!!!! Von welchem Europa [ist hier überhaupt die Rede]!!!!!??????
Larisa Masikowa schrieb [uk]:
Hier ist eine Verbesserung…Im Ausland habe ich mehr als einmal gesehen wie deutsche Rentner spazierengehen, auf Sightseeing-Tour durch die Stadt laufen, Fotos von historischen Denkmälern machen. Sie haben das Geld dafür, sie haben Selbstbewusstsein und Würde. Und wie verbringen die alten Leute bei uns die letzten Jahre ihres Lebens, vor allem diejenigen, die allein sind???…
Lora Prikhodko schrieb [ru]:
- Wir leben jetzt besser, sagte die Regierung.
– Das freut uns für euch, antwortete das Volk.
Natalka Fedetschko schrieb [uk]:
Wie viel würde wohl die Uhr von [Ministerpräsident Mykola Asarow] kosten, [wenn man ihren Preis in Kartoffeln umrechnen würde?] […]
Sergej Gorbatschewski schrieb [ru]:
Meine Mutter [hat 50 Jahre als Lehrerin gearbeitet], ihre Rente beläuft sich auf 1100 Hrywnjas [im Monat – 135 $].
Alex Sirij fügte hinzu [uk]:
Genau…und die kommunistische [Abgeordnete Oksana Kaletnik] hat eine Armbanduhr, die 24.000 $ gekostet hat[ru].
Der User Yarema Dukh fand diese [uk] Reaktionen auf Dankos Geschichte nicht besonders beeindruckend:
[…] Leute, seid ihr jetzt gerade nicht in der Ukraine oder wie?
Seht ihr nicht selber jeden Tag arme Rentner auf dem Markt, im Laden oder bettelnd vor ihren Häusern?
Geht doch morgen einfach mal los und helft eurem Nachbarn oder irgendeiner alten Frau oder zieht wirklich los und “brennt alle Politiker nieder.”
Und dann schreibt darüber auf Facebook und sammelt Reposts.
Denn momentan haben wir ein ganzes Land voller Reposts, Reposts, Reposts. […]
Katja Mikhailowa, glaubt auch[ru], dass die Leute gemeinsam offline gehen und Bedürftigen helfen sollten:
Freunde und liebe Leute! Lasst uns diesen Samstag einen wohltätigen Flashmob machen! Jeder füllt eine Hilfstüte mit Essen und um Punkt 10 Uhr vormittags (oder um 11 oder mittags) geht jeder auf die Straße, gibt seine Tüte einer alten bedürftigen Person und wünscht ihr gute Gesundheit.
So eine Hilfstüte kostet vielleicht 40 Hrywnjas (5 $) und kann eine ältere Person für 10 Tage versorgen:
- Buchweizen
– [Milchprodukte]
– Kartoffeln
– KarottenVon allem 1 Kilo, von den Kartoffeln können es auch ruhig 2 Kilo sein – sie haben gerne viel davon.
Zusätzlich wäre es gut, einen Kürbis, Butter, Äpfel und ein Hühnchen in die Tüte zu tun.
Jeder! In jeder Stadt! In jeder Familie! Fangen wir an, den Bedürftigen ein bisschen zu helfen. […]
Wenn wir es schaffen […], 100 aufmerksame und gute Menschen in 10 Städten zu finden, würde das Leben von 1000 alten und einsamen Menschen für fast einen halben Monat leichter werden. Und dann müssen wir wieder Tüten und Freunde zusammenkriegen, um noch mehr armen Leuten zu helfen.
[…]
Bis Samstag…[in Läden], auf Märkten, […] und bei den alten Frauen, die immer etwas an den U-Bahn-Eingängen verkaufen.